[170] Kutusow schlief, wie alle alten Leute, in der Nacht nur wenig. Bei Tag schlummerte er oft unerwartet ein; bei Nacht aber lag er unausgekleidet auf seinem Bett, konnte meistens nicht schlafen und dachte nach.
So lag er auch jetzt auf seinem Bett, den schweren, großen, unförmlichen Kopf in die dicke, weiche Hand gestützt, und überließ[170] sich seinen Gedanken, während er sein einziges Auge geöffnet hielt und in die Dunkelheit hineinblickte.
Seit ihn Bennigsen mied, der mit dem Kaiser korrespondierte und im Stab am meisten Macht besaß, war Kutusow beruhigter in bezug darauf, daß man ihn nebst den Truppen wieder dazu zwingen könne, an nutzlosen Angriffsunternehmungen teilzunehmen. Die Lehre der Schlacht bei Tarutino und des ihr vorhergehenden Tages, die Kutusow in schmerzlicher Erinnerung hatte, konnte, wie er meinte, doch auch nicht wirkungslos bleiben.
»Sie müssen doch begreifen, daß wir durch ein angriffsweises Vorgehen nur verlieren können. Geduld und Zeit, das sind meine Streiter!« dachte Kutusow. Er wußte, daß man einen Apfel nicht abreißen darf, solange er noch grün ist. Er wird schon von selbst fallen, sobald er reif ist; reißt man ihn aber grün ab, so verdirbt man den Apfel und den Baum und bekommt von der herben Säure stumpfe Zähne. Als erfahrener Jäger wußte er, daß das Wild verwundet war, so schwerverwundet, wie die ganze russische Kraft es nur hatte zustande bringen können; aber ob tödlich oder nicht, diese Frage war noch unentschieden. Jetzt war Kutusow aufgrund der Sendungen Lauristons und Berthémys und aufgrund der Meldungen der Freischärler fast völlig davon überzeugt, daß die Wunde tödlich war. Aber es waren noch wirkliche Beweise notwendig; diese mußten abgewartet werden.
»Sie möchten gern hinlaufen und sehen, wie schwer die Verwundung ist. Wartet doch, dann werdet ihr es schon sehen. Immer nur Manöver, immer nur Angriffe!« dachte er. »Zu welchem Zweck? Immer nur, um sich hervorzutun! Als ob bei dem Kämpfen ein Vergnügen wäre. Sie sind wie die Kinder, von denen man nie ordentlich herausbekommt, wie es bei einer Sache zugegangen ist, weil sie alle nur beweisen wollen, wie gut sie zu kämpfen verstehen. Aber darauf kommt es jetzt nicht an.[171]
Und was für künstliche Manöver mir alle diese Leute vorschlagen! Wenn sie zwei, drei Möglichkeiten erwogen haben« (er dachte dabei an den allgemeinen Kriegsplan, den man ihm aus Petersburg geschickt hatte), »dann bilden sie sich ein, sie hätten alle erwogen. Aber die sämtlichen Möglichkeiten sind unzählig!«
Die ungelöste Frage, ob die dem Feind bei Borodino beigebrachte Wunde tödlich sei oder nicht, hing schon einen ganzen Monat lang über Kutusows Haupt. Einerseits hatten die Franzosen Moskau besetzt. Andrerseits hatte Kutusow in tiefster Seele das zweifellose Gefühl, jener furchtbare Schlag, bei dem er mit allen Russen seine gesamten Kräfte angestrengt hatte, müsse tödlich sein. Aber auf jeden Fall waren noch Beweise erforderlich, und auf diese wartete er schon einen Monat lang, und je weiter die Zeit vorschritt, um so ungeduldiger wurde er. Wenn er so in seinen schlaflosen Nächten auf seinem Bett lag, so tat er dasselbe, was die jungen Generale taten, dasselbe, was er ihnen zum Vorwurf machte. Er erwog alle möglichen Eventualitäten ebenso wie die jüngeren Leute, nur mit dem Unterschied, daß er auf diese Hypothesen nichts aufbaute und daß er solcher Eventualitäten nicht zwei oder drei, sondern Tausende sah. Je länger er nachdachte, um so mehr boten sich ihm dar. Er erwog jede Art von Märschen, die die napoleonische Armee unternehmen konnte, die ganze Armee oder ihre einzelnen Teile: nach Petersburg zu, gegen ihn, um ihn herum; er erwog (was er am meisten fürchtete) auch die Möglichkeit, daß Napoleon ihn mit seiner eigenen Waffe bekämpfen und in Moskau bleiben könne, um ihn zu erwarten. Kutusow erwog sogar einen Rückmarsch der napoleonischen Armee in der Richtung nach Medyn und Juchnow; aber das einzige, was er nicht vorhersehen konnte, war das, was wirklich erfolgte: jenes sinnlose, krampfhafte Hin-und Herrennen[172] des französischen Heeres während der ersten elf Tage nach seinem Abzug aus Moskau, ein Hin- und Herrennen, durch welches das ermöglicht wurde, worauf Kutusow trotz aller günstigen Anzeichen damals noch nicht zu hoffen wagte: die vollständige Vernichtung der Franzosen.
Die Meldungen Dolochows über die Division Broussier, die von Freischärlern gebrachten Nachrichten über die Nöte der Armee Napoleons, die Gerüchte über Vorbereitungen zum Aufbruch aus Moskau, alles hatte zur Bestätigung der Vermutung gedient, daß die französische Armee zerrüttet sei und sich anschicke zu fliehen. Aber es war dies doch eben nur eine Vermutung, die nur Jüngeren wichtig erscheinen konnte, aber nicht einem alten Mann wie Kutusow. Er mit seiner fünfzigjährigen Erfahrung wußte, welchen Wert man Gerüchten beimessen durfte; er wußte, wie sehr die Menschen, wenn sie etwas wünschen, dazu neigen, alle Nachrichten so zu gruppieren, daß sie das Gewünschte zu bestätigen scheinen, und wußte, daß die Menschen unter solchen Umständen gern alles ihren Wünschen Widersprechende weglassen. Und je mehr er selbst die Flucht der Franzosen wünschte, um so weniger wagte er daran zu glauben. Diese Frage nahm alle seine Geisteskräfte in Anspruch. Alles übrige waren für ihn nur gewohnheitsmäßige Mittel, die Zeit auszufüllen. Solche gewohnheitsmäßige Ausfüllung der Zeit, eine Konzession, die er dem Leben machte, waren seine Gespräche mit den Offizieren des Generalstabes, seine Briefe an Madame Stahl, die er von Tarutino aus schrieb, die Lektüre von Romanen, die Verteilung von Belohnungen, die Korrespondenz mit Petersburg usw. Aber der Untergang der Franzosen, den er allein voraussah, war sein höchster, einziger Wunsch.
In der Nacht vom 11. zum 12. Oktober lag er, auf den Arm gestützt, da und dachte darüber nach.[173]
Im Nebenzimmer regte sich etwas, und es wurden Tolls, Konownizyns und Bolchowitinows Schritte vernehmbar.
»Wer ist da? Herein! Was gibt es Neues?« rief ihnen der Feldmarschall zu. Während der Lakai eine Kerze anzündete, berichtete Toll über den Inhalt der Meldung.
»Wer hat die Meldung gebracht?« fragte Kutusow mit einem Gesicht, von dessen kaltem, strengem Ausdruck Toll, als die Kerze brannte, überrascht war.
»An der Richtigkeit der Meldung kann kein Zweifel sein, Euer Durchlaucht.«
»Ruf den Boten herein, ruf ihn herein!«
Kutusow saß auf dem Bett; das eine Bein ließ er herunterhängen; sein großer Bauch ruhte auf dem andern, untergeschlagenen Bein. Er kniff sein sehendes Auge zusammen, um den Boten besser sehen zu können, wie wenn er in dessen Gesichtszügen eine Antwort auf die Frage lesen wollte, die ihn beschäftigte.
»Sag mal, mein Lieber, sag mal«, redete er Bolchowitinow mit seiner leisen, altersschwachen Stimme an und hielt das Hemd über der Brust zusammen, das auseinandergegangen war. »Komm her, komm ganz nah heran. Was hast du mir denn da für Nachrichten gebracht? Wie? Napoleon ist aus Moskau abgezogen? Ist es wirklich so? Wie?«
Bolchowitinow begann von Anfang an ausführlich alles, was ihm aufgetragen war, zu berichten.
»Mach schneller, schneller, quäle mich nicht«, unterbrach ihn Kutusow.
Bolchowitinow erzählte alles und schwieg dann in Erwartung eines ihm zu erteilenden Befehles. Nun wollte Toll etwas sagen; aber Kutusow ließ ihn nicht zu Wort kommen. Er schien reden[174] zu wollen; aber plötzlich überzog sich sein Gesicht mit Runzeln und Falten; er machte gegen Toll hin eine ablehnende Handbewegung und wandte sich nach der entgegengesetzten Seite, nach derjenigen Ecke der Stube, wo eine Menge schwärzlicher Heiligenbilder hing.
»O Herr, mein Schöpfer! Du hast unser Gebet er hört ...«, sagte er mit zitternder Stimme, indem er die Hände faltete. »Rußland ist gerettet. Ich danke dir, Herr!« Und er brach in Tränen aus.
Buchempfehlung
Als Hoffmanns Verleger Reimer ihn 1818 zu einem dritten Erzählzyklus - nach den Fantasie- und den Nachtstücken - animiert, entscheidet sich der Autor, die Sammlung in eine Rahmenhandlung zu kleiden, die seiner Lebenswelt entlehnt ist. In den Jahren von 1814 bis 1818 traf sich E.T.A. Hoffmann regelmäßig mit literarischen Freunden, zu denen u.a. Fouqué und Chamisso gehörten, zu sogenannten Seraphinen-Abenden. Daraus entwickelt er die Serapionsbrüder, die sich gegenseitig als vermeintliche Autoren ihre Erzählungen vortragen und dabei dem serapiontischen Prinzip folgen, jede Form von Nachahmungspoetik und jeden sogenannten Realismus zu unterlassen, sondern allein das im Inneren des Künstlers geschaute Bild durch die Kunst der Poesie der Außenwelt zu zeigen. Der Zyklus enthält unter anderen diese Erzählungen: Rat Krespel, Die Fermate, Der Dichter und der Komponist, Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, Der Artushof, Die Bergwerke zu Falun, Nußknacker und Mausekönig, Der Kampf der Sänger, Die Automate, Doge und Dogaresse, Meister Martin der Küfner und seine Gesellen, Das fremde Kind, Der unheimliche Gast, Das Fräulein von Scuderi, Spieler-Glück, Der Baron von B., Signor Formica
746 Seiten, 24.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro