Zweite Szene

[730] Eine Straße.


Viola, ein Schiffshauptmann und Matrosen treten auf.


VIOLA.

Welch Land ist dies, ihr Freunde?

SCHIFFSHAUPTMANN.

Illyrien, Fräulein.

VIOLA.

Und was soll ich nun in Illyrien machen?

Mein Bruder ist ja in Elysium.

Doch wär' es möglich, daß er nicht ertrank:

Was denkt Ihr, Schiffer?

SCHIFFSHAUPTMAMN.

Kaum war es möglich, daß Ihr selbst entkamt.

VIOLA.

Ach, armer Bruder! – Vielleicht entkam er doch.

SCHIFFSHAUPTMANN.

Ja, Fräulein; und Euch mit »vielleicht« zu trösten.

Versichr' ich Euch: als unser Schiff gescheitert,[730]

Indessen Ihr und dieser arme Haufen,

Mit Euch gerettet, auf dem Boote trieb,

Sah ich, daß Euer Bruder, wohl bedacht

In der Gefahr, an einen starken Mast,

Der auf den Fluten lebte, fest sich band:

Ihm lehrte Mut und Hoffnung dieses Mittel;

Dann, wie Arion auf des Delphins Rücken,

Sah ich ihn Freundschaft mit den Wellen halten,

Solang' ich sehen konnte.

VIOLA.

Hier ist Gold

Für diese Nachricht. Meine eigne Rettung

Zeigt meiner Hoffnung auch für ihn das Gleiche,

Und Eure Red' ist des Bestätigung.

Kennst du dies Land?

SCHIFFSHAUPTMANN.

Ja, Fräulein, sehr genau.

Drei Stunden ist es kaum von diesem Ort,

Wo ich geboren und erzogen bin.

VIOLA.

Und wer regiert hier?

SCHIFFSHAUPTMANN.

Ein edler Herzog von Gemüt und Namen.

VIOLA.

Was ist sein Name?

SCHIFFSHAUPTMANN.

Orsino.

VIOLA.

Orsino! den hört' ich meinen Vater

Wohl nennen; damals war er unvermählt.

SCHIFFSHAUPTMANN.

Das ist er, oder war's vor kurzem noch.

Denn nur vor einem Monat reist' ich ab,

Als eben ein Gerücht lief (wie Ihr wißt,

Was Große tun, beschwatzen gern die Kleinen),

Er werbe um die reizende Olivia.

VIOLA.

Wer ist sie?

SCHIFFSHAUPTMANN.

Ein sittsam Mädchen, eines Grafen Tochter;

Der starb vor einem Jahr, und ließ sie damals

In seines Sohnes, ihres Bruders, Schutz.

Der starb vor kurzem auch; ihn zärtlich liebend

Schwor sie, so sagt man, Anblick und Gesellschaft

Der Männer ab.

VIOLA.

O dient' ich doch dem Fräulein,

Und würde nicht nach meinem Stand der Welt[731]

Verraten, bis ich die Gelegenheit

Selbst hätte reifen lassen!

SCHIFFSHAUPTMANN.

Das wird schwer

Zu machen sein: sie will von keiner Art

Gesuche hören, selbst des Herzogs nicht.

VIOLA.

Du hast ein fein Betragen an dir, Hauptmann,

Und wenn gleich die Natur mit schöner Decke

Oft Gräber übertüncht, bin ich dir doch

Zutraun geneigt, du habest ein Gemüt,

Das wohl zu diesem feinen Anschein paßt.

Ich bitte dich, und will dir's reichlich lohnen,

Verhehle, wer ich bin, und steh mir bei,

Mich zu verkleiden, wie es etwa taugt

Zu meinem Plan. Ich will dem Herzog dienen:

Du sollst als einen Hämling mich empfehlen.

Es lohnt dir wohl die Müh', denn ich kann singen

Und ihn mit allerlei Musik ergötzen,

Bin also sehr geschickt zu seinem Dienst.

Was sonst geschehn mag, wird die Zeit schon zeigen:

Nur richte sich nach meinem Witz dein Schweigen.

SCHIFFSHAUPTMANN.

Seid Ihr sein Hämling, Euer Stummer ich,

Und plaudr' ich aus, so schlage Blindheit mich!

VIOLA.

Nun gut, so führ' mich weiter!


Ab.


Quelle:
William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Berlin: Aufbau, 1975, S. 730-732.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Was ihr wollt
Was ihr wollt: Komödie
Twelfth Night/ Was ihr wollt [Zweisprachig]
Was ihr wollt, Englisch-Deutsch
Was ihr wollt: Zweisprachige Ausgabe
Was ihr wollt (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Hume, David

Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes

Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes

Hume hielt diesen Text für die einzig adäquate Darstellung seiner theoretischen Philosophie.

122 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon