Der Glockenklang

[279] Graf Azo, müd vom flücht'gen Wild,

Schlief kühl im Gras bethaut;

Ihm naht' ein Traum, doch ohne Bild,

In's Ohr weht ihm ein Laut:

Er hört' einen hallenden Glockenklang,

Er hört' einen herrlichen Kirchensang,

Kein Gotteshaus er schaut!


Er wiegte sanft sein Haupt im Schall,

Die Töne klangen aus,

Und endlich ward's ein leiser Hall,

Wie weicher Blätter Saus.

Und als verschwunden war der Traum,

Lauscht in des Waldes stillen Raum

Er sehnsuchtsvoll hinaus:


»O Klang, o Klang! wo find' ich dich?

Klang wie aus Gottes Mund!

Wann grüßest du aus Lüften mich

Aus hohem Domesrund![279]

O hätt' ich dich, du Wunderklang,

So wär' ich all' mein Leben lang

An Herz und Geist gesund!«


Und als er aufgestanden war,

Da hallt' es durch die Luft:

Wohl tönt' es laut, wohl tönt' es klar

Durch Bäum' und Felsenkluft:

Mit Sehnen eilet er nach vorn –

Doch ist es nur das Jägerhorn,

Das ihn zum Werke ruft.


Und als er tiefer in den Wald

Und in die Büsche drang,

Hoch über seinem Haupte hallt'

Ein leichter, leiser Klang.

Er streckte sich, er lauscht' empor,

Doch nur den Wind vernahm sein Ohr,

Der sich durch Wipfel schwang.


Und weiter in die Finsterniß

Lockt ihn der Wald hinein:

»Ihr Knappen, eurer Spur gewiß,

Verfolgt nur Hirsch und Schwein!

Ich jage, was kein Glück erspäht,

Ich jage, was kein Windspiel fäht!« –

Und wieder klingt's im Hain.


Ein weicher Schall, ein Wiegensang –

Ach, das ist wohl sein Traum?

Doch ist es nur der Wellendrang

Im See am steilen Saum.

Dort jubelt laut sein Knappenchor,

Ein Eber schießt getroffen vor,

Stürzt in des Wassers Schaum.


Die Diener drangen durch das Rohr

Zu haschen ihren Fund:

Da blinkt' es aus dem Schilf hervor

Aus heller Wasser Grund;[280]

Vorbei rauscht seiner Knechte Schar,

Dem Grafen winkte wunderbar

Ein hohles, lichtes Rund.


Es ist ein Erz, ein Glockenkranz –

O langen Suchens Lohn! –

Das Schilfrohr streift er von dem Glanz,

Da zittert halber Ton;

Da wird ihm ganz vor Wonne bang:

»Erjagt, erjagt hab' ich den Klang,

Er ist's, ich kenn' ihn schon!«


Drauf schlug er mit gehobnem Speer

An des Metalles Rand;

Wie klang es mächtig, hell und hehr,

Wie Klang von Gott gesandt.

Sie zogen bald aus Schilf und Moor

Den Schatz, und aus dem Wald hervor,

Und führten ihn an's Land.


Von Glockentönen hallt sein Ohr,

Graf Azo fliegt voraus.

Zu seinem Schloß zürnt er empor:

»Was stehest du noch, Haus?

Ihr Maurer, löset Stein um Stein!

Reißt mir die Menschenwohnung ein,

Baut Gottes Dom daraus!«


Bald saß im Dom und lauschte froh

Der Graf auf sein Geläut.

Er dacht': »Ein jeder finde so

Den Klang, der ihn erfreut.

Ich höre hallenden Glockenklang,

Ich höre herrlichen Kirchensang:

Im Himmel bin ich heut!«

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 279-281.
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