2.

[227] Still in des Herzogs Hause

Ward's, mitten in Madrid,

Es hallt in seiner Klause

Nicht mehr des Henkers Tritt.


Vom Baume seines Lebens

Fiel Frucht und Blatt schon ab,

Hin ist der Mut des Strebens,

Zerknickt sein Feldherrnstab.


Der Leib ist morsch, die Schmerzen

Verzehrten seine Kraft;

In dem verwelkten Herzen

Dorrt selbst die Leidenschaft.


Sein Haupt liegt auf dem Kissen,

Er lechzt nicht mehr nach Blut,

Das nackende Gewissen

Ist all sein Hab' und Gut.


Drum klammert er sich zagend

An's kahle Leben an,

Mit Blicken ängstlich fragend,

Ob Niemand fristen kann.
[227]

Doch nichts erquickt den Armen,

Stumpf ist der Aerzte Witz;

Nur einen will's erbarmen,

Den mahnt es, wie ein Blitz.


»Den Tod ihm fern zu halten,

Ist eins mir noch bewußt:

Legt den erschöpften Alten

An eines Weibes Brust!«


Der Arzt sprach sorgsam, leise,

Der Diener es vernahm;

Bald stehet vor dem Greise

Ein säugend Weib voll Scham.


Die Mutteraugen lenken

Mitleidig sich auf ihn,

Den dürren Mund zu tränken,

Reicht sie die Brust ihm hin.


Mit innigem Vergnügen –

Er weiß nicht, was er thut –

Trinkt er in langen Zügen,

Doch ihm wird Milch zu Blut.


Bald graus't ihm vor dem Tranke,

Er kehrt sich weg entsetzt.

Auf blickt der Schwache, Kranke,

Und todblaß ruft er jetzt:


»O, ich will nicht mehr morden,

Ich hab's versprochen, Weib!

Ich bin dein Säugling worden.

Verschone meinen Leib!«


Die Aerzte stehn und staunen,

Der Wahnsinn bricht hervor,

Die alten Diener raunen

Erinnrung sich in's Ohr.


Es beut die Brust vergebens

Das junge Weib dem Greis,

Am warmen Quell des Lebens

Liegt er wie Stein und Eis.
[228]

Die Lippen regt er zitternd;

Im Auge das Gericht,

Verlischt, die Hölle witternd,

Sein bleiches Angesicht.

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 227-229.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon