Zweiter Gesang

[274] Vorüberfliegend sind die Gestalten der Zeitlichkeit; und ihr fordern wir das Geheimnis der Ewigkeit ab?

Wir sind dem Irrtum unterworfen; doch eben hierin beruht der hohe Rang des Menschen, daß er bestimmt ist, die tiefe Fülle der Erkenntnis zu ahnen, und emporzudringen von Stufe zu Stufe, deren jede ihren beseligenden Gesichtskreis hat. Eine solche Beseligung würde er verlieren, wenn er eine der Stufen überspränge: und so hebt sich der Wunsch, die volle Wahrheit zu umfassen, von selbst auf. Wie hoch immer der Mensch sich aufschwingen mag in den Ordnungen der Geisterwelt: auch höhere Geister erschöpfen die Fülle der Erkenntnis nicht. Das Gebiet der Wahrheit ist unendlich: die Beherrschung desselben muß einem unendlichen Geiste zukommen. Der, durch die Selbständigkeit der Vernunft gewonnene, Glaube an Gott ist dem Menschen so unentbehrlich, gehört so sehr zu seinen innersten wesentlichsten Bedürfnissen, daß eben diese, in unserm tiefsten Sein gegründete, Unentbehrlichkeit ein höchstes, ein Ursein voraussetzt.

Lebhaft spricht dies höchste Bedürfnis durch die Stimme des Gewissens uns an, in dem Gebiete der Tugend, und äußert sich besonders tief ergreifend in dem Gefühle der Teilnehmung an dem Kampfe des Rechts, und an dem Siege, mit welchem aus den Anfechtungen die sittliche Würde hervorgeht. – Blicken wir in die frühesten Tage der Menschheit zurück: und wir sehen, wie mit dem ersten Erwachen des Bewußtseins in des Menschen Brust der Glaube an ein höchstes Wesen erwachte, den späterhin in bestimmteren Formen das ägyptische Priestertum pflegte. Ohne diesen Glauben – welche Aussicht des Lebens! welches Geschenk der Vernunft! Warum empört es uns, die Tugend leiden zu sehen? Dürfen wir von dem Zufalle Gerechtigkeit erwarten? Von der Naturwelt kann die Anerkennung dessen, was recht ist, nicht gefordert werden. Von einem Gotte ist Herstellung und Ausgleichung zu erwarten. Nur unter dieser Voraussetzung, die sich so unmittelbar, so unwillkürlich uns aufdringt, die uns so unentbehrlich ist, sind die zufälligen Leiden der[275] Tugend als ihr Triumph anzusehen; und jede Ansicht des Lebens heitert sich auf. Diesem angebornen geistigen Lebensbedürfnisse, dieser innersten Mahnung, die aus des Bewußtseins heiligster Tiefe herauftönt, schallet aus der, uns umgebenden, Schöpfung die Stimme der Natur entgegen, besonders wenn sie uns zur Betrachtung des gestirnten Himmels emporruft. Ohne den Glauben an Gott gerät die Vernunft mit sich in Widerspruch, und die Erscheinungen der Natur sind leere Träume. Selbst höhere Geister können diesen Glauben nicht entbehren.


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 135, Stuttgart [o.J.], S. 274-276.
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