Die Weihe

[259] Ich weih' im Thale den tiefsten Hain,

Daß seine Beschattung mich hülle;

Zum ruhigen Heiligtum weih' ich ihn ein,

Zum Tempel der seligen Stille.


Es ist ein dämmerndes Friedensreich,

Das flüsternde Lauben umgrünen;

Da ist mir am blühenden Rosengesträuch

Ein weihender Engel erschienen.


Mein Geist war fern um ein teures Grab

Vertieft in unendliches Trauern;

Da kam auf mich ahnendes Leben herab,

Gleich wunderbar mächtigen Schauern.
[259]

Und schön, wie himmlische Jungfrau'n, schön

Zu heiliger Botschaft erlesen,

Entschwebte dem Lichte vergeltender Höh'n

Ein hohes, ätherisches Wesen.


Hell floß um blondes Gelock der Kranz,

So strahlt's an unsterblichen Stirnen;

Doch dämmert es ernst durch den leuchtenden Glanz,

Es war das erhabenste Zürnen.


»Wer bist du, schwebende Lichtgestalt?

Entflohst du dem himmlischen Neigen?« – –

Nun wandelte leises Getön durch den Wald;

»Urania!« scholl's in den Zweigen.


»Gebeutst du, zürnend, Erhebung mir?

O zürne, du Hohe, nicht länger!

Schon naht sich, in frommer Begeisterung, dir

Der einsame, trauernde Sänger.«


Und sanfter floß um die Lichtgestalt

Die Ruhe der Göttergefilde;

Sanft tröstend umfing mich die süße Gewalt,

Die Kraft unaussprechlicher Milde.


O, darum weih' ich den tiefen Hain,

Daß seine Beschattung mich hülle,

Zum ruhigen Heiligtum weih' ich ihn ein,

Zum Tempel der seligen Stille!


Dort schwebt, vergöttert, mein Geist hinauf!

Entfesselt hinüber ins Freie.

Den Altar Uraniens richtet' ich auf,

Im Hain der erhabenen Weihe.


Kein Frevler nahe dem Altar sich,

Den heilige Schatten umschleiern!

Dort aber soll, hohe Vergötterte, dich

Mein sanftester Harfenton feiern!

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 135, Stuttgart [o.J.], S. 259-260.
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