Erster Gesang

[260] Der Zweifler schaut in das Leben friedlicher Tage, in die Stille seines unbefangenen Glaubens hinüber, klagt die Ausstellungen einer skeptischen Philosophie an, und fodert von ihr seine Tröstungen, seine Ruhe zurück. Verluste, welche die zartesten Seiten des irdischen Daseins verwunden, stellen seine innere Beruhigung auf eine harte Probe, die das Gemüt einem Gedränge niederschlagender Wahrnehmungen hingiebt.

In solchem Zustande der innern Zerrissenheit entwickelt sich der Zweifel an dem Dasein Gottes. Die in der Naturwelt uns begegnenden Hindeutungen auf eine ordnende Weltregierung erheben das Gemüt zur Höhe des Friedens empor: aber auch dort erreichen ihn die Erfahrungen aus der sittlichen Welt, beugen ihn schmerzlich danieder, entkräften seine freudigste Hoffnung, und treiben die geängstete Seele in sich selbst zurück.

Hier erscheint ihr das eigene Dasein als ein verwickeltes Rätsel. Sie überschauet mit Wehmut den Gang ihres irdischen Lebens, welches mit bald dahinsinkender Kraft dem Untergange zueilt. Nicht dauernder sind die edelsten Denkmale im Nachlasse der Tugend. Umsonst ist unser Forschen, unser Streben nach vollständiger Erkenntnis und befriedigender Glückseligkeit. – Was sollen uns nun Bedürfnisse, die über dies Dasein hinausreichen? Diejenige Weisheit, die dem Menschen seinen Himmel in der Tugend hienieden anweiset, ist eine kraftlose Trösterin; sie giebt ihn einem vielfachen Tode preis; und wie quälend ist die hoffnungslose Sehnsucht nach einer rettenden Zukunft, indem jene Weisheit, diese Zukunft aufzugeben, uns anrät. Dieses geplagte, mit den regellosen Gegensätzen von Tod und Leben, Verdienst und Schicksal, Tugend und Laster umringte, Dasein gewähret nichts, als eine rätselhafte, finstere Ansicht des Zirkelganges vom Entstehen und Verschwinden. Furchtbar schrecken die Erinnerungen des Todes uns an. Ward es ihnen vielleicht gegeben, aufzuregen in uns das Bedürfnis der Hoffnung, ohne welche die Kraft unseres bessern Willens gegen die Stürme des Lebens und den Drang sinnlicher Foderungen nicht besteht? Hier stößt das Gemüt auf die unleugbare Abhängigkeit seiner innern Bestimmungen von der Gewalt irdischer Triebe.[261]

Thatsachen einer solchen Abhängigkeit widersprechen der, dem Menschen zugeschriebenen, sittlichen Freiheit und der davon herfließenden Verdienstlichkeit und Zurechnungsfähigkeit moralischer Erscheinungen. Demzufolge kann der Mensch nicht umhin, sich als ein, von drängenden Antrieben seiner Organisation und von despotischen Schicksalen hin- und hergeworfenes, Wesen anzusehen. Dennoch fordert eine innere Stimme von ihm die Tugend: er soll, was er nicht kann. Diese Vorstellung vollendet den trauernden Zweifler, der, wie ein Verlaßner auf offnem Meere, von zufälligen Wogen umhergetrieben wird, und hoffnungslos nach Zuversicht schmachtet.


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 135, Stuttgart [o.J.], S. 260-262.
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