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[93] In seinem Gymnasium war man gewohnt, Albrecht Winter mit stolz erhobenem Haupt und erfolgbewußt leuchtenden Augen zu sehen, offen bewundert von seinen für ihn schwärmenden Schülern, heimlich sogar von denen seiner Kollegen, welche ihm sein stattlichschönes Äußere, die Vielseitigkeit seines Wissens, den leichten Fluß der Rede und die Erfolge in seinen verhältnismäßig jungen Jahren beneideten. Aber seit einiger Zeit schien er nicht mehr derselbe. In den Lehrstunden war er nicht selten zerstreut; vergebens harrten die jungen Leute auf eine jener begeisterten Improvisationen, mit denen er sie sonst wohl entzückte, gerade wenn die trockensten Gegenstände behandelt wurden; und er, dem früher niemals ein hartes Wort entschlüpfte, konnte bei geringfügigen Veranlassungen heftig und unduldsam werden. Die Kollegen sahen den freundlich gesprächigen Mann in einen Kopfhänger verwandelt, der sein Schweigen nur unterbrach, um eine bitter sarkastische Bemerkung in die Debatte zu werfen. Dann wieder eines Morgens erschien »Siegfried«, wie ihn der Schulwitz getauft hatte, strahlender als je, um bereits am nächsten Tage abermals die Beute seiner seltsamen Mißstimmung und Melancholie zu sein.[93]
Niemand wußte sich diese Wunderlichkeiten zu erklären; er selbst freilich mußte sich heimlich eingestehen, daß seine Seele nur noch der Spielball der Leidenschaft war, die ihn für die schöne Frau von Sorbitz mit einer Gewalt ergriffen hatte, gegen welche er in sich keinen Widerstand fand. Das ganze Dasein drehte sich für ihn um die Frage: erwidert sie meine Liebe? Glaubte er sie mit ja beantworten zu dürfen, schien ihm der herbstlich graue Himmel von rosigem Licht verklärt. Mußte er – und das war der weitaus häufigere Fall – an ihrer Gegenliebe zweifeln, sah er sich am sonnigsten Tag umgeben von den Schrecken des arktischen Eises unter einem Himmel, von dem der letzte Hoffnungsstern verschwunden war.
Unterdessen hatten die theatralischen Angelegenheiten den erfreulichsten Fortgang genommen. Die Rollen der beiden Stücke, welche jetzt offiziell: »Das Schild« und »Der Schutzmann« genannt wurden, waren in kürzester Frist ausgeschrieben worden und bei der nächsten Zusammenkunft in Adeles kleinem Salon zur Verteilung gekommen. Hier hatte Albrecht eine erste schmerzliche Enttäuschung erfahren. Ein wie reiches Lob er auch für seine dichterische Leistung einerntete, und mit welcher Einhelligkeit man ihm die Rolle des Helden im »Schild« zuerkannte, seine stille Hoffnung, die angebetete Frau dann zur Partnerin zu haben, ging nicht in Erfüllung. Klotilde, die sein bittendes Augenspiel nicht zu verstehen, oder verstehen zu wollen schien, erklärte mit aller Entschiedenheit, eine Rolle nicht übernehmen zu können, bei der die Darstellerin auch tragische Töne in der Gewalt haben müsse. Das sei Stephanies Sache. Dagegen[94] glaube sie, mit der resoluten Miß Jane des zweiten Stücks wohl fertig zu werden, wenn sie auch keine so perfekte Engländerin wie Stephanie sei, die mit ihren großen, dunklen, feuchtschimmernden Augen als geängstete junge Kaufmannsfrau brillieren werde. Und da Stephanie, der es vor allem um das Zustandekommen des Unternehmens zu thun war, sich damit einverstanden erklärte, wurde Klotildens Vorschlag zum Beschluß erhoben, zur besonderen Freude Luckows, der den ärztlichen Freund des Helden im »Schild« übernehmen sollte und sich so mit dem Gegenstand seiner stillen Verehrung in dem Rahmen eines und desselben Stückes umschlossen sah.
Ein paar andere Rollen fanden leicht ihre Liebhaber. Für den Mann der Polizei schien der Legationsrat, der Luckows Rat, »sich die Sache noch einmal zu überlegen«, beherzigt hatte und am zweiten Abend pünktlich erschienen war, mit seinem Oliventeint und dem durchbohrenden Blick ganz der geeignete Repräsentant. Adele schwärmte für die Haushälterin; Elimar erklärte, daß seine Schauspielkunst über den alten Diener Balthasar, der nur wenige Worte zu sprechen hatte, nicht hinausreiche. Für das kommerzienrätliche Elternpaar sollten zwei Befreundete des Sudenburg'schen Hauses: ein älteres, behagliches, von aller Welt Tante Julie genanntes Fräulein, und ein jovialer Rittmeister von den zweiten Dragonern, Herr von Rotenburg, engagiert werden. Den durchtriebenen Ladenjüngling Fridolin zu übernehmen, erklärte sich der behende Lieutenant von Sperber gern bereit, zum großen Trost für Fritz und Franz Sudenburg, die als Offiziere im »Schutzmann« zu glänzen hofften und deren Hünengestalten sich für den windigen Schalk auch[95] wenig schickten. Schwester Erna in der kleinen Posse würde bei Fräulein von Breitenbach, einem schönen, sanften Mädchen, vortrefflich aufgehoben sein. Zu der Komparserie in der Schlußscene des »Schilds« war der Andrang der Kameraden so groß, daß Fritz und Franz nur abzuwehren hatten.
