Abendleuchten

[187] Wie die Hand einer Geliebten ist dein Licht

wenn du über schwanke Brücken schreitest

leicht gewölbt aus bebendem Kristall.

Sprühend schleift des Kleides goldner Saum

über Ackerfurchen über Wälder

webt im Gleiten über wirre

grüne moosumtropfte stille Weiher

zarte Maschen drängt und schäumt

über alle dunklen Dolden

alle großen weißen Glocken

schwanken bis zum Rand gefüllt im roten Duft.

Und die zitternden gleitenden Weiden hängen

schwer im Glanz und durch die Lindenkronen

sickert flirrend dünner güldner Regen.


Wie die Hand einer Geliebten ist dein Licht

wenn die Gassen seltsam stehn und schauern

zwischen Glut und Schatten. In den Fenstern

schwebt dein irrer Schein. Aus Kuppeln

alter Kirchen strömt er nieder aus dem Singen

enggeschmiegter Mädchen die in Reihen

dämmrig weite Abendstraßen hingehn in den Augen

Märchenleuchten leise singend hingehn

wo im fernen Tal der blasse Strom

wie mit schwerem Gold beladen rinnt und glüht.

Quelle:
Ernst Stadler: Dichtungen, Band 2, Hamburg o.J. [1954], S. 187-188.
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