III

[425] Die russische Armee hatte den Rückzug von Borodino ausgeführt und stand jetzt bei Fili. Jermolow, den Kutusow ausgesandt hatte, um die Position zu besichtigen, kam zurück und berichtete dem Oberkommandierenden, in dieser Position könne keine Schlacht geliefert werden, der Rückzug sei ein Ding der Notwendigkeit. Kutusow blickte ihn schweigend an.

»Reich mal deine Hand her«, sagte er dann, und nachdem er sie so gedreht hatte, daß er den Puls fühlen konnte, bemerkte er: »Du bist krank, mein Lieber. Überlege, was du sprichst.«

Kutusow konnte den Gedanken noch nicht fassen, daß es möglich sein sollte, sich ohne Kampf hinter Moskau zurückzuziehen.

Auf dem Poklonnaja-Berg, sechs Werst von dem Dorogomilowskaja-Tor in Moskau entfernt, stieg Kutusow aus dem Wagen und setzte sich auf eine Bank am Rand des Weges. Eine[425] große Schar von Generalen sammelte sich um ihn. Graf Rastoptschin, der aus Moskau gekommen war, gesellte sich zu ihnen. Diese ganze glänzende Gesellschaft, die sich in mehrere Gruppen geteilt hatte, redete unter sich über die Vorteile und Nachteile der Position, über die Stellung der Truppen, über die vorgeschlagenen Pläne, über den Zustand Moskaus und überhaupt über militärische Dinge. Alle hatten die Empfindung, daß dies ein Kriegsrat sei, obwohl sie nicht zu einem solchen berufen waren und die Versammlung nicht diesen Namen führte. Alle Gespräche beschränkten sich auf das Gebiet der gemeinsamen Fragen. Und wenn jemand doch einem andern persönliche Neuigkeiten mitteilte oder sich nach solchen erkundigte, so sprach man darüber im Flüsterton und ging sogleich wieder zu den gemeinsamen Fragen über; von einem Scherz, einem Lachen oder auch nur von einem Lächeln war bei allen diesen Männern nichts zu bemerken. Alle waren offenbar mit Anstrengung bemüht, sich der ernsten Situation angemessen zu benehmen. Und jede Gruppe, die unter sich ein Gespräch führte, suchte sich in der Nähe Kutusows zu halten, dessen Bank den Mittelpunkt dieser Gruppen bildete, und jeder sprach absichtlich so laut, daß der Oberkommandierende ihn hören konnte. Dieser hörte zu und fragte manchmal nach dem, was um ihn herum gesprochen wurde, beteiligte sich aber selbst nicht an dem Gespräch und drückte keine Meinung aus. Großenteils wandte er sich, wenn er auf das Gespräch irgendeiner Gruppe hingehört hatte, mit enttäuschter Miene ab, als ob sie gar nicht über das gesprochen hätten, was er zu hören wünschte. Die einen sprachen von der gewählten Position und kritisierten dabei nicht sowohl die Position selbst als die geistigen Fähigkeiten derjenigen, die sie ausgesucht hatten; andere bewiesen, daß der Fehler schon weiter zurückliege und wir schon vorgestern eine Schlacht hätten annehmen müssen; wieder andere sprachen von der Schlacht bei[426] Salamanca, von welcher ein soeben eingetroffener Franzose, namens Crossard, der spanische Uniform trug, mancherlei erzählte. (Dieser Franzose erörterte mit einem der deutschen Prinzen, die in der russischen Armee dienten, die Belagerung von Saragossa und hielt es für möglich, Moskau in gleicher Weise zu verteidigen.) In einer vierten Gruppe äußerte sich Graf Rastoptschin dahin, er sei bereit, mit der freiwilligen Moskauer Landwehr vor den Mauern der Hauptstadt zu sterben, müsse aber doch sein Bedauern darüber aussprechen, daß man ihn so lange in Unkenntnis gelassen habe, da, wenn er die wahre Lage früher gekannt hätte, manches anders gekommen wäre. Eine fünfte Gruppe, welche tiefsinnige strategische Kombinationen zutage brachte, sprach über die Richtung, die unsere Truppen nun einschlagen müßten. In einer sechsten Gruppe wurde purer Nonsens geredet. Kutusows Miene wurde immer sorgenvoller und trüber. Aus allen diesen Gesprächen ersah er nur eines: Moskau zu verteidigen war physisch unmöglich, im vollen Sinn des Wortes, d.h. es war dermaßen unmöglich, daß, wenn ein unverständiger Oberkommandierender befohlen hätte, eine Schlacht zu liefern, ein Wirrwarr entstanden und eine Schlacht doch nicht geliefert wäre, und zwar deshalb nicht, weil alle höheren Kommandeure diese Position für unbrauchbar erachteten und in ihren Gesprächen nur die Frage erörterten, was sich nach dem zweifellosen Verlassen dieser Position ereignen werde. Wie konnten denn die Kommandeure ihre Truppen auf ein Schlachtfeld führen, das sie für ungeeignet hielten? Auch die Offiziere niedrigeren Ranges und selbst die Soldaten, die ja ebenfalls urteilen, glaubten, daß die Position schlecht sei, und konnten daher nicht mit Zuversicht in den Kampf gehen. Wenn Bennigsen auf der Verteidigung dieser Position bestand und andere sie noch diskutierten, so hatte dies keine sachliche Bedeutung mehr, sondern[427] diente nur als Vorwand zu Streit und Intrige. Das durchschaute Kutusow.

Bennigsen, der die Position ausgesucht hatte, betonte mit großer Heftigkeit seinen russischen Patriotismus (was Kutusow nicht ohne Stirnrunzeln anhören konnte) und bestand darauf, Moskau müsse verteidigt werden. Dem alten Kutusow war Bennigsens Absicht dabei sonnenklar: im Fall des Mißlingens der Verteidigung die Schuld auf Kutusow zu schieben, der die Truppen ohne Schlacht bis an die Sperlingsberge geführt habe; im Fall des Erfolges das Verdienst für sich in Anspruch zu nehmen; im Fall der Ablehnung sei nes Vorschlages sich von dem Verbrechen der Preisgabe Moskaus reinzuwaschen. Aber was jetzt den alten Mann beschäftigte, das war nicht diese Intrige, sondern eine einzige, furchtbare Frage, auf die er von niemand eine Antwort hörte. Er fragte sich jetzt nur: »Ist es wirklich meine Schuld, daß Napoleon bis Moskau gekommen ist, und wann habe ich den Fehler begangen? Wann war der entscheidende Augenblick? Gestern, als ich an Platow den Befehl zum Rückzug schickte, oder vorgestern abend, als ich mich nicht mehr wachhalten konnte und diesem Bennigsen befahl, die nötigen Anordnungen zu treffen? Oder schon früher? Aber wann, wann ist diese furchtbare Entscheidung gefallen? Moskau muß preisgegeben werden. Die Truppen müssen sich zurückziehen, und der Befehl dazu muß erteilt werden.« Diesen schrecklichen Befehl zu erteilen schien ihm gleichbedeutend mit der Niederlegung des Kommandos über die Armee. Und abgesehen davon, daß er die Macht liebte und an sie gewöhnt war (es reizte ihn die allgemeine Verehrung, die dem Fürsten Prosorowski gezollt worden war, unter dem er in der Türkei gestanden hatte), war er auch überzeugt, daß er zum Retter Rußlands prädestiniert und nur deswegen, gegen den Willen des Kaisers und auf den Wunsch des[428] Volkes, zum Oberkommandierenden erkoren war. Er war überzeugt, daß er allein unter diesen schwierigen Verhältnissen im stande war, sich an der Spitze der Armee zu behaupten, und daß er allein in der ganzen Welt ohne Schauder dem unbesiegbaren Napoleon gegenüberzustehen vermochte; und er erschrak bei dem Gedanken an den Befehl, den er nun geben mußte. Aber irgendeine Entscheidung mußte er treffen; er mußte diesen um ihn herum geführten Gesprächen, welche einen allzu freien Charakter anzunehmen begannen, ein Ende machen.

Er rief die höchsten Generale zu sich heran.

»Mein Kopf, mag er nun gut oder schlecht sein, kann nur von sich selbst Rat annehmen«, sagte er, stand von der Bank auf und fuhr nach Fili, wo seine übrigen Wagen hielten.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 425-429.
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