Dies alles war entweder schon auf der Leseprobe bei Meerheims festgestellt worden, oder, was man da noch nicht endgiltig machen konnte, auf der folgenden, welche bereits in der großen Sudenburg'schen Wohnung stattfand, nachdem der Direktor erklärt hatte, gegen das Treiben der jungen Leute blind und taub sein zu wollen.
Was denn freilich beides recht wünschenswert schien in Anbetracht des fortwährenden Kommens und Gehens der Theaterleute, welches die folgenden Tage brachten, und des nicht unbedeutenden Lärmens, den sie bei ihren Proben vollführten. Wollte doch des fröhlichen Lachens und lustigen Schwätzens kein Ende nehmen – Albrecht mußte nicht selten seine ganze Autorität aufbieten, den Übermut zu zügeln und die Herrschaften daran zu erinnern, daß man ja wohl zusammengekommen sei, um Komödie zu spielen.
Das Amt eines Regisseurs war ihm als etwas Selbstverständliches zugefallen. Einmal schien es dem Dichter zu gebühren, und dann stellte sich auch bald heraus, daß er von theatralischen Dingen ein gut Teil mehr verstand als die übrigen Herrschaften, die nur immer von ihren Logenplätzen aus den Schaum des Trankes abgeschlürft hatten. Schon dem Studenten war das Theater eine Leidenschaft gewesen; der Traum, dermaleinst als Schauspieler oder Dichter von der Bühne herab zu glänzen,[96] hatte ihn unablässig verfolgt. Weit lieber, als mit seinen Kommilitonen, hatte er mit Schauspielern verkehrt und in ihrem Umgang die rauhen Manieren des Bergmannssohnes abzuschleifen versucht mit einem Erfolg, der für naivere Augen und Gemüter ein vollkommener war. Wie oft hatte er, als ein gern gesehener Zaungast, hinter den Coulissen gestanden, mit brennenden Augen und gespannten Ohren die Darstellung irgend einer Paraderolle irgend eines berühmten Mimen einsaugend, so daß er jeden Ton und jede Geste des Wundermannes mit verblüffender Treue kopieren konnte! Wie oft hatte er mit der Vorführung solcher Künste der Heiterkeit eines Studentengelages, einer kollegialischen Tischgesellschaft erhöht!
Das alles kam ihm jetzt herrlich zu statten und ließ ihn unter diesen Dilettanten als ein durchgebildeter Künstler erscheinen, dessen Anordnungen man sich willig fügte, dessen Kritik und Korrekturen man sich gern gefallen ließ. Verehrter Herr Professor, kann ich das so machen? – Lieber Herr Professor, meinen Sie, daß es so geht? kamen die Fragen von allen Seiten; und der Herr Professor war nie um eine entscheidende Antwort verlegen, wußte sofort die nötige Wendung, die obligate Stellung anzugeben; sprach die betreffenden Worte in richtigem Ton und Tonfall mit so überzeugender Wahrheit, daß man schlechterdings nichts Besseres thun konnte, als ihm, so gut es gehen wollte, nachzuahmen.
Das waren denn freilich Stunden, die seinem Selbstgefühl schmeicheln mußten und ihm ungemischte Freude gebracht hätten, nur daß den Sonnenglanz eine dunkle Wolke trübte, nur daß in seiner erregten Seele die eine Frage unbeantwortet blieb, von deren Lösung, mochte[97] sie nun gut, oder schlimm sein, – das war seine Überzeugung – das Glück oder Unglück seines Lebens abhing.
Er fühlte, daß seine Nerven es nicht lange mehr ertrügen; er wollte Gewißheit um jeden Preis, und wenn sie ihn zerschmetterte, wie den Jüngling von Sais der Anblick der unverschleierten Göttin. Und es gab Momente, wo sich der Schleier heben zu wollen und ihm der Glanz der höchsten Himmel entgegen zu schimmern schien: ein wärmerer und immer verstohlener Blick aus ihren mächtigen Augen; ein herzlicheres und immer geflüstertes Wort; ein festerer und immer schnell wieder gelöster Druck der schlanken, kühlen Hand. Was aber verbürgte ihm, daß dies alles nicht Zufall, gesellschaftliche Höflichkeit, salonläufige Koketterie war, wenn dann wieder Tage kamen, an denen er sich auch nicht des geringsten Vorzugs vor den anderen Herren rühmen durfte, ja, er zu bemerken glaubte, daß sie ihn kühler behandelte als jene und einmal wieder die vornehme Dame herauskehrte, die den Abstand zwischen sich und dem Roturier nur zu vergessen schien, wenn ihr die Laune danach stand, oder es in ihre Absichten paßte?
