XXIII

[527] Aus einem noch nicht fertiggebauten Haus der Warwarka-Straße, in dessen Erdgeschoß sich eine Schenke befand, erscholl Geschrei und Gesang Betrunkener. In einem kleinen, schmutzigen Zimmer saßen auf Bänken um Tische herum etwa zehn Fabrikarbeiter. Sie waren sämtlich betrunken und von Schweiß bedeckt, hatten trübe Augen und sangen aus voller Kehle und mit weitgeöffnetem Mund ein Lied. Sie sangen unharmonisch, ohne daß sich einer um den andern kümmerte, mit Mühe und Anstrengung, augenscheinlich nicht etwa, weil sie große Lust zum Sinken gehabt hätten, sondern nur um zu zeigen, daß sie bummelten und betrunken waren. Einer von ihnen, ein großer, blonder Bursche in einem saubern, langen, blauen Rock, stand neben den Sitzenden. Sein Gesicht mit der feinen, geraden Nase wäre schön gewesen, wenn er nicht diese schmalen, eingezogenen, sich unaufhörlich bewegenden Lippen und diese trüben, finsteren, starren Augen gehabt hätte. Er stand neben den Sängern und schwenkte, offenbar sich irgend etwas Besonderes dabei denkend, seinen rechten bis an den Ellbogen durch Aufstreifen des Ärmeln nackten, weißen Arm feierlich und linkisch hin und her, wobei er die schmutzigen Finger in unnatürlicher Manier auseinanderspreizte. Der Ärmel an diesem Arm rutschte[527] fortwährend herunter, und der Bursche streifte ihn dann mit der linken Hand sorgsam wieder auf, als ob es eine besondere Wichtigkeit habe, daß dieser weiße, von Adern überzogene, umhergeschwenkte Arm unbedingt nackt sei. Mitten während des Singens erschollen im Flur und auf der Freitreppe heftige Scheltworte und Schläge. Der lange Bursche machte eine energische Bewegung mit dem Arm.

»Aufhören!« schrie er befehlend. »Da ist Schlägerei, Kinder!« Und indem er fortwährend seinen Ärmel aufstreifte, ging er auf die Freitreppe hinaus.

Die Fabrikarbeiter folgten ihm. Diese Leute, die an diesem Vormittag unter der Führung des langen Burschen in der Schenke tranken, hatten dem Schankwirt Leder aus der Fabrik gebracht, und dafür war ihnen Branntwein gegeben worden. Die Gesellen aus den benachbarten Schmieden hatten den fröhlichen Lärm gehört und geglaubt, die Schenke werde gewaltsam geplündert; daher wollten sie nun ebenfalls in das Lokal eindringen. Auf der Freitreppe war es zur Schlägerei gekommen.

Der Schankwirt prügelte sich in der Tür mit einem Schmied, und in dem Augenblick, als die Fabrikarbeiter herauskamen, riß sich der Schmied von dem Schankwirt los und fiel dabei mit dem Gesicht auf das Pflaster.

Ein andrer Schmied, der in die Tür eindringen wollte, warf sich mit der Brust gegen den Schankwirt.

Der Bursche mit dem aufgestreiften Ärmel schlug im Gehen dem Schmied, der sich in die Tür drängte, ins Gesicht und schrie wild.

»Kinder! Sie schlagen die Unsrigen!«

In diesem Augenblick erhob sich der erste Schmied von der Erde, strich mit den Fingern durch das Blut auf seinem zerschlagenen Gesicht und schrie mit weinerlicher Stimme:[528]

»Hilfe! Mörder ...! Sie schlagen einen Menschen tot! Brüder, helft!«

»Ach herrje, herrje, einen Menschen haben sie totgeschlagen!« kreischte ein Weib, das aus dem Tor des Nachbarhauses herauskam. Ein Haufe Menschen sammelte sich um den blutigen Schmied.

»Hast du noch nicht genug daran, die Leute beraubt und ihnen das Hemd vom Leib genommen zu haben«, sagte jemand, zu dem Schankwirt gewendet, »daß du auch noch einen Menschen totschlägst? Du Mörder!«

Der lange Bursche stand auf der Freitreppe und richtete seine trüben Augen bald nach dem Schankwirt, bald nach den Schmieden hin, wie wenn er überlegte, mit wem er sich jetzt schlagen solle.

»Du Mörder!« schrie er auf einmal den Schankwirt an. »Bindet ihn, Kinder!«

»Na ja, du wirst mich binden lassen! Einen Kerl wie mich!« schrie der Schankwirt und wehrte die auf ihn Eindringenden ab. Dann riß er sich die Mütze vom Kopf und warf sie auf die Erde. Und wie wenn diese Handlung irgendeine geheime, drohende Bedeutung hätte, blieben die Fabrikarbeiter, die den Schankwirt umringten, unschlüssig stehen.

»Ich weiß recht gut, was Vorschrift ist, lieber Freund! Ich gehe zur Polizei. Denkst du, ich gehe nicht hin? Mit Gewalt über andere Menschen herzufallen, das ist heutzutage niemandem erlaubt!« rief der Schankwirt und hob seine Mütze auf.

»Wollen hingehen, gut! Wollen hingehen, gut!« riefen einander der lange Bursche und der Schankwirt abwechselnd zu, und beide gingen zusammen die Straße entlang.

Der mit Blut befleckte Schmied ging neben ihnen her. Die[529] Fabrikarbeiter und allerlei unbeteiligtes Volk folgte ihnen redend und schreiend.

An der Ecke der Maroseika-Straße, bei einem großen Haus, dessen Fensterläden geschlossen waren und an dem das Aushängeschild eines Schuhmachermeisters angebracht war, standen etwa zwanzig Schuhmacher, magere, kraftlose Gestalten, mit niedergeschlagenem Gesichtsausdruck, in langen Kitteln oder zerrissenen Röcken.

»Er soll dem Volk Löhnung zahlen, wie es sich gehört!« sagte ein magerer Geselle mit dünnem Bart und finster zusammengezogenen Brauen. »Aber er hat uns das Blut ausgesogen, und damit soll nun die Sache abgetan sein. An der Nase hat er uns herumgeführt, uns zum besten gehalten, eine ganze Woche lang. Und jetzt, nachdem er uns in die größte Not gebracht hat, hat er selbst sich davongemacht.«

Als der redende Geselle den Volkshaufen und den blutbefleckten Mann sah, brach er ab, und alle Schuhmacher schlossen sich eilig und neugierig dem dahinziehenden Schwarm an.

»Wohin gehen denn die Leute?«

»Das ist doch klar; zur Obrigkeit gehen sie.«

»Haben denn die Unsrigen wirklich nicht gesiegt?«

»Was denkst du dir bloß! Hör nur, was die Leute sagen.«

Es folgten Fragen und Antworten. Der Schankwirt benutzte das Anwachsen des Menschenhaufens, löste sich von der Menge und kehrte nach seiner Schenke zurück.

Der lange Bursche bemerkte das Verschwinden seines Feindes, des Schankwirts, gar nicht; mit dem nackten Arm gestikulierend, hörte er nicht auf zu reden und lenkte dadurch die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Er war es, um den sich die Menge ganz besonders herumdrängte, in der Hoffnung, von ihm eine Aufklärung der sie beunruhigenden Zweifel zu erhalten.[530]

»Der wird uns zeigen, was Vorschrift ist und was Gesetz ist! Dazu ist die Obrigkeit eingesetzt. Habe ich nicht recht, rechtgläubige Brüder?« sagte der lange Bursche mit leisem Lächeln. »Er denkt wohl, es ist keine Obrigkeit mehr da? Ohne Obrigkeit geht es nicht. Da würden viele zu rauben anfangen.«

In der Menge redeten die Leute bunt durcheinander: »Wozu spricht der von solcher Lappalie ...! Wie ist es? Also wird Moskau wirklich aufgegeben werden ...! Ach, das haben sie dir aus Spaß gesagt, und du hast es geglaubt. Unsere Truppen, die herkommen, sind eine gewaltige Menge. Darum haben sie den Feind bis hierher gelassen ... Dazu ist die Obrigkeit da ... Hört nur, was das Volk sagt!« Bei diesen letzten Worten wies man auf den langen Burschen hin.

An der Mauer von Kitaigorod, der Innenstadt, umgab ein anderer, kleinerer Trupp Menschen einen Mann, der einen Friesmantel trug und ein Blatt Papier in der Hand hielt.

»Ein Erlaß! Ein Erlaß wird vorgelesen! Ein Erlaß wird vorgelesen!« wurde bei dem großen Schwarm gerufen, und das Volk strömte zum Vorleser hin.

Der Mann im Friesmantel las ein Flugblatt vom 31. August vor. Als die Menge ihn umringte, schien er verlegen zu werden; aber auf die Forderung des langen Burschen hin, der sich bis zu ihm durchgedrängt hatte, begann er, mit einem leichten Zittern in der Stimme, das Flugblatt noch einmal von Anfang an vorzulesen.

»Ich werde morgen früh zu dem durchlauchtigen Fürsten fahren«, las er (»zu dem Durchlauchtigen!« wiederholte der lange Bursche feierlich, wobei sein Mund lächelte, während die Brauen sich zusammenzogen), »um mich mit ihm zu besprechen, mit ihm gemeinsam zu handeln und unsere Truppen bei der Vernichtung der schändlichen Feinde zu unterstützen; auch wir[531] werden uns dabei beteiligen, ihnen die Jacke ...«, fuhr der Vorleser fort und hielt einen Augenblick inne (»Habt ihr es gehört?« rief der Bursche triumphierend. »Der wird ihnen schon ihren Lohn geben ...«), »die Jacke vollzuhauen und diese ungebetenen Gäste zum Teufel zu schicken. Ich werde um Mittag zurückkommen, und dann wollen wir ans Werk gehen; wir werden uns dranmachen, es den Bösewichtern gehörig besorgen und die Sache ein für allemal erledigen.«

Diese letzten Worte wurden von dem Vorleser unter vollständigem Stillschweigen gelesen. Der lange Bursche ließ traurig den Kopf hängen. Es war klar, daß diese letzten Worte bei niemand Anklang fanden. Namentlich die Worte: »Ich werde um Mittag zurückkommen«, erregten offenbar sogar ein starkes Mißvergnügen bei dem Vorleser und bei den Zuhörern. Das Denken des Volkes war auf einen hohen Ton gestimmt; dies aber war doch gar zu einfach und mit einer unangebrachten Verständlichkeit gesagt; das war von der Art, wie es ein jeder von ihnen auch hätte sagen können; so durfte mithin nicht ein Erlaß reden, der von der höchsten Obrigkeit ausging.

Alle standen in gedrücktem Schweigen da. Der lange Bursche arbeitete mit den Lippen und wiegte sich hin und her.

»Sollen wir den fragen ...? Ist er das selbst ...? Ja, der wird auch gerade auf unsere Bitte hören ...! Was ist dabei ...? Er wird es uns schon sagen ...«, hörte man auf einmal in den hintersten Reihen der Volksmenge reden, und die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich dem Wagen des Polizeimeisters zu, der, von zwei Dragonern zu Pferd eskortiert, auf den Platz gefahren kam.

Der Polizeimeister war an diesem Morgen auf Befehl des Grafen ausgefahren, um die Barken auf der Moskwa in Brand zu stecken, und hatte anläßlich dieses Auftrages von den Eigentümern[532] eine große Summe Geldes eingeheimst, die sich augenblicklich in seiner Tasche befand; als er den Volkshaufen sah, der sich auf ihn zu bewegte, ließ er den Kutscher anhalten.

»Was ist das für eine Zusammenrottung?« schrie er die vordersten an, die sich einzeln und schüchtern seinem Wagen näherten.

»Was ist das für eine Zusammenrottung? frage ich euch«, wiederholte der Polizeimeister, da er keine Antwort erhalten hatte.

»Diese Leute, Euer Wohlgeboren«, sagte der Kanzlist im Friesmantel, »diese Leute, Euer Wohlgeboren, wünschten gemäß der Aufforderung Seiner Erlaucht des Grafen dem Vaterland zu dienen, ohne ihr Leben zu schonen; es ist keineswegs ein Aufruhr, wie ihn Seine Erlaucht der Graf verboten hat ...«

»Der Graf ist nicht weggefahren, er ist hier; und was euch betrifft, so werden die nötigen Anordnungen getroffen werden«, sagte der Polizeimeister. »Fahr zu!« sagte er zum Kutscher.

Die Menge blieb stehen, drängte sich um diejenigen, die die Worte des Polizeimeisters gehört hatten, und blickte dem davonfahrenden Wagen nach.

Der Polizeimeister sah sich in diesem Augenblick ängstlich um, sagte seinem Kutscher etwas, und die Pferde griffen noch schneller aus.

»Wir sind betrogen, Kinder! Er soll uns zum Grafen selbst hinführen!« rief der lange Bursche.

»Laßt ihn nicht weg, Kinder! Der Graf soll uns Rechenschaft geben! Haltet ihn auf!« riefen viele Stimmen, und das Volk rannte dem Wagen nach.

Die Menge gelangte hinter dem Polizeimeister her mit lärmendem Gerede nach der Lubjanka-Straße.

»Na ja, die vornehmen Herren und die Kaufleute sind weggefahren,[533] und wir müssen dafür zugrunde gehen. Sind wir denn Hunde? Wie?« Dergleichen wurde immer häufiger in der Menge gerufen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 527-534.
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