XVI

[166] Es war eine dunkle, warme Herbstnacht. Schon seit vier Tagen regnete es. Nachdem Bolchowitinow zweimal die Pferde gewechselt und in anderthalb Stunden dreißig Werst auf der mit zähem Schmutz bedeckten Landstraße zurückgelegt hatte, langte er nach ein Uhr in Letaschowka an. Er stieg bei einem Bauernhaus ab, an dessen geflochtener Umzäunung eine Tafel mit der[166] Aufschrift: »Generalstab« hing, gab sein Pferd seinem Begleiter und trat in den dunklen Flur.

»Ich muß aufs schnellste den diensttuenden General sprechen! Etwas sehr Wichtiges!« sagte er zu jemandem, der sich in der Dunkelheit des Flures schnaufend erhob.

»Der General ist am Abend sehr krank gewesen; er hat schon drei Nächte nicht geschlafen«, flüsterte die Stimme eines Burschen, der auf das Wohl seines Herrn bedacht war. »Wecken Sie doch zunächst den Hauptmann.«

»Etwas sehr Wichtiges, vom General Dochturow«, sagte Bolchowitinow und trat in die Tür, die er tastend gefunden und geöffnet hatte.

Der Bursche ging ihm voran und machte sich daran, jemand zu wecken.

»Euer Wohlgeboren. Euer Wohlgeboren! Ein Kurier!«

»Was? Was? Von wem?« fragte eine verschlafene Stimme.

»Von Dochturow und von Alexei Petrowitsch. Napoleon ist in Fominskoje«, sagte Bolchowitinow; er konnte in der Dunkelheit den, der ihn fragte, nicht sehen, vermutete aber nach dem Klang der Stimme, daß es nicht Konownizyn sei.

Der Mann, der da geweckt worden war, gähnte und reckte sich.

»Ich möchte ihn nicht gern wecken«, sagte er und tastete dabei nach etwas. »Er ist recht krank! Und vielleicht sind es bloße Gerüchte.«

»Hier ist die Meldung«, erwiderte Bolchowitinow. »Ich habe Befehl, sie unverzüglich dem diensttuenden General zu übergeben.«

»Warten Sie, ich will Licht anzünden. Wo verkramst du denn immer das Feuerzeug, nichtswürdiger Kerl?« sagte der Mann, nachdem er sich noch einmal gereckt hatte, zu dem Burschen; es[167] war Schtscherbinin, Konownizyns Adjutant. »Ich habe es gefunden«, fügte er dann hinzu.

Der Bursche schlug Feuer; Schtscherbinin tastete nach dem Leuchter.

»Ach, diese gräßlichen Kerle von Burschen!« sagte er empört.

Bei dem Schein der Funken erblickte Bolchowitinow das jugendliche Gesicht Schtscherbinins, der ein Talglicht in der Hand hielt, und in der vorderen Ecke des Zimmers noch einen schlafenden Menschen. Dies war Konownizyn.

Als der Schwefelfaden an dem Zunder zuerst mit blauer, dann mit roter Flamme angebrannt war, zündete Schtscherbinin das Talglicht an, wobei die Schaben, die daran genagt hatten, vom Leuchter flüchteten, und betrachtete den Boten. Bolchowitinow war über und über beschmutzt, und als er sich mit dem Ärmel abwischte, beschmierte er sich das ganze Gesicht.

»Wer schickt denn die Meldung?« fragte Schtscherbinin, indem er den Brief hinnahm.

»Die Nachricht ist zuverlässig«, sagte Bolchowitinow. »Die Gefangenen und die Kosaken und die Kundschafter, alle sagen sie einhellig dasselbe aus.«

»Na, dann hilft es nichts, dann muß ich ihn wecken«, sagte Schtscherbinin, stand auf und trat zu dem Schlafenden hin, der eine Nachtmütze auf dem Kopf hatte und mit einem Mantel zugedeckt war. »Pjotr Petrowitsch!« sagte er. (Konownizyn rührte sich nicht.) »Eine Stabsangelegenheit!« fügte er lächelnd hinzu, da er wußte, daß diese Worte ihn sicher wecken würden.

Und in der Tat hob sich der Kopf mit der Nachtmütze sofort in die Höhe. Auf Konownizyns hübschem, energischem Gesicht mit den fieberhaft geröteten Backen verblieb noch einen Augenblick lang der Ausdruck, den ihm die von der Wirklichkeit weit abliegenden Traumvorstellungen verliehen hatten; aber dann fuhr[168] er auf einmal zusammen, und sein Gesicht nahm die gewöhnliche, feste Miene an.

»Nun, was gibt es? Von wem?« fragte er sofort, aber ohne Hast, und blinzelte mit den Augen wegen des Lichtes.

Nachdem Konownizyn die Meldung des Offiziers angehört hatte, erbrach er den Brief und las ihn durch. Kaum war er damit fertig, als er die in wollenen Strümpfen steckenden Beine auf den Lehmboden herunterließ und anfing, sich die Stiefel anzuziehen. Dann nahm er die Nachtmütze ab, strich sich das Haar an den Schläfen glatt und setzte die Uniformmütze auf.

»Bist du schnell hergeritten? Komm mit zum Durchlauchtigen.«

Konownizyn hatte sofort erkannt, daß die ihm überbrachte Nachricht von hoher Wichtigkeit war und keine Zögerung zuließ. Ob die Sache günstig oder ungünstig war, daran dachte er nicht, diese Frage legte er sich nicht vor. Das interessierte ihn nicht. Die ganze kriegerische Tätigkeit betrachtete er nicht mit dem Verstand, dem Urteilsvermögen, sondern mit einem andern Teil des Geistes. Er hegte in tiefster Seele die feste, unausgesprochene Überzeugung, daß alles gutgehen werde, daß man sich aber nicht darauf verlassen und noch weniger davon sprechen dürfe, sondern einfach das Seinige zu tun habe. Und er tat das Seinige und widmete dieser Pflichterfüllung seine gesamte Kraft.

Pjotr Petrowitsch Konownizyn, der ebenso wie Dochturow gewissermaßen nur um des Anstandes willen in die Liste der sogenannten »Helden des Jahres 1812« zu Barclay, Najewski, Jermolow, Platow, Miloradowitsch u.a. aufgenommen worden ist, stand ebenso wie Dochturow in dem Ruf eines Menschen von sehr beschränkten Fähigkeiten und Kenntnissen und hatte ebenso wie Dochturow nie Schlachtpläne entworfen, sich aber stets da befunden, wo die Situation am schwierigsten war; er schlief, seit er zum diensttuenden General ernannt war, immer bei[169] offener Tür und hatte Befehl gegeben, daß jeder Bote ihn wecken solle; beim Kampf setzte er sich immer dem feindlichen Feuer aus, so daß Kutusow ihm deswegen Vorwürfe machte und Bedenken trug, ihn aufs Schlachtfeld zu schicken. Er war ebenso wie Dochturow eines jener unauffälligen Zahnräder, die, ohne zu rasseln und Lärm zu machen, den wichtigsten Teil der Maschine bilden.

Als Konownizyn aus der Stube in die feuchte, dunkle Nacht hinaustrat, runzelte er die Stirn, teils weil sein Kopfschmerz ärger wurde, teils weil ihm ein unangenehmer Gedanke durch den Kopf ging, nämlich in welche Aufregung dieses ganze Nest hoher Generalstabsoffiziere durch diese Nachricht geraten werde, ganz besonders Bennigsen, der seit Tarutino auf Kutusow wütend war; wie sie Vorschläge machen, miteinander streiten, Befehle erlassen und wieder abändern würden. Und dieses Vorgefühl war ihm unangenehm, obwohl er wußte, daß es ohne das nun einmal nicht ging.

Und wirklich begann Toll, zu dem er sich begeben hatte, um ihm die neue Nachricht mitzuteilen, sogleich, dem General, der mit ihm zusammen wohnte, seine Ideen auseinanderzusetzen, und Konownizyn, der schweigend und müde zuhörte, mußte ihn daran erinnern, daß sie zum Durchlauchtigen gehen müßten.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 166-170.
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