Der Totenkopf [62] (Acherontia Atropos).

Versuch eines wissenschaftlichen Mystizismus.


Der Weißfisch, der sich an der Oberfläche der Gewässer, beinahe in freier Luft, aufhält, ist an den Seiten silberweiß und nur am Rücken blau. Das Rotauge, das niedrige Gewässer aufsucht, beginnt sich schon meergrün zu färben. Der Barsch, der sich in mittlerer Tiefe hält, hat sich bereits verdunkelt, und seine Seitenstreifen geben die Verzierungen der Fluten in schwarzer Zeichnung wieder. Der Karpfen und die Flunder haben, von dem Schlamm, in dem sie sich eingraben, ihre olivgrüne Farbe. Die Makrele, die in höheren Regionen gedeiht, gibt auf ihrem Rücken die Linien der Wellen so wieder, wie sie ein Marinemaler malen würde. Die Goldmakrele endlich, welche sich in den Sturzwellen des Meeres, deren Sprühregen die Sonnenstrahlen bricht, hin und her rollt, ist gar zu Regenbogenfarben übergegangen, die auf Silber- und Goldgrund stehen.

Was ist dies andres als Photographie? Auf seiner Brom- oder Chlor- oder Jodsilberplatte – denn das Meerwasser enthält diese Salze – oder auf seiner silbergesättigten Eiweiß- oder besser noch Gelatineplatte verdichtet der Fisch die durch das Wasser gebrochenen Farben. Taucht man ihn in einen Entwickler von schwefelsaurer Magnesia (oder schw. Eisen), so ist im statu nascenti die Wirkung so stark, daß geradezu Heliographie entsteht. Und der Fixator von unterschwefelsaurem[63] Natron braucht da nicht weit zu sein, da sich der Fisch ja in Chlornatrium und schwefelsauren Salzen aufhält und zudem noch sein gut Teil Schwefel mitbringt.

Das ist unzweifelhaft mehr als ein bloßes Gleichnis. Zugegeben selbst, daß das Silber der Fischschuppen kein Silber sei, so enthält doch das Meerwasser immer noch Silberchlorüre, und der Fisch ist fast nur eine einzige Gelatineplatte.

Gewiß, es gibt für diese graphischen Reproduktionen der Natur auch noch andere als chemische Ursachen. So ist das Fell des Leoparden voller Flecken, die wie fünfklauige Vorderfußspuren von Katze oder Hund aussehen. Vielleicht ist einmal vor unvordenklichen Zeiten ein schwangeres Weibchen von Hunden oder Katzen angegriffen worden, und die Kleinen haben jene Flecken als »Muttermale,« wie sie die Embryologie kennt, mitbekommen?

Haeckel erzählt einmal, daß ein Stier, der durch das Zuwerfen einer Stalltür seinen Schweif verloren, Erzeuger einer neuen schweiflosen Rindviehrasse geworden sei.

Der Zufall in der Entstehung der Arten ...

Als ich den Totenkopf oder die Acherontia Atropos, jenen Schmetterling, dessen Brustschild das Bild eines menschlichen Schädels weist, beim Händler kaufte, erblickte ich ihn zum ersten Male. Erstaunt, es weit deutlicher zu sehen, als ich es für möglich gehalten hätte, begann ich ihn zu studieren.

Und ich las: In der Bretagne sagt man ihm nach,[64] daß er den Tod verkünde. In Unruhe versetzt, gibt er einen klagenden Laut von sich; die Raupe nährt sich von Nachtschatten, Jasmin und Stechapfel, Datura Stramonium, und verpuppt sich in einem zusammengewachsenen Gehäuse tief in der Erde.

Es fanden sich da viele Beziehungen zum Tode: Die Ankündigung des Hinscheidens, der traurige Gesang, der tödliche Saft des Stramonium, die Einerdigung der Raupe.

Leser, ich bin keine abergläubische Natur, aber, wenn mir nach diesen Aufschlüssen der berühmte Physiker und Insektenkenner Réaumur von dem Totenkopf erzählen mußte, daß er periodisch und vor allem zu Zeiten der großen Epidemien erscheint, so wirst du verstehen, daß ich die Natur dieses Schmetterlings und seine Beziehungen zu seinem Totengewand zu Gegenständen meines Nachdenkens gemacht habe.

Zunächst also nährt sich die Raupe von Nachtschatten- und Stechapfel-Alkaloiden, zwei mit dem Alkaloid des Opium verwandten, aber auch Leichengiften, wie den Verwesungs-Alkaloiden und den Giften in den menschlichen Geweben nahestehenden Pflanzenbasen. Diese Gifte strömen unter anderen Jasmin-,1 Rosen- und Moschusgerüche2 aus.

Es gibt sogenannte Aaspflanzen (Arum, Stapelia, Orchis etc.), welche nach Leichen riechen, von einer leichenartigen Farbe sind und Insekten anziehen, welche sich von Aas nähren. Könnte da nicht logischerweise[65] der Totentopf die Stätten aufsuchen, wo Epidemien wüten und Körper in Zersetzung begriffen sind?

Dazu kommt noch, daß das Nachtschatten-Alkaloid ein narkotisches Gift ist. Sollte vielleicht deshalb der Schmetterling Tag und Nacht schlafen und nur zur Dämmerzeit aufleben und sich fortpflanzen?

Das andere, das Stechapfel-Alkaloid, setzt sich aus den beiden Alkaloiden der Belladonna und des schwarzen Bilsenkrautes zusammen; das Alkaloid der Belladonna erweitert die Pupille oder macht zum mindesten das Tageslicht unerträglich. Rührt vielleicht die Dämmerungsnatur des Totenkopfes daher, daß er sich vor der Sonne fürchtet und zugleich des Nachts durch die einschläfernde Wirkung des Hyoszyamin, des Bilsenkrautgiftes, zu schlafen gezwungen wird? Es scheint so. Das Hyoszyamin ruft außerdem die unangenehme Begleiterscheinung hervor, daß sein Opfer alle Gegenstände vergrößert sieht. (Megalopsie.)

Denken wir uns nun einen Totenkopf, wie er sich, durch seinen Geruchsinn irregeführt, auf Kirchhöfe, Schindanger, nach Schafotten und Galgen verirrt, wo er nun überall menschliche Schädel in fürchterlicher Vergrößerung erblickt und fragen wir uns, ob dies auf die Nerven eines Schmetterlings nicht wirken kann, der so eindrucksempfänglich ist, daß er Klagetöne ausstößt, wenn man ihn verfolgt, eines Schmetterlings, der sich im doppelten Taumel verliebter Brunst und verwirrenden Bilsenkrautrausches, in doppelter Trunkenheit, gleichsam in höchster Hysterie befindet.

Ich gebe zu, der Schritt ist beträchtlich, aber der große[66] Forscher, der die Ähnlichkeit zwischen den Schmetterlingen und den Blumen aufgezeigt hat, und der an eine Ähnlichkeit der Pflanzen untereinander aus gegenseitiger Gunst glaubte, würde angesichts der hohen psychischen und moralischen Entwickelung der Insekten vor einem ebenso natürlichen wie logischen Schluß nicht zurückgewichen sein.

Eben habe ich diese Zeilen geschrieben, da lese ich bei Bernardin de Saint-Pierre, daß der Totenkopf wegen seines schmerzlichen Gesanges »Haïe« genannt wird.

Welcher Laut dieses »Haïe!« Der Schmerzensschrei aller Völker der Erde; der Schrei des Elends, das sich über die Bitterkeit des Daseins beklagt, der Weheruf Apollos um seinen toten Freund Hyazinthus, den er in den Kelch der Blume zeichnete, die seinen Namen trägt.

