Sechsundzwanzigstes Kapitel.

[282] Am folgenden Morgen erwachte er, zwar noch schwach, aber mit kühlem Kopfe und ohne Fieber. Es war ihm, als sei er durch ein leises Gespräch geweckt worden, als er sich aber umsah, war Lygia nicht mehr bei ihm im Zimmer. Nur Ursus kniete vor dem Kamine, scharrte die ausgebrannte Asche beiseite und suchte nach etwas Glut unter ihr. Als er sie gefunden hatte, begann er die Kohlen anzufachen; er tat dies aber nicht mit dem Munde, sondern mit dem Blasebalg eines Schmiedes. Vinicius, der sich daran erinnerte, daß dieser Mann am Tage zuvor Kroton erwürgt habe, betrachtete mit der dem Liebhaber der Arena eigenen Aufmerksamkeit seinen riesigen Rücken, der dem eines Kyklopen glich, sowie seine mächtigen wie Säulen aussehenden Glieder.

»Ich danke dem Merkur, daß er mir das Genick nicht gebrochen hat,« dachte er bei sich. »Bei Pollux! wenn die übrigen Lygier ihm gleichen, so werden die Legionen an der Donau mit ihnen noch schwere Arbeit zu tun bekommen!«

Laut aber sagte er: »He, Sklave!«

Ursus zog seinen Kopf aus dem Kamine heraus und sagte mit einem beinahe freundlichen Lächeln: »Gott gebe dir einen guten Tag, Herr, und gute Gesundheit; aber ich bin ein freier Mann und kein Sklave.«

Auf Vinicius, der Lust hatte, Ursus über Lygias Vaterland auszuforschen, machten diese Worte einen angenehmen[282] Eindruck, denn ein Gespräch mit einem freien, wenn auch einfachen Manne verstieß weniger gegen seine Würde als Römer und Patrizier als ein Gespräch mit einem Sklaven, in dem weder das Gesetz noch die Sitte ein menschliches Wesen anerkannten.

»Du gehörst also nicht Aulus?« fragte er.

»Nein, Herr; ich diene Kalline, wie ich ihrer Mutter gedient habe, aber als freier Mann.«

Dabei steckte er seinen Kopf wieder in den Kamin, um die Kohlen anzufachen, auf die er vorher etwas Holz gelegt hatte; dann drehte er sich wieder um und sagte: »Bei uns gibt es keine Sklaven!«

Vinicius fragte nun: »Wo ist Lygia?«

»Sie hat eben erst das Zimmer verlassen, und ich soll dir dein Frühstück bereiten. Sie hat die ganze Nacht bei dir gewacht.«

»Warum hast du sie nicht abgelöst?«

»Sie wollte es nicht, und ich habe zu gehorchen.«

Seine Stirn verdüsterte sich, und er fuhr nach einiger Zeit fort: »Hätte ich ihr nicht gehorcht, so wärest du nicht mehr am Leben.«

»Tut es dir leid, daß du mich nicht getötet hast?«

»Nein, Herr. Christus verbietet das Töten.«

»Aber Atacinus und Kroton?«

»Ich konnte nicht anders,« murmelte Ursus. Und dann begann er wie mit Bedauern auf seine Hände zu blicken, die heidnisch geblieben waren, wenn auch sein Herz das Christentum angenommen hatte.

Er stellte einen Topf auf einen Rost und rückte ihn ans Feuer; dann sah er nachdenklich in die Flammen.

»Es war übrigens deine Schuld, Herr; warum strecktest du die Hand nach ihr, einer Königstochter, aus?«

Im ersten Augenblicke bäumte sich Vinicius' Stolz dagegen auf, daß ein einfacher Mann, der noch dazu ein Barbar war, es nicht nur wagte, so vertraulich mit ihm zu reden,[283] sondern ihn auch zu tadeln. Zu den außergewöhnlichen und unglaublichen Dingen, die er seit gestern erlebt hatte, kam noch dieses hinzu. Da er aber schwach war und seine Sklaven nicht zur Hand hatte, bezwang er sich, allerdings nur, weil der Wunsch, etwas Näheres über Lygias Leben zu erfahren, überwog.

Nachdem er daher etwas ruhiger geworden war, begann er sich nach dem Kriege der Lygier gegen Vannius und die Sueven zu erkundigen. Ursus erzählte gern, konnte aber zu dem, was Vinicius seinerzeit von Aulus Plautius erfahren hatte, nicht viel Neues hinzufügen. Ursus hatte in der Schlacht nicht mitgekämpft, denn er hatte die Geiseln in Atelius Histers Lager begleitet. Er wußte nur, daß die Lygier die Sueven und Jazygen geschlagen hatten, aber nicht, daß ihr Heerführer und König unter den Pfeilen der Jazygen gefallen war. Unmittelbar darauf hatten sie die Nachricht erhalten, daß die Semnonen an ihren Grenzen die Wälder in Brand gesteckt hätten; sie waren eiligst umgekehrt, um diese Kränkung zu rächen, und hatten die Geiseln bei Atelius zurückgelassen, der ihnen anfangs königliche Ehren erweisen ließ. Später starb Lygias Mutter. Der römische Befehlshaber wußte nicht, was er mit dem Kinde anfangen sollte. Ursus wollte mit ihm nach der Heimat fliehen, aber die Wege dahin waren durch wilde Tiere und feindliche Stämme unsicher gemacht. Als daher die Nachricht eintraf, daß sich lygische Gesandte bei Pomponius befänden, um ihm Hilfe gegen die Markomannen anzubieten, schickte Hister beide zu Pomponius. Als sie aber bei ihm anlangten, erfuhren sie, daß keine Gesandten da waren, und auf diese Weise blieben sie im Lager. Pomponius nahm sie mit nach Rom und übergab, nachdem er seinen Triumph gefeiert hatte, das Kind seiner Gattin, Pomponia Graecina.

Obgleich in dieser Erzählung nur sehr wenig enthalten war, was Vinicius nicht schon wußte, so hörte er ihr doch mit Genugtuung zu, denn es schmeichelte seinem ungemessenen[284] Familienstolze, daß ein glaubwürdiger Zeuge Lygias königliche Abkunft bestätigte. Als Tochter eines Königs konnte sie am Hofe des Caesars die gleiche Stellung einnehmen wie die Töchter der vornehmsten Häuser, um so mehr, als das Volk, dessen König ihr Vater gewesen war, bisher mit Rom noch keinen Krieg geführt hatte, aber, obgleich es zu den Barbaren gehörte, sehr wohl gefährlich werden konnte, da es nach den Berichten Atelius Histers selbst eine zahllose Heeresmacht besaß.

Dieses Zeugnis bestätigte übrigens auch Ursus, denn auf Vinicius' Frage nach den Lygiern erwiderte er: »Wir leben in den Wäldern, besitzen aber so viel Land, daß niemand weiß, wo die Wildnis zu Ende ist, und ein zahlreiches Volk wohnt darin. Es gibt in den Wäldern auch hölzerne Städte, in denen großer Reichtum herrscht, denn was die Semnonen, Markomannen, Vandalen und Quaden in der ganzen Welt zusammenrauben, das nehmen wir ihnen wieder ab. Sie wagen auch nicht, bei uns einzufallen, bei günstigem Winde stecken sie aber unsere Wälder in Brand. Wir fürchten weder sie noch den römischen Caesar.«

»Die Götter haben den Römern die Weltherrschaft verliehen,« entgegnete Vinicius stolz.

»Die Götter sind böse Geister,« antwortete Ursus einfach, »und wo es keine Römer gibt, dort gibt es auch keine Weltherrschaft.«

Er sah in das Feuer und sprach wie zu sich selber: »Als der Caesar Kalline an den Hof berief und ich glaubte, es könne ihr ein Leid zustoßen, da wollte ich heim nach den Wäldern gehen und die Lygier der Königin zu Hilfe rufen. Und die Lygier würden nach der Donau gezogen sein, denn es ist ein gutes Volk, wenn auch heidnisch. Und dann hätte ich ihnen die frohe Botschaft1 gebracht. Sowie aber Kalline zu Pomponia zurückkehrt, will ich mich ihr zu Füßen werfen[285] und sie bitten, mich zu ihnen gehen zu lassen, denn Christus ist so weit von ihnen geboren worden, und sie haben noch nicht das geringste von ihm gehört. Er hat besser als ich gewußt, wo er geboren werden müsse; wäre er aber in unseren Wäldern zur Welt gekommen, so hätten wir ihn sicher nicht gemartert, sondern hätten das Christuskind gehütet und gepflegt und dafür gesorgt, daß es ihm nie an Wildbret, Pilzen, Biberfellen und Bernstein gefehlt hätte. Was wir bei den Sueven oder Markomannen geraubt hätten, hätten wir ihm gegeben, damit es in Reichtum und Überfluß dahin lebe.«

Bei diesen Worten rückte er den Topf mit dem Frühstück für Vinicius ans Feuer und schwieg dann. Seine Gedanken schweiften offenbar die ganze Zeit über bis in die lygische Wildnis; erst als der Trank zu sieden begann, goß er ihn in eine flache Schüssel, ließ ihn sorgfältig abkühlen und sagte: »Glaukos rät, du möchtest auch den Arm, der dir gesund geblieben ist, möglichst wenig bewegen; daher hat Lygia mir befohlen, dir das Frühstück zu reichen.«

Lygia hatte es befohlen! Dagegen gab es keinen Widerspruch. Auch Vinicius kam es nicht in den Sinn, sich gegen ihren Willen aufzulehnen, als sei sie die Tochter des Caesars oder eine Göttin; er erwiderte daher kein Wort, und Ursus, der sich auf sein Bett gesetzt hatte, begann das Getränk aus der Schüssel in eine kleinere Schale zu gießen und diese Vinicius an den Mund zu setzen. Er tat dies so sorgsam und mit einem so freundlichen Lächeln in seinen blauen Augen, daß Vinicius seinen Sinnen kaum traute, dies könne derselbe schreckliche Titane sein, der am Tage zuvor Kroton erwürgt, auch ihn selbst mit der Gewalt eines Orkans erfaßt und in Stücke zerrissen hätte, wenn Lygia sich seiner nicht erbarmt hätte. Zum erstenmal in seinem Leben begann der junge Patrizier darüber nachzudenken, was in der Brust eines einfachen Mannes, eines Dieners, eines Barbaren vorgehen möge.[286]

Ursus erwies sich aber als eine ebenso ungeschickte wie sorgsame Wärterin. Die Schale verschwand vollständig zwischen seinen herkulischen Fingern, so daß für Vinicius' Mund kein Platz übrig blieb. Nach einigen ungeschickten Versuchen wurde der Riese ganz verlegen und sagte: »Ei, es wäre leichter, einen Auerochsen aus dem Walde zu schleppen.«

Vinicius belustigte sich über die Verlegenheit des Lygiers; die letztere Äußerung erregte aber nicht weniger seine Aufmerksamkeit. Er hatte im Zirkus den furchtbaren »Ur« aus den Wildnissen des Nordens gesehen, dem sich selbst die kühnsten Bestiarii nur mit Zittern nahten und der nur dem Elefanten an Größe und Stärke nachstand.

»Hast du schon versucht, diese Tiere an den Hörnern zu packen?« fragte er erstaunt.

»Während der ersten zwanzig Winter meines Lebens hatte ich Furcht,« erwiderte Ursus, »aber dann ist es oft geschehen.«

Und er begann von neuem Vinicius die Schale zu reichen, aber noch ungeschickter als vorher.

»Ich muß Mirjam oder Nazarius darum bitten,« sagte er.

Aber jetzt zeigte sich Lygias blasses Antlitz hinter dem Vorhange.

»Ich werde sofort helfen,« sagte sie.

Nach kurzer Zeit trat sie aus dem Cubiculum, wo sie sich offenbar soeben hatte zur Ruhe begeben wollen, denn sie trug nur eine einfache, die Brust eng umspannende Tunica, welche von den Alten Capitium genannt wurde, und aufgelöstes Haar. Vinicius, dessen Herz bei ihrem Anblicke schneller schlug, machte ihr Vorwürfe, daß sie bisher noch nicht daran gedacht hatte, schlafen zu gehen; sie antwortete jedoch heiter: »Ich wollte es eben tun, aber zuerst werde ich Ursus' Stelle vertreten.«

Sie nahm die Schale, setzte sich auf den Rand des Bettes und gab Vinicius zu trinken, der darüber zugleich gerührt und entzückt war. Als sie sich über ihn beugte und er die Wärme ihres Körpers spürte, während ihre aufgelösten Haare[287] ihm auf die Brust fielen, erblaßte er vor innerer Erregung, wurde sich aber in dieser Verwirrung zugleich bewußt, daß es für ihn ein über alles teures und geliebtes Wesen gebe, im Vergleich zu dem die ganze Welt nichts sei. Zuerst hatte er sie nur begehrt, jetzt begann er sie aus ganzem Herzen zu lieben. Früher war er in seinem ganzen Sinnen und Trachten wie alle seine Zeitgenossen ein blinder, rücksichtsloser Egoist gewesen, dem es nur um sich zu tun war, jetzt lag ihm auch ihr Wohl am Herzen.

Er bat sie daher auch bald, sich nicht länger seinetwegen zu bemühen, und obgleich er bei ihrem Anblick und in ihrer Gegenwart ein nie gefühltes Glück genoß, sagte er doch zu ihr: »Es ist genug. Gehe zur Ruhe, meine Göttin.«

»Nenne mich nicht so,« entgegnete sie, »ich darf so etwas nicht hören.«

Dabei lächelte sie ihm aber freundlich zu und erklärte ihm dann, der Schlaf habe sie geflohen, sie fühle auch keine Müdigkeit und werde nicht eher zur Ruhe gehen, als bis Glaukos komme. Ihre Worte klangen ihm wie Musik in den Ohren, und zugleich füllte sich sein Herz mit immer größerer Rührung, immer größerem Entzücken und immer größerer Dankbarkeit, und der Gedanke kam ihm, ob er ihr diese dankbare Gesinnung nicht zeigen solle.

»Lygia,« begann er nach einer kurzen Pause, »ich habe dich vorher nicht gekannt. Jetzt aber weiß ich, daß ich dich auf falschem Wege zu erringen suchte, und daher sage ich dir: Kehre zu Pomponia Graecina zurück und sei überzeugt, daß ich fortan nie wieder die Hand nach dir ausstrecken werde.«

Ihr Gesicht wurde plötzlich traurig.

»Ich wäre glücklich,« entgegnete sie, »wenn ich sie nur von ferne erblicken könnte, aber ich darf nicht mehr zu ihr zurück?«

»Warum nicht?« fragte Vinicius erstaunt.

»Wir Christen wissen durch Akte, was auf dem Palatin vorgeht. Hast du nicht gehört, daß der Caesar bald nach[288] meiner Flucht, aber noch vor seiner Abreise nach Neapel Aulus und Pomponia zu sich beschied und ihnen in der Meinung, sie seien mir behilflich gewesen, mit seinem Zorne drohte. Zum Glück konnte ihm Aulus antworten: Du weißt, Herr, daß noch nie eine Lüge über meine Lippen gekommen ist; ich schwöre dir, daß wir ihre Flucht nicht begünstigt haben und daß wir auch nicht wissen, was aus ihr geworden ist. Der Caesar glaubte ihm und vergaß dann die Angelegenheit. Auch ich habe auf den Rat der Ältesten der Mutter meinen Aufenthaltsort nicht mitgeteilt, damit sie immer getrost schwören kann, sie wisse nichts von mir. Du kannst das nicht verstehen, Vinicius, aber die Lüge ist uns nicht gestattet, selbst wenn es sich um das Leben handelt. Dies gebietet unsere Religion, nach der wir unsere Herzen zu bilden bestrebt sind; und daher habe ich auch Pomponia nicht wiedergesehen, seitdem ich ihr Haus verließ; nur kommen ihr von Zeit zu Zeit verstohlene Andeutungen aus der Ferne zu, daß ich noch lebe und in Sicherheit bin.«

Die Sehnsucht überwältigte sie; ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber bald faßte sie sich und sagte: »Ich weiß, daß auch Pomponia sich nach mir sehnt; aber wir besitzen unsere Tröstungen, die andere nicht haben.«

»Ja,« entgegnete Vinicius, »euer Trost ist Christus, aber ich verstehe das nicht.«

»Sieh auf uns: für uns gibt es keine Trennung, keinen Schmerz, kein Leiden, und wenn sie doch an uns herantreten, so verwandeln sie sich in Freude. Und der Tod selbst, der für euch das Ende des Lebens ist, ist für uns nur dessen Anfang und der Austausch eines niedrigeren Glückes gegen ein höheres, eines minder beständigen gegen ein bleibendes, ewiges. Du siehst, was das für eine Religion sein muß, die uns selbst gegen unsere Feinde Liebe gebietet, uns vor der Lüge schützt, unsere Seelen vom Bösen läutert und uns nach dem Tode unendliche Seligkeit verheißt.«[289]

»Ich habe diese Lehren im Ostrianum gehört und dann selbst erfahren, wie ihr gegen mich und Chilon gehandelt habt, und wenn ich daran denke, so kommt es mir bis jetzt vor, als sei es ein Traum und als könne ich weder meinen Ohren noch meinen Angen trauen. Aber beantworte mir eine andere Frage: bist du glücklich?«

»Ja,« entgegnete Lygia. »Wer an Christus glaubt, kann nicht unglücklich sein.«

Vinicius betrachtete sie mit einem Ausdruck, als übersteige das Gehörte jedes Maß menschlicher Fassungskraft.

»Und möchtest du nicht zu Pomponia zurückkehren?«

»Von ganzer Seele wünschte ich es, und ich werde auch zu ihr zurückkehren, wenn es Gottes Wille ist.«

»Ich sage dir daher: kehre zurück, und ich schwöre dir bei meinen Laren, daß ich nie wieder die Hand nach dir ausstrecken werde.«

Lygia dachte einen Augenblick nach und erwiderte dann: »Nein. Ich kann die mir Nahestehenden nicht in Gefahr bringen. Der Caesar liebt Plautius und seine Familie nicht. Kehrte ich zurück – du weißt, wie durch die Sklaven jede Neuigkeit in Rom herumkommt – so würde meine Rückkehr sofort zum Stadtgespräch werden, und auch Nero würde sie durch seine Sklaven unzweifelhaft erfahren. Dann würde er Aulus und Pomponia bestrafen und mich ihnen zum mindesten ein zweites Mal fortnehmen lassen.«

»Ja,« sagte Vinicius stirnrunzelnd, »das wäre möglich. Er würde es tun, wenn auch nur deswegen, um zu beweisen, daß sein Wille zu geschehen habe. Es ist wahr, er hat dich nur deswegen vergessen oder will sich deiner nicht mehr erinnern, weil der Verlust nicht ihn, sondern mich getroffen hat. Aber vielleicht würde er ... wenn er dich Aulus und Pomponia fortgenommen hätte ... dich mir übergeben, und ich würde dich zu Pomponia zurückbringen.«

Doch sie entgegnete voller Niedergeschlagenheit: »Vinicius, möchtest du mich noch einmal auf dem Palatin sehen?«[290]

Er biß die Zähne zusammen und erwiderte. »Nein! Du hast recht. Ich sprach töricht! Nein!«

Und plötzlich tat sich vor seinen Augen gleichsam ein bodenloser Abgrund auf. Er war ein Patrizier, ein Kriegstribun, ein mächtiger Mann; aber über allen Mächten der Welt, der er angehörte, stand ein Wahnsinniger, dessen Launen und Verbrechen unmöglich vorherzusehen waren. Nur Leute wie die Christen brauchten sich weder um ihn zu kümmern noch ihn zu fürchten, denn für sie war diese ganze Welt, der Trennungsschmerz, Leiden und selbst der Tod bedeutungslos. Alle anderen mußten vor ihm zittern. Das Grausige der Zeit, in der er lebte, kam Vinicius jetzt voll zum Bewußtsein. Er konnte Lygia Aulus und Pomponia nicht zurückgeben, aus Furcht, das Ungeheuer könne sich ihrer erinnern und seinen Zorn an ihr auslassen; aus demselben Grunde würde er, falls er Lygia zum Weibe nähme, möglicherweise sie, sich und Aulus derselben Gefahr aussetzen. Ein Augenblick schlechter Laune würde hinreichen, sie alle ins Verderben zu stürzen. Zum erstenmal in seinem Leben empfand Vinicius, daß die Welt von Grund aus umgestaltet oder das Leben überhaupt zu einer Unmöglichkeit werden müsse. Er verstand auch, was ihm kurz vorher noch unfaßbar gewesen war, daß in solchen Zeiten nur die Christen glücklich sein konnten.