In solchen verzweifelten Momenten hätte er das schöne Weib, das so zum Zeitvertreib ihre Circekünste an ihm übte, an dem weißen Hals packen und erwürgen, dieser vornehmen Gesellschaft, die in ihm nur ihren Tanzmeister sah, sein Regiebuch vor die Füße schleudern mögen.
Und hatte er sich dann aus dieser Gesellschaft verabschiedet, verbindlich lächelnd die ihm von allen Seiten entgegengebrachten Danksagungen für seine Nachsicht und Geduld bescheiden ablehnend, stürmte er durch die nächtlichen[98] Straßen nach Hause, in sich hinein wütend, mit allen heiligsten Eiden sich gelobend, diesen Tanz um das goldene Kalb der Eitelkeit zum letztenmale getanzt zu haben.
Ein Trost blieb ihm, und er wiederholte ihn sich beständig: in all dem Sturm und Drang seiner Leidenschaft, in diesem Chaos durcheinander wirbelnder, sich wild befehdender Empfindungen – von seinen Berufs- und häuslichen Pflichten hatte er keine einzige verletzt. Mochten seine Schüler den gütigen Lehrer ungern vermissen, der strengere war ihnen vielleicht der bessere; und seine Gattin, seine Kinder, so verstört ihm auch oft der Kopf, und wie weh es ihm ums Herz war, sie sollten noch das erste unfreundliche Wort aus seinem Munde hören. Ja, es dünkte ihm seltsam und ein psychologisches Rätsel, daß er sich, mit der wahnsinnigen Liebe für die andere im Herzen, von Klara nicht entfremdet fühlte, ja, mehr noch denn sonst zu ihr hingezogen als zu einer befreundeten Seele, von der er Rat in seiner Ratlosigkeit, Hilfe in seiner Hilflosigkeit mit Sicherheit erwarten durfte. Sollte er vor ihr hinknieen, den Kopf in ihren Schoß drücken und der Treuen, Guten, Verständigen alles, alles sagen? Mehr als einmal stand er vor dem Entschlusse so nah, daß nur noch eines Haares Breite fehlte. Dann fädelte sie gerade eine Nadel ein, oder aus ihrem Munde kam ein Alltagswort: über Karlchen, der wieder sein Höschen zerrissen hatte, über Frau Doktor Müller, bei der morgen das sechste Dienstmädchen binnen Jahresfrist anzog – und der mutige Entschluß kroch feig zum Herzen zurück. Nein! sie würde ihn nicht verstehen! Und wie konnte sie ihm verzeihen, wenn sie ihn nicht verstand![99]
Ihn, der sonst, als ein gesunder Mann, sich eines soliden Schlafes alle Zeit erfreut hatte, plagte jetzt eine hartnäckige Schlaflosigkeit. Klara über den wahren Grund seines Leidens wegzutäuschen und sich selbst die qualvollen Stunden zu verkürzen, studierte und schrieb er die halben Nächte hindurch an einer großen gelehrten Arbeit, die ihn schon seit längerer Zeit beschäftigt hatte und auf deren Fertigstellung der Verleger jetzt dringe. Klara, die ihr Leben dafür gelassen haben würde, daß kein unwahres Wort aus seinem Munde gehen könne, hatte dessen kein Arg. Wie aber ein verständiger Mensch, wenn ihm das Feuer auf die Nägel brenne, es über sich gewinne, vier, fünf Abende in der Woche mit diesem albernen Komödienspiel zu vertrödeln, gehe über ihren Horizont. Und wenn er glaube, sich, weil er sich für sie opfere, den Dank dieser vornehmen Herrschaften zu verdienen, irre er gewaltig. Die Sorte habe es an sich, den Leuten Komplimente zu machen, solange sie sie brauchten, und sie dann wegzuwerfen, wie ausgequetschte Citronen.
Worauf denn Albrecht etwas murmelte von der Notwendigkeit, B zu sagen, nachdem man die Thorheit begangen, sich auf das A einzulassen; und daß ja, Gott sei Dank, der leidige Spaß nun bald ein Ende haben werde.
Versprich mir wenigstens, Albrecht, sagte Klara, daß er dann auch wirklich ein Ende hat!
Aber wie sollte er denn nicht? entgegnete Albrecht.
Ich weiß nicht, sagte Klara. Ich habe nur immer gefunden: wenn man erst mal Unordnung in seine Wirtschaft kommen läßt, hernach ist es schwer, sie wieder[100] hinauszubringen. Du bist doch sonst ein so ordentlicher Mann.
Und Du eine verständige Frau, die nicht gleich in jedem Schatten an der Wand ein Gespenst sieht. Geh zu Bett, Kind! Ich werde heute nicht so lange aufbleiben![101]
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