Es gibt übrigens noch eine andere Pflanze, in deren Kelch jenes »Haïe« sich findet, und wir haben es alle gelesen, bevor wir noch lesen konnten. Ich meine den Garten-Rittersporn, das Delphinium Ajacis, von dem der große Evolutionist Ovid behauptet, es sei dem Boden entsprossen, den Ajax mit seinem Blute gedüngt habe.

Die Blausäure des blauen Rittersporn ein Produkt aus dem Blut und dem Eisen des Ajax: Eisenblausäure! Man möchte meinen, Ovid sei ein Chemiker gewesen.

Aber Bernardin fügt hinzu: Der Flügelstaub dieses Schmetterlings ist dem Auge sehr schädlich.

Ich habe unter dem Mikroskop diesen Staub mit Reagenzien behandelt, und sie haben ein Pflanzenalkaloid gezeigt, also ein Alkaloid wie das Atropin, das Strychnin usw., was auch nicht wunderbarer ist, als daß[67] die Sandkäfer Triethylphosphin oder die spanischen Fliegen Kantharidin, den nahen Verwandten des Digitalin, hervorbringen.

Wenn ich mich gegen diese Verführungen, eine Beziehung zwischen der Ausstattung des Totenkopfs und der Art seines Daseins zu finden, skeptisch verhalte, erkenne ich klar die Methode, deren ich mich bereits bedient habe.

Zunächst sage ich, es ist eine bedeutungslose Kaprize der Natur. Gut. Aber warum einer Natur das Recht auf Kaprizen absprechen, die eine neue Rindviehrasse erzeugt, weil ein unachtsamer Hirt ein Tor zuwirft, und ein Stier dabei seines Schweifes verlustig geht?

Oder nehmen wir die Kaprize als vorhanden an, aber sagen wir dann auch in diesem Fall: Gut, es ist eine Kaprize, aber noch lange kein Wunder, daß ein Insekt sein Äußeres der Umgebung anpaßt, wie wir das vom Eichenblatt-Falter wissen, der das Aussehen eines dürren Blattes angenommen hat, um sich leichter verbergen zu können.

Das ist durchaus kein Wunder, aber ein unbestreitbares Wunder ist die Verwandlung der Raupe in die Puppe, denn das kommt der Auferstehung der Toten gleich.

So unterliegen bei den Insekten die Larvengewebe während des unbeweglichen Zustandes der Nymphe dem Gewebeschwund, d.h. der fettigen Entartung oder der phylogenetischen Nekrobiose.

Also: Die Raupe unterliegt in ihrer Puppe demselben[68] Prozeß, wie die Leiche in ihrem Grabe, wo sie sich in ammoniakhaltiges Fett verwandelt.

Nun, Nekrobiose heißt Tod-Leben, und die Physiologen sagen von ihr: Nekrobiose ist die Form des Todes, welche der Verkäsung (der Tuberkelbildung) vorausgeht.

Wie also, –: Die Raupe in ihrer Puppe ist tot, in eine unförmliche Fettmasse verwandelt, und lebt trotzdem und feiert in einer höheren, freieren und schöneren Form ihre Auferstehung.

Was ist also Leben und Tod? Dasselbe. Bedenkt, wenn die Toten nicht tot, und Unzerstörbarkeit der Kraft und Unsterblichkeit eins wären!


Man beobachte hier vor allem den seelischen Hochmut und die Vermessenheit eines Geistes, der sich seines durchdringenden Scharfblickes bewußt geworden ist. Der Entdecker fühlt sich eins mit dem Schöpfer; er hat – wie ein rechter Pantheist sagen würde – an der Erschaffung der Welt mitgearbeitet.

Um die Zeichnung des chaotischen Zustandes meiner Seele zu vollenden, gebe ich hier meine Kirchhofsstudien wieder, wo mein durch Leid und Einsamkeit geläutertes Ich zu unbestimmten Begriffen Gottes und der Unsterblichkeit zurückkehrt.

1

Also Jasmin!

2

Es gibt eine Sphinx-Raupe, die nach Moschus riecht.

Quelle:
Strindberg, August: Inferno. Berlin [1919], S. 62-69.
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