[523] Die Stadt selbst war unterdessen öde geworden. Auf den Straßen war kaum noch ein Mensch zu sehen. Die Haustore und Kaufläden waren sämtlich geschlossen; an einzelnen Stellen, wo sich Schenken befanden, ertönte vereinzeltes Schreien oder Gesang von Betrunkenen. Niemand fuhr auf den Straßen, und nur selten hörte man die Schritte von Fußgängern. In der Powarskaja-Straße war es völlig still und einsam. Auf dem großen Hof des Rostowschen Hauses lagen Heuüberbleibsel und Mist von den weggefahrenen Gespannen, und keine Menschenseele war zu sehen. Im Innern des Hauses, in welchem fast die ganze bewegliche Habe der Familie Rostow zurückgeblieben war, befanden sich zwei Menschen im großen Salon. Dies waren der Hausknecht Ignati und der Laufbursche Mischka, Wasiljewitschs Enkel, den man bei seinem Großvater in Moskau gelassen hatte. Mischka hatte das Klavier geöffnet und spielte auf diesem mit einem Finger. Der Hausknecht stand, die Arme in die Seiten stemmend und vergnügt lächelnd, vor dem großen Spiegel.
»Das kann ich mal fein! Nicht wahr, Onkelchen Ignati?« sagte[523] der Junge und begann auf einmal mit beiden Händen auf die Tasten zu schlagen.
»Ja, du bist ein Tausendsassa!« antwortete Ignati und wunderte sich gleichzeitig darüber, wie sein Gesicht im Spiegel immer mehr und mehr lächelte.
»So eine unverschämte Bande! Das muß ich sagen, so eine unverschämte Bande!« rief hinter ihnen eine Stimme; Mawra Kusminitschna war leise in den Salon getreten. »Steht so ein dickmäuliger Kerl da und fletscht die Zähne! Dazu seid ihr auch gerade da! Noch nirgends ist aufgeräumt, und Wasiljewitsch kann sich vor Müdigkeit kaum mehr auf den Beinen halten. Na wartet!«
Ignati hörte auf zu lächeln, schob seinen Gürtel zurecht und ging mit niedergeschlagenen Augen gehorsam aus dem Zimmer.
»Tantchen, ich werde nur ganz leise ...«, sagte der Junge.
»Ich werde es dir geben mit ›nur ganz leise‹, du Galgenstrick!« rief Mawra Kusminitschna und holte nach ihm mit der Hand aus. »Geh und mach für deinen Großvater den Samowar zurecht.«
Mawra Kusminitschna wischte den Staub ab, machte das Klavier zu, verließ mit einem schweren Seufzer das Zimmer und schloß die Tür zu.
Als sie auf den Hof hinauskam, überlegte sie, wohin sie jetzt gehen sollte: ob zu Wasiljewitsch in das Nebengebäude, um Tee zu trinken, oder in die Vorratsräume, um dort die Sachen der Herrschaft in Ordnung zu stellen.
Auf der stillen Straße ließen sich rasche Schritte hören. Die Schritte hielten am Pförtchen beim Torweg an; die Klinke klapperte unter einer Hand, die das Pförtchen zu öffnen versuchte.
Mawra Kusminitschna ging zu dem Pförtchen hin.
»Zu wem wünschen Sie?«[524]
»Zu dem Grafen; zum Grafen Ilja Andrejewitsch Rostow.«
»Wer sind Sie denn?«
»Ich bin Offizier. Ich möchte gern den Grafen sprechen«, sagte eine angenehme, russische Stimme, die offenbar einem Herrn aus gutem Stand angehörte.
Mawra Kusminitschna öffnete das Pförtchen. Auf den Hof trat ein etwa achtzehnjähriger Offizier mit einem runden Gesicht, dessen ganzer Schnitt mit dem Rostowschen eine große Ähnlichkeit aufwies.
»Sie sind abgereist, lieber Herr! Gestern nachmittag sind sie abgereist«, sagte Mawra Kusminitschna freundlich.
Der junge Mann, der im Pförtchen stand, schnalzte mit der Zunge, anscheinend unentschlossen, ob er eintreten sollte oder nicht.
»Ach, wie ärgerlich!« sagte er. »Wäre ich doch gestern ... Ach, wie schade!«
Unterdessen betrachtete Mawra Kusminitschna aufmerksam und teilnahmsvoll in dem Gesicht des jungen Mannes die ihr wohlbekannten Züge des Rostowschen Geschlechts sowie den zerrissenen Mantel und die schiefgetretenen Stiefel, die er trug.
»Was wünschten Sie denn von dem Grafen?« fragte sie.
»Ja nun ... was ist zu machen?« sagte der junge Mann mißmutig und griff nach dem Pförtchen, als beabsichtige er wieder wegzugehen.
Aber er blieb wieder unschlüssig stehen.
»Sehen Sie mal«, sagte er plötzlich, »ich bin ein Verwandter des Grafen, und er ist immer sehr gut gegen mich gewesen. Jetzt nun, wie Sie wohl sehen« (er warf mit einem gutmütigen, fröhlichen Lächeln einen Blick auf seinen Mantel und auf seine Stiefel), »bin ich ganz abgerissen, und Geld habe ich auch keines; da wollte ich den Grafen bitten ...«[525]
Mawra Kusminitschna ließ ihn nicht ausreden.
»Bitte, warten Sie ein Augenblickchen, lieber Herr; nur ein kurzes Augenblickchen!« sagte sie.
Und als der Offizier wieder die Hand von dem Pförtchen wegnahm, wandte Mawra Kusminitschna sich um und ging, so schnell sie mit ihren alten Beinen konnte, nach dem hinteren Teil des Hofes, wo sie im Nebengebäude wohnte.
Während Mawra Kusminitschna nach ihrem Zimmer lief, ging der Offizier mit gesenktem Kopf auf dem Hof auf und ab und betrachtete, leise lächelnd, seine zerrissenen Stiefel. »Wie schade, daß ich den Onkel nicht getroffen habe! Aber eine prächtige alte Frau ist das! Wo sie wohl hingelaufen sein mag? Und wie könnte ich wohl erfahren, durch welche Straßen ich auf dem nächsten Weg mein Regiment einholen kann, das jetzt wahrscheinlich schon nach der Rogoschskaja-Straße gelangt ist?« dachte unterdessen der junge Offizier. Da kam Mawra Kusminitschna mit schüchterner, aber zugleich entschlossener Miene um die Ecke herum wieder auf den Hof; in der Hand trug sie ein zusammengefaltetes kariertes Tüchelchen. Sie war noch ein paar Schritte von dem Offizier entfernt, da schlug sie das Tuch auseinander, holte eine weiße Fünfundzwanzigrubelnote daraus hervor und reichte sie eilig dem Offizier hin.
»Wenn Seine Erlaucht der Graf zu Hause wäre, so hätte er sicherlich als Verwandter ... Aber vielleicht darf ich jetzt ...«
Mawra Kusminitschna wurde verlegen und stockte. Aber der Offizier nahm ohne Ziererei und ohne Hast die Banknote hin und bedankte sich bei Mawra Kusminitschna.
»Wenn der Graf zu Hause wäre ...«, sagte diese noch einmal, immer in einem Ton, als ob sie um Entschuldigung bäte. »Christus sei mit Ihnen, lieber Herr! Gott behüte Sie!« Sie verbeugte sich und begleitete ihn bis zum Pförtchen.[526]
Der Offizier eilte lächelnd und den Kopf schüttelnd, wie wenn er über sich selbst lachte, fast im Trab die leeren Straßen hinunter, um sein Regiment bei der Jauski-Brücke einzuholen.
Mawra Kusminitschna aber stand noch lange mit feuchten Augen an dem geschlossenen Pförtchen, wiegte nachdenklich den Kopf hin und her, und ein warmes Gefühl mütterlicher Zärtlichkeit und Teilnahme für den ihr unbekannten jungen Offizier erfüllte ihr Herz.
Buchempfehlung
Stifters späte Erzählung ist stark autobiografisch geprägt. Anhand der Geschichte des jungen Malers Roderer, der in seiner fanatischen Arbeitswut sich vom Leben abwendet und erst durch die Liebe zu Susanna zu einem befriedigenden Dasein findet, parodiert Stifter seinen eigenen Umgang mit dem problematischen Verhältnis von Kunst und bürgerlicher Existenz. Ein heiterer, gelassener Text eines altersweisen Erzählers.
52 Seiten, 4.80 Euro