[429] In der geräumigen, sogenannten guten Stube des Bauern Andrei Sawostjanow versammelte sich um zwei Uhr der Kriegsrat. Eine Anzahl von Bauern sowie die Weiber und Kinder der großen Bauernfamilie hatten sich in der geringeren Stube, die auf der andern Seite des Flures lag, zusammengedrängt. Nur eine Enkelin Andreis, die sechsjährige Malascha, die der Durchlauchtige beim Teetrinken freundlich gestreichelt und mit einem Stück Zucker beschenkt hatte, war in der großen Stube auf dem Ofen geblieben. Schüchtern und vergnügt betrachtete Malascha vom Ofen aus die Gesichter, Uniformen und Ordenskreuze der Generale, die einer nach dem andern in die Stube traten und sich in der vorderen Ecke auf den breiten Bänken unter den Heiligenbildern niederließen. Das Großväterchen selbst, wie Malascha für sich im stillen Kutusow nannte, saß getrennt von ihnen in einem dunklen Winkel hinter dem Ofen. Tief in seinen Feldstuhl hineingesunken,[429] saß er da, räusperte sich unaufhörlich und hatte fortwährend damit zu tun, seinen Rockkragen in Ordnung zu bringen, der, obwohl aufgeknöpft, ihn doch am Hals zu drücken schien. Die Eintreffenden traten einer nach dem andern an den Feldmarschall heran; einigen drückte er die Hand, anderen nickte er zu. Der Adjutant Kaisarow wollte den Vorhang an dem Fenster Kutusow gegenüber aufziehen; aber Kutusow winkte ihm ärgerlich mit der Hand ab, und Kaisarow begriff, daß der Durchlauchtige sein Gesicht nicht sehen lassen wollte.
Um den Bauerntisch aus Tannenholz, auf welchem Landkarten, Pläne, Bleistifte und Schreibpapier lagen, hatten sich so viele Personen versammelt, daß die Offiziersburschen noch eine Bank hereinbringen und an den Tisch stellen mußten. Auf diese Bank setzten sich von den Angekommenen: Jermolow, Kaisarow und Toll. Gerade unter den Heiligenbildern saß auf dem vornehmsten Platz, mit dem Georgskreuz am Hals, mit blassem, kränklichem Gesicht und mit seiner hohen Stirn, die in den Kahlkopf überging, Barclay de Tolly. Er quälte sich schon seit dem vorhergehenden Tag mit einem Fieberanfall herum und litt gerade jetzt an heftigem Schüttelfrost. Neben ihm saß Uwarow und teilte ihm mit leiser Stimme (sie sprachen alle in dieser Weise) unter lebhaften Gestikulationen etwas mit. Der kleine, rundliche Dochturow hörte mit hinaufgezogenen Brauen, die Hände über dem Bauch gefaltet, aufmerksam zu. Auf der andern Seite saß, den breiten Kopf mit den kühn geschnittenen Zügen und den blitzenden Augen auf den Arm stützend, Graf Ostermann-Tolstoi und schien ganz in seine Gedanken versunken zu sein. Rajewski drehte, mit einem Ausdruck von Ungeduld, seine schwarzen Haare an den Schläfen mit einer ihm geläufigen Fingerbewegung zu Ringeln und blickte bald nach Kutusow, bald nach der Eingangstür hin. Auf dem energischen, hübschen, gutmütigen[430] Gesicht Konownizyns glänzte ein freundliches, schlaues Lächeln. Er hatte Malaschas Blick aufgefangen und machte ihr nun mit den Augen Zeichen, über die die Kleine lächeln mußte.
Alle warteten auf Bennigsen, der unter dem Vorwand einer erneuten Besichtigung der Position erst noch sein opulentes Diner beendete. Man wartete von vier bis sechs auf ihn und trat während dieser ganzen Zeit nicht in die Beratung ein, sondern führte nur mit leiser Stimme Gespräche über fremdartige, nebensächliche Dinge.
Erst als Bennigsen in die Stube trat, kam Kutusow aus seiner Ecke heraus und rückte an den Tisch heran, jedoch nur so weit, daß sein Gesicht nicht von den auf dem Tisch stehenden Kerzen beleuchtet wurde.
Bennigsen eröffnete die Beratung mit der Frage: »Sollen wir die alte, heilige Hauptstadt Rußlands ohne Kampf aufgeben oder sie verteidigen?« Ein langes, allgemeines Stillschweigen folgte. Alle Gesichter waren finster geworden, und in der Stille war nur Kutusows ärgerliches Räuspern und Husten zu hören. Die Augen aller blickten auf ihn hin. Auch Malascha richtete ihre Blicke auf das Großväterchen. Sie war ihm am nächsten und sah, wie sein Gesicht sich mit Runzeln bedeckte: es sah aus, als ob er anfangen wollte zu weinen. Aber dies dauerte nicht lange.
»Die alte, heilige Hauptstadt Rußlands!« begann er plötzlich, indem er in ärgerlichem Ton Bennigsens Worte wiederholte und dadurch auf den falschen Beiklang dieser Worte hinwies. »Gestatten mir Euer Erlaucht, Ihnen zu sagen, daß diese Frage für einen Russen keinen Sinn hat.« (Er warf sich mit seinem schweren Körper nach vorn.) »Eine solche Frage darf man nicht stellen, und eine solche Frage hat keinen Sinn. Die Frage, um derentwillen ich diese Herren gebeten habe zusammenzukommen, ist eine rein militärische. Die Frage ist diese: Die Rettung Rußlands beruht[431] auf der Armee; ist es nun vorteilhafter, den Verlust der Armee und Moskaus durch Annahme einer Schlacht zu riskieren oder Moskau ohne Kampf preiszugeben? Das ist die Frage, über die ich Ihre Meinung hören möchte.« (Er ließ sich gegen die Lehne des Sessels zurücksinken.)
Die Debatte begann. Bennigsen gab sein Spiel noch nicht verloren. Indem er die Ansicht Barclays und anderer von der Unmöglichkeit, eine Verteidigungsschlacht bei Fili anzunehmen, als richtig gelten ließ, schlug er, von russischem Patriotismus und von Liebe zu Moskau durchdrungen, vor, die Truppen in der Nacht von der rechten nach der linken Flanke hinüberzuführen und am andern Tag gegen den rechten Flügel der Franzosen zu kämpfen. Die Meinungen gingen auseinander; es wurde für und gegen diesen Vorschlag gestritten. Jermolow, Dochturow und Rