XIV

[155] Durch die Gassen von Chamowniki gingen die Gefangenen allein mit ihrer Eskorte und den hinterherfahrenden Fuhrwerken, die den Soldaten der Eskorte gehörten; aber als sie aus den Gassen heraus zu den Proviantmagazinen kamen, stießen sie mitten auf einen gewaltigen, mit Privatfuhrwerken gemischten Zug Artillerie, der eng zusammengedrängt sich weiterschob.

Dicht bei der Brücke machten die Gefangenen mit ihrer Eskorte halt und warteten, bis der vor ihnen vorbeifahrende Zug hinüber war. Von der Brücke aus erschloß sich den Gefangenen nach hinten und nach vorn ein Ausblick auf endlose Reihen anderer in Bewegung begriffener Züge. Rechts, dort, wo die Kalugaer Landstraße sich am Neskutschny-Park herumzieht, um dann in der Ferne zu verschwinden, zogen sich endlose Reihen von Truppen und Fuhrwerken hin. Dies waren die Truppen des Beauharnaisschen Korps, die am frühesten von allen aufgebrochen waren; nach hinten zu, auf der Uferstraße und über die Kamenny-Brücke, zogen sich die Truppen und Fuhrwerke Neys hin.

Die Truppen Davouts, zu denen die Gefangenen gehörten, gingen über die Krimfurt-Brücke und waren schon zum Teil auf die Kalugaer Straße gelangt. Aber die Fuhrwerke bildeten eine so lange Reihe, daß die letzten Fuhrwerke Beauharnais' noch nicht aus Moskau auf die Kalugaer Straße gelangt waren, als die Tete der Neyschen Truppen schon aus der Bolschaja-Ordynka-Straße herauskam.

Als die Gefangenen die Krimfurt-Brücke überschritten hatten, rückten sie immer nur ein paar Schritte vor, machten dann wieder halt und rückten wieder ein wenig weiter, und von allen Seiten drängten immer mehr Wagen und Menschen heran.[156] Nachdem sie mehr als eine Stunde gebraucht hatten, um die paar hundert Schritte zurückzulegen, die die Brücke von der Kalugaer Straße trennten, und zu dem Platz gelangt waren, wo die Straßen des Stadtteils Samoskworetschje mit der Kalugaer Straße zusammentreffen, machten die Gefangenen, in einen Haufen zusammengedrängt, halt und mußten mehrere Stunden lang an diesem Kreuzpunkt stehenbleiben. Von allen Seiten ertönte wie Meeresrauschen ein unaufhörliches Rollen von Rädern und Trappeln von Füßen, sowie ein fortwährendes zorniges Schreien und Schimpfen. Gegen die Mauer eines ausgebrannten Hauses gedrückt, stand Pierre da und horchte auf dieses Getöse, das in seiner Einbildungskraft mit den Tönen der vorher gehörten Trommeln zusammenfloß.

Einige von den gefangenen Offizieren waren, um besser sehen zu können, auf die Mauer des ausgebrannten Hauses, bei der Pierre stand, hinaufgeklettert.

»Diese Bande! Nein, diese Bande!« sagten sie. »Auch auf die Kanonen haben sie eine Menge Sachen heraufgepackt! Sieh nur, Pelze! Ja, was haben die Racker alles geraubt ...! Was hat denn der da hinten, auf dem Bauernwagen? Das ist ja von einem Heiligenbild, ganz bestimmt! Das sind da gewiß Deutsche. Auch ein russischer Bauer, wahrhaftigen Gottes ...! Ach, diese Schufte ...! Sieh nur, der da hat sich so schwer bepackt, daß er kaum gehen kann! Na so was, auch Kutschwagen haben sie mitgenommen! Da, der hat sich auf seine Koffer heraufgesetzt. Ach herrje! Da fangen sie an, sich zu prügeln ...!«

»Hau ihm nur ordentlich in die Fresse, immer in die Fresse! Sonst kannst du bis zum Abend warten und kommst nicht weiter. Sieh mal, seht mal ... das gehört gewiß dem Napoleon selbst. Ei, was für prächtige Pferde! mit Monogramm und Krone. Das ist ein zusammenlegbares Zelt. Der hat einen Sack fallen lassen[157] und merkt es nicht. Da prügeln sie sich schon wieder ... Ein Weib mit einem kleinen Kind, ein hübsches Frauenzimmer. Na ja, natürlich, dich werden sie schon vorbeilassen ... Seht bloß, es ist kein Ende abzusehen. Russische liederliche Frauenzimmer, wahrhaftig, liederliche Frauenzimmer. Wie gemächlich die da in ihren Kutschen sitzen.«

Wieder trieb, wie bei der Kirche in Chamowniki, die gemeinsame Neugier mit der Macht einer starken Welle alle Gefangenen zur Straße hin, und Pierre sah dank seinem hohen Wuchs über die Köpfe der andern hinweg das, was die Neugier der Gefangenen so reizte. In drei Kutschen, die zwischen den Munitionswagen fuhren, saßen, eng aneinandergedrängt, grellfarbig geputzte, geschminkte Weiber, die mit schrillen Stimmen laut untereinander redeten.

Von dem Augenblick an, wo Pierre das Auftreten der geheimnisvollen Macht wahrgenommen hatte, erschien ihm nichts mehr seltsam oder schrecklich: weder der Leichnam, der zum Amüsement mit Ruß bemalt war, noch diese Weiber, die in eine unbekannte Ferne eilten, noch die Brandstätte von Moskau. Alles, was Pierre jetzt sah, machte auf ihn fast gar keinen Eindruck, wie wenn seine Seele, sich zu einem schweren Kampf vorbereitend, sich weigerte, Eindrücke aufzunehmen, durch die ihre Kraft geschwächt werden könnte.

Der Zug der Frauen war vorübergefahren. Dahinter folgten wieder in langer Reihe Bauernwagen, Soldaten, Trainwagen; Soldaten, Pulverwagen, Kutschen; Soldaten, Munitionswagen, Soldaten; hier und da Weiber.

Pierre sah nicht die einzelnen Menschen, sondern er sah ihre Bewegung.

Alle diese Menschen und Pferde schienen von einer unsichtbaren Macht weitergetrieben zu werden. Alle kamen sie im Laufe der[158] Stunde, während deren Pierre sie beobachtete, aus verschiedenen Straßen herausgeströmt, von ein und demselben Wunsch erfüllt: schnell vorwärtszukommen. Alle stießen einander im Gedränge, wurden dann einer wie der andere zornig und fingen an, sich zu prügeln: sie fletschten die weißen Zähne, zogen die Augenbrauen zusammen, warfen sich wechselseitig dieselben Schimpfworte an den Kopf, und auf allen Gesichtern lag ein und derselbe Ausdruck kräftiger Energie und kalter Grausamkeit, jener Ausdruck, der am Morgen dieses Tages, als die Trommeln wirbelten, Pierre auf dem Gesicht des Korporals aufgefallen war.

Der Abend nahte schon heran, als der Führer der Eskorte seine Mannschaft zusammentreten ließ und unter heftigem Schreien und Zanken sich in den Wagenzug hineindrängte und die Gefangenen endlich, von allen Seiten eingeschlossen, auf die Kalugaer Straße kamen.

Sie marschierten nun sehr schnell, ohne auszuruhen, und machten erst halt, als die Sonne schon unterzugehen anfing. Die Wagenzüge kamen einer nach dem andern heran, und die Leute trafen ihre Vorbereitungen zum Nachtlager. Alle machten den Eindruck, als seien sie ärgerlich und unzufrieden. Lange Zeit war von verschiedenen Seiten her Schimpfen, grimmiges Schreien und Schlägerei zu hören. Eine Kutsche, die hinter der Eskorte fuhr, war gegen ein der Eskorte gehöriges Fuhrwerk gefahren und hatte dieses mit der Deichsel durchstoßen. Eine Anzahl von Soldaten kam von verschiedenen Seiten zu dem Fuhrwerk gelaufen; die einen schlugen die vor die Kutsche gespannten Pferde auf die Köpfe, um sie wegzuwenden, andere begannen mit ihren Widersachern eine Schlägerei, und Pierre sah, daß ein Deutscher dabei mit einem Seitengewehr schwer am Kopf verwundet wurde.[159]

Es schien, als empfänden alle diese Menschen jetzt, wo sie in der kalten Dämmerung des Herbstabends mitten auf dem Feld haltgemacht hatten, das gleiche unangenehme Gefühl der wiederkehrenden Besinnung nach der Hast, die sie alle beim Aufbruch ergriffen hatte, und nach dem eiligen Marsch, dessen Ziel so unklar war. Nachdem sie jetzt haltgemacht hatten, schien es ihnen allen zum Bewußtsein zu kommen, daß es noch ungewiß sei, wohin sie gingen, und daß ihnen auf diesem Marsch viel Not und Mühe drohte.

Die Gefangenen wurden von der Eskorte an diesem Rastort noch schlechter behandelt als beim Aufbruch. An diesem Rastort bestand zum erstenmal die Fleischration, die den Gefangenen geliefert wurde, aus Pferdefleisch.

Jedem einzelnen Mann der Eskorte, von den Offizieren bis zum geringsten Soldaten, war eine Art von persönlicher Erbitterung gegen jeden der Gefangenen anzumerken, die ganz unerwartet an die Stelle des bisherigen freundschaftlichen Verhältnisses getreten war.

Diese Erbitterung wuchs noch, als sich beim Durchzählen der Gefangenen herausstellte, daß in der Hast und Unruhe des Aufbruchs aus Moskau ein russischer Soldat, der Leibweh simuliert hatte, entlaufen war. Pierre sah, wie ein Franzose einen russischen Soldaten mit Schlägen übel zurichtete, weil dieser sich zu weit vom Weg entfernt hatte, und hörte, wie sein Freund, der Kapitän, einen Unteroffizier wegen der Flucht des russischen Soldaten schalt und ihm mit dem Kriegsgericht drohte. Und als der Unteroffizier sich zu rechtfertigen suchte, der Soldat sei krank gewesen und habe nicht weitergehen können, antwortete der Offizier, es sei befohlen, jeden Zurückbleibenden zu erschießen. Pierre fühlte, daß jene Schicksalsmacht, die bei der Hinrichtung so schwer auf ihm gelastet hatte, während der Gefangenschaft[160] aber nicht mehr bemerkbar gewesen war, jetzt wieder sein ganzes Dasein beherrschte. Es war ihm ängstlich zumute; aber er fühlte, daß, je größere Anstrengungen die Schicksalsmacht aufwandte, um ihn zu erdrücken, in demselben Maße auch in seiner Seele eine widerstandsfähige Lebenskraft heranwuchs und erstarkte.

Pierre aß zum Abend eine Roggenmehlsuppe mit Pferdefleisch und unterhielt sich mit den Kameraden.

Weder Pierre noch sonst jemand von den Kameraden redete über das, was sie in Moskau gesehen hatten, oder über das grobe Benehmen der Franzosen oder über den Befehl zum Erschießen, der ihnen verkündet war; alle waren, sozusagen der verschlimmerten Lage zum Trotz, besonders lebhaft und heiter. Sie sprachen von persönlichen Erinnerungen und komischen Szenen, die sie auf dem Marsch gesehen hatten, vermieden aber Gespräche über die gegenwärtige Lage.

Die Sonne war schon lange untergegangen. Helle Sterne blitzten hier und da am Himmel auf; der rote Schimmer des aufgehenden Vollmondes, ähnlich dem Widerschein einer Feuersbrunst, verbreitete sich über einen Teil des Himmelsgewölbes, und die gewaltige rote Kugel schwankte wunderbar in dem grauen Nebel hin und her. Es begann hell zu werden. Der Abend war bereits zu Ende, aber die Nacht hatte noch nicht begonnen. Pierre stand auf und ging von seinen neuen Kameraden weg zwischen den Wachfeuern hindurch nach der andern Seite der Landstraße, wo, wie ihm gesagt worden war, die gefangenen gemeinen Soldaten lagerten. Er wollte gern mit ihnen ein paar Worte reden. Auf der Landstraße hielt ihn ein französischer Posten an und befahl ihm, umzukehren.

Pierre ging zurück, aber nicht zu dem Wachfeuer, zu den Kameraden, sondern zu einem Fuhrwerk, von dem die Pferde ausgespannt waren und bei dem sich niemand befand. Mit untergeschlagenen[161] Beinen setzte er sich neben einem Rad des Fuhrwerks auf die kalte Erde, saß mit gesenktem Kopf, ohne sich zu rühren, lange da und hing seinen Gedanken nach. So verging mehr als eine Stunde. Niemand störte ihn. Plötzlich lachte er mit seinem behäbigen, gutmütigen Lachen so laut auf, daß von verschiedenen Seiten die Menschen erstaunt nach diesem augenscheinlich allein dasitzenden Mann hinblickten, der so sonderbar lachte.

»Ha, ha, ha!« lachte Pierre und sagte dann laut zu sich selbst: »Der Soldat hat mich nicht durchgelassen. Sie haben mich gefangengenommen und eingesperrt. Sie halten mich gefangen. Wer ist das: mich? Mich? Mich, meine unsterbliche Seele! Ha, ha, ha ...! Ha, ha, ha ...!« lachte er, und die Tränen kamen ihm in die Augen.

Jemand stand auf und näherte sich ihm, um zu sehen, worüber dieser sonderbare, große Mensch so allein für sich lachen möge. Pierre hörte auf zu lachen, stand auf, ging von dem Neugierigen weiter weg und blickte um sich.

Das ungeheure, endlose Biwak, vorher von dem Geräusch der knisternden Wachfeuer und der reden den Menschen erfüllt, war still geworden; die roten Flammen der Wachfeuer waren heruntergebrannt und verblaßt. Hoch am hellen Himmel stand der Vollmond. Die außerhalb des Lagerraumes gelegenen Wälder und Felder, die vorher nicht zu sehen gewesen waren, ließen sich jetzt erkennen, und noch weiter hin zeigte sich die helle, im Mondlicht schwankende, lockende, endlose Ferne. Pierre schaute zu dem tiefen Himmel auf, zu den dahinwandelnden, flimmernden Sternen. »Und all das ist mein, und all das ist in mir, und all das bin ich!« dachte er. »Und all das haben sie gefangengenommen und in eine aus Brettern zusammengeschlagene Baracke eingesperrt!« Er lächelte und ging zu seinen Kameraden, um sich schlafen zu legen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 155-162.
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