Vor allem aber quälte ihn die Reue; denn er sah wohl, daß er selbst sein und Lygias Leben in einer Weise zerrüttet habe, daß sich aus diesem Wirrsal kaum ein Ausweg fand. Und unter dem Eindruck dieser Reue begann er: »Weißt du, daß du glücklicher bist als ich? Du hattest in deiner Armut und in diesem einen Zimmer mitten unter schlichten Leuten deine Religion und deinen Christus; ich aber habe nur dich, und als du mir fehltest, war ich wie ein Bettler ohne ein Obdach über seinem Kopfe und ohne Brot. Du bist mir teurer als die ganze Welt. Ich suchte dich, denn ich konnte ohne dich nicht leben. Ich mochte nicht essen, nicht schlafen.[291] Hätte ich nicht die Hoffnung gehabt, dich zu finden, so hätte ich mich in mein Schwert gestürzt. Aber ich fürchte mich vor dem Tode, denn dann könnte ich dich nicht mehr sehen. Ich sage dir die reine Wahrheit, daß ich ohne dich nicht zu leben vermag und daß mich bisher nur die Hoffnung aufrechterhalten hat, dich zu finden und wieder zu erreichen. Erinnerst du dich noch an unsere Unterredung in Aulus' Hause? Einmal zeichnetest du mir einen Fisch in den Sand, ohne daß ich die Bedeutung davon kannte. Erinnerst du dich noch daran, wie wir Ball spielten? Ich liebte dich schon damals mehr als mein Leben, und auch du begannst es zu ahnen, daß ich dich liebte ... Dann kam Aulus hinzu, erschreckte uns mit Libitina und unterbrach unser Gespräch. Beim Abschiede sagte Pomponia Petronius, daß Gott alleinig, allmächtig und allliebend sei, aber der Gedanke kam uns nicht, daß Christus euer Gott sei. Schenkt er dich mir, so will ich ihn lieben, obschon er mir ein Gott der Sklaven, Fremdlinge und Bettler zu sein scheint. Du sitzest hier bei mir und denkst nur an ihn. Denke auch an mich, denn sonst werde ich ihn hassen. Für mich bist du die einzige Gottheit. Gesegnet sei dein Vater und deine Mutter, gesegnet das Land, das dich geboren hat. Ich möchte deine Füße umschlingen und zu dir beten, dir Huldigung, Opfer und selbst kniefällige Verehrung darbringen, du dreimal Göttliche! Du weißt es nicht, du kannst es nicht wissen, wie heiß ich dich liebe ...«

Bei diesen Worten legte er die Hand an seine bleiche Stirn und schloß die Augen. Seine Natur kannte keine Schranken, weder im Zorne noch in der Liebe. Er sprach mit Begeisterung, wie jemand, der die Herrschaft über sich selbst verloren hat und nun kein Maß mehr kennt, weder in Worten noch im Rausche seiner Gefühle. Aber er sprach aus der Tiefe seiner Seele und seines Herzens heraus. Es war unverkennbar, daß die Fülle des Schmerzes, des Entzückens, des Verlangens, der Ehrfurcht, die sich in seiner Brust angesammelt hatte, sich nun endlich in unaufhaltsamem Wortstrome[292] Bahn gebrochen hatte. Lygia erschienen diese Worte als gotteslästerlich, und doch begann ihr Herz zu schlagen, als wolle es die ihre Brust verhüllende Tunika sprengen. Sie konnte sich des Mitleids mit ihm und seinem Kummer nicht erwehren. Die Ehrfurcht, mit der er zu ihr sprach, rührte sie. Sie fühlte sich grenzenlos geliebt und vergöttert, sie fühlte, daß dieser unbeugsame und gefährliche Mann ihr jetzt mit Leib und Seele gehöre wie ein Sklave, und dieses Bewußtsein seiner Unterordnung und ihrer eigenen Macht über ihn erfüllte sie mit Glückseligkeit. Zugleich wurden ihre Erinnerungen lebendig. Wieder stand er vor ihr, jener glänzende Vinicius, schön wie ein heidnischer Gott, der in Aulus' Hause zu ihr von Liebe gesprochen und ihr noch halb kindliches Herz damals aus seinem Schlummer geweckt hatte; dessen Küsse sie noch auf ihrem Munde fühlte und aus dessen Umarmung Ursus sie auf dem Palatin mit demselben Ungestüm gerissen hatte, wie wenn sie rings von Flammen umgeben gewesen wäre. Jetzt aber, mit dem Entzücken und Schmerz in seinen Adlerzügen, mit der blassen Stirn und dem flehenden Blick seiner Augen, verwundet, durch die Liebe gebrochen, voll heißer Neigung, Verehrung und Demut, erschien er ihr so, wie sie ihn damals wünschte und wie sie ihn aus ganzer Seele liebte, und darum teurer als je zuvor.

Und mit einem Male erkannte sie, daß eine Zeit kommen könne, wo seine Liebe sie erfassen und wie ein Sturmwind mit sich fortreißen würde, und bei diesem Gedanken hatte sie ganz dasselbe Gefühl, das er kurz zuvor gehabt hatte: daß sie nämlich am Rande eines Abgrundes stehe. Hatte sie darum Aulus' Haus verlassen? Hatte sie sich darum durch die Flucht gerettet? hatte sie sich darum so lange Zeit in dem Armenviertel der Stadt verborgen gehalten? Wer war dieser Vinicius? Ein Augustianer, Offizier und Höfling Neros! Und er nahm auch teil an dessen Verruchtheit und Wahnwitz, wie das Fest zeigte, das Lygia nie vergessen konnte. Er ging mit den übrigen in die Tempel und[293] opferte verabscheuungswürdigen Göttern, an die er nicht glaubte, denen er aber doch wegen seiner öffentlichen Stellung Ehre erwies. Und außerdem hatte er sie verfolgt, um sie zu seiner Sklavin und Geliebten zu machen und sie zugleich in jene schreckliche Welt der Ausschweifung, der Wollust, des Verbrechens, der Ehrlosigkeit hineinzuziehen, die den Zorn und die Rache Gottes herausforderte. Er schien zwar geändert, hatte ihr aber doch eben erst gesagt, er werde Christus hassen, wenn sie mehr an diesen als an ihn denke. Es war Lygia, als sei schon der bloße Gedanke an eine andere Liebe als die zu Christus eine Sünde gegen den Erlöser und gegen seine Lehre. Als sie daher empfand, daß sich auf dem Grunde ihres Herzens andere Gefühle und Wünsche regten, wurde sie von Bangen für ihre Zukunft und ihre Seele erfaßt.

Während sie innerlich so mit sich kämpfte, erschien Glaukos, um nach dem Kranken zu sehen und seinen Gesundheitszustand zu untersuchen. Auf Vinicius' Zügen malten sich sofort Zorn und Ungeduld. Er war über die Unterbrechung seines Gespräches mit Lygia ärgerlich, und als Glaukos einige Fragen an ihn richtete, antwortete er beinahe nichtachtend. Allerdings beherrschte er sich bald wieder; wenn aber Lygia glaubte, sein trotziges Wesen sei durch das, was er im Ostrianum gehört habe, vielleicht gemildert worden, so mußte sie sich bald von ihrem Irrtum überzeugen. Er hatte sich nur ihr gegenüber geändert, aber hinter diesem einen Gefühl barg sich in seiner Brust das alte stolze und eigenwillige, echt römische, wölfische Herz, das nicht nur der von der christlichen Religion gebotenen sanfteren Gefühle, sondern selbst der Dankbarkeit unfähig war.

Lygia ging, von innerer Sorge und Unruhe erfüllt, aus dem Zimmer. Bisher hatte sie Christus im Gebete ein Herz dargebracht, das an Reinheit einem Tautropfen glich. Jetzt war diese Lauterkeit dahin. In den Kelch der Blume war ein giftiges Insekt gedrungen und hatte ihren Schmelz zerstört.[294] Selbst der Schlummer brachte ihr trotz der zwei schlaflosen Nächte keinen Frieden. Es träumte ihr, Nero fahre im Ostrianum an der Spitze einer Schar Augustianer, Bakchanten, Korybanten und Gladiatoren in einem rosenbekränzten Wagen über eine Menge Christen hinweg und Vinicius fasse sie am Arm, risse sie in die Quadriga, drücke sie an sein Herz und flüsterte ihr zu: »Komm mit uns!«

1

Das Evangelium.

Quelle:
Sienkiewicz, Henryk: Quo vadis? Zwei Bände, Leipzig [o.J.], Band 1, S. 282-295.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Quo vadis
Quo vadis?: Eine Erzählung aus der Zeit Neros
Quo vadis?: Vollständige Ausgabe
Quo vadis?: Roman
Brockhaus Literaturcomics Quo vadis?: Weltliteratur im Comic-Format
Quo vadis?

Buchempfehlung

Chamisso, Adelbert von

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

In elf Briefen erzählt Peter Schlemihl die wundersame Geschichte wie er einem Mann begegnet, der ihm für viel Geld seinen Schatten abkauft. Erst als es zu spät ist, bemerkt Peter wie wichtig ihm der nutzlos geglaubte Schatten in der Gesellschaft ist. Er verliert sein Ansehen und seine Liebe trotz seines vielen Geldes. Doch Fortuna wendet sich ihm wieder zu.

56 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon