19

[326] ›Er hat es den Weisen verborgen und den Kindern und Unmündigen geoffenbart‹, dachte Konstantin Ljewin mit Bezug auf seine Frau, als er an diesem Abend mit ihr sprach.

Er dachte an diesen Spruch im Evangelium nicht etwa, weil er sich für einen Weisen gehalten hätte. Für einen Weisen hielt er sich zwar nicht; aber er war doch der bestimmten Überzeugung, daß er klüger sei als seine Frau und als Agafja Michailowna, und er war sich auch bewußt, daß er, sooft er über den Tod nachdachte, dies mit aller Kraft seines Geistes tat. Er wußte auch, daß viele Männer von scharfem Verstande, deren Gedanken über den Tod er gelesen hatte, viel über diesen nachgedacht und dennoch über ihn nicht den hundertsten Teil von dem gewußt hatten, was seine Frau und Agafja Michailowna über ihn wußten. So verschieden auch diese beiden Frauen voneinander waren, Agafja Michailowna und Katja, wie sein Bruder Nikolai sie zu nennen pflegte und wie auch Konstantin sie jetzt besonders gern nannte: in diesem Punkte waren sie einander völlig ähnlich. Beide wußten sie unzweifelhaft, was das Leben war und was der Tod war, und obgleich sie die Fragen, die sich ihm, Konstantin Ljewin, aufdrängten, nicht hätte beantworten können, ja überhaupt nicht verstanden hätten, so hatten sie doch beide[326] keinen Zweifel über das Wesen dieser Erscheinung, des Todes, und hatten über ihn völlig die gleiche Anschauung, nicht nur untereinander, sondern sie teilten diese Auffassung auch mit Millionen von Menschen. Ein Beweis dafür, daß sie mit Bestimmtheit wußten, was der Tod sei, lag darin, daß sie, ohne auch nur eine Sekunde lang im unsichern zu sein, wußten, wie man Sterbende zu behandeln habe, und sich vor ihnen nicht fürchteten. Konstantin Ljewin aber und andere Leute konnten zwar vieles vom Tode sagen, kannten ihn aber offenbar nicht, da sie ihn fürchteten und schlechterdings nicht wußten, wie sie sich Sterbenden gegenüber zu verhalten hätten. Wäre Konstantin jetzt allein bei seinem Bruder Nikolai gewesen, so würde er ihn nur mit Entsetzen angesehen und mit noch größerem Entsetzen auf den Tod gewartet haben; weiter aber hätte er nichts zu tun gewußt.

Ja noch mehr: er wußte nicht einmal, was er sagen, wie er den Sterbenden ansehen, wie er im Zimmer gehen sollte. Von Gegenständen, die dem andern fern lagen, zu reden, das erschien ihm verletzend, das ging unmöglich; und vom Tode und solchen düsteren Dingen zu sprechen, das ging ebensowenig. Zu schweigen war gleichfalls unmöglich. ›Sehe ich ihn an, so wird er, fürchte ich, denken, daß ich sein Aussehen studieren will; sehe ich ihn nicht an, so wird er denken, daß ich andere Gedanken im Kopfe habe; gehe ich auf den Fußspitzen, so wird ihm das nicht recht sein; und mit dem ganzen Fuße aufzutreten scheue ich mich auch.‹ Kitty dagegen dachte offenbar gar nicht an sich selbst und hatte auch keine Zeit dazu; sie dachte an den Kranken, weil sie eben etwas wußte, was Konstantin nicht wußte. Und alles ging ihr gut vonstatten: sie erzählte ihm von sich selbst und von ihrer Hochzeit und lächelte ihm zu und bedauerte ihn und streichelte ihn, sprach von Fällen der Genesung bei der gleichen Krankheit – das ging ihr alles gut vonstatten; folglich wußte sie, was der Tod war. Ein Beweis dafür, daß ihre und Agafja Michailownas Tätigkeit nicht rein triebhaft, vernunftlos war, mußte darin gesehen werden, daß außer der körperlichen Pflege, der Erleichterung der Leiden sowohl Agafja Michailowna wie auch Kitty für einen Sterbenden noch etwas anderes für nötig hielten, etwas Wichtigeres als die körperliche Pflege, etwas, was mit dem ganzen Gebiete des Leiblichen nichts gemein hatte. So hatte Agafja, als sie von jenem verstorbenen alten Knecht sprach, gesagt: »Nun, Gott sei Dank, er hatte das Abendmahl genommen und die Letzte Ölung erhalten; gebe Gott einem jeden einen solchen Tod!« Ganz ebenso hatte Kitty, neben all ihren Sorgen um die Wäsche, um die durchgelegenen Stellen und[327] um das Getränk, gleich an diesem ersten Tage Zeit gefunden, den Kranken von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß er das Abendmahl nehme und die Letzte Ölung empfange.

Als sie von dem Kranken für die Nacht in ihre beiden Zimmer zurückgekehrt waren, saß Konstantin mit gesenktem Kopfe da, ohne zu wissen, was er nun tun sollte. Er dachte nicht an das Abendessen, er dachte nicht daran, sich zum Schlafengehen zurechtzumachen, er überlegte nicht, was sie nun weiter tun müßten; ja er war nicht einmal imstande, mit seiner Frau zu reden; er schämte sich. Kitty hingegen war noch geschäftiger und sogar noch lebhafter als sonst gewöhnlich. Sie ließ Abendessen bringen, packte selbst die Sachen aus, half selbst die Betten zurechtmachen, und vergaß nicht, sie mit Insektenpulver zu bestreuen. Es war an ihr jene Erregung und jene Schnelligkeit des Denkens wahrnehmbar, wie sie sich bei Männern vor einer Schlacht, vor einem Kampfe, in gefährlichen, entscheidenden Augenblicken des Lebens einstellen, in jenen Augenblicken, wo der Mann in unzweifelhafter Weise zeigt, daß er etwas wert ist und daß seine ganze Vergangenheit nicht eine nutzlos verbrachte Zeit, sondern eine Vorbereitung auf diese Augenblicke gewesen ist.

Alles ging ihr rasch von der Hand, und es war noch nicht zwölf Uhr, als alle Sachen bereits ausgepackt und sauber und ordentlich zurechtgelegt waren, und zwar in so eigenartiger Weise, daß diese Hotelzimmer mit ihrer eigenen Häuslichkeit, mit den Zimmern, in denen sie sonst waltete, eine gewisse Ähnlichkeit erhalten hatten: die Betten waren bereit, die Bürsten, Kämme und Spiegel zur Hand gelegt, Tücher über die Waschtische gebreitet.

Konstantin hatte die Vorstellung, daß es unverzeihlich sei, jetzt zu essen, schlafen zu gehen, ja selbst zu reden, und fand, daß jede seiner Bewegungen unpassend herauskam. Sie dagegen legte ihre Bürstchen zurecht, machte das aber so, daß für niemand etwas Verletzendes darin liegen konnte.

Zu essen jedoch waren sie beide nicht imstande und konnten, obwohl sie das Schlafengehen noch lange hinausgeschoben hatten, auch dann lange Zeit nicht einschlafen.

»Ich freue mich sehr, daß ich ihn überredet habe, morgen die Letzte Ölung zu empfangen«, sagte sie, während sie in der Nachtjacke vor ihrem zusammenlegbaren Spiegel saß und mit einem dichten Kamm ihr weiches, duftiges Haar auskämmte. »Ich habe das noch nie mit angesehen; aber ich weiß, daß dabei Gebete für die Genesung gesprochen werden; Mama hat es mir gesagt.«[328]

»Meinst du denn wirklich, daß er wieder gesund werden kann?« fragte Konstantin und blickte auf den schmalen Scheitel hinten an ihrem rundlichen Köpfchen, der beständig verschwand, sobald sie den Kamm nach vorn führte.

»Ich habe den Arzt gefragt. Er sagte, er könne höchstens noch drei Tage leben. Aber können denn die Ärzte so etwas wissen? Jedenfalls freue ich mich sehr, daß ich ihn dazu überredet habe«, sagte sie, indem sie unter ihrem Haar hervor mit einem schrägen Blick nach ihrem Manne hinsah. »Möglich ist alles«, fügte sie mit jenem besonderen, ein wenig listigen Ausdruck hinzu, der immer auf ihrem Gesicht erschien, sobald sie von religiösen Dingen sprach.

Nach ihrem Gespräch über Religion, damals als sie noch Braut und Bräutigam waren, hatten weder er noch sie jemals wieder ein Gespräch über diesen Gegenstand herbeigeführt; aber sie erfüllte ihre religiöse Pflicht des Kirchenbesuches und des Betens immer mit dem gleichen ruhigen Bewußtsein, daß dies so sein müsse. Trotz seiner Versicherung des Gegenteils war sie fest davon überzeugt, daß er ein ebenso guter und sogar noch besserer Christ sei als sie selbst und daß alles, was er darüber sage, nur zu den komischen Späßen gehöre, die er und andere Männer so gern machten, gerade wie wenn er zu ihrer Handarbeit bemerkte, vernünftige Leute stopften die Löcher und sie schnitte absichtlich welche hinein, und so weiter.

»Ja, diese Frauensperson, diese Marja Nikolajewna, hat es nicht verstanden, alles ordentlich einzurichten«, sagte Konstantin. »Und ... ich muß gestehen, ich freue mich sehr, sehr freue ich mich, daß du mitgekommen bist. Du bist ein solcher Inbegriff von Reinheit, daß ...« Er ergriff ihre Hand, küßte sie aber nicht (ihre Hand zu küssen bei solcher Nähe des Todes schien ihm unschicklich), sondern drückte sie ihr nur, wobei er ihr mit schuldbewußter Miene in die aufleuchtenden Augen blickte.

»Du hättest gar zuviel Qual ausgestanden, wenn du allein hier gewesen wärest«, sagte sie, hob die Arme, die ihre vor Freude errötenden Wangen verdeckten, wickelte am Hinterkopfe ihre Zöpfe zusammen und steckte sie mit Haarnadeln fest. »Nein«, fuhr sie fort, »das hat sie nicht verstanden ... Ich habe zum Glück viel davon in Soden gelernt.«

»Waren denn da so schwer Kranke?«

»Noch schlimmere.«

»Für mich ist es eine schreckliche Empfindung, daß er mir immer so vor Augen steht, wie er in seiner Jugend war. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für ein prächtiger junger Mensch er war; aber ich hatte damals für ihn kein Verständnis.«[329]

»Doch, ich kann es mir vorstellen, gewiß kann ich es mir vorstellen. Ich bin überzeugt, er und ich, wir wären gute Freunde geworden«, antwortete sie und blickte, erschrocken über das, was sie gesagt hatte, ihren Mann an, und die Tränen traten ihr in die Augen.

»Ja, es ist anders gekommen«, erwiderte er traurig. »Er ist eben einer von den Menschen, von denen man sagt: sie taugen nicht für diese Welt.«

»Aber es stehen uns noch viele schwere Tage bevor; wir müssen uns schlafen legen«, sagte Kitty nach einem Blick auf ihre winzige Uhr.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 2, S. 326-330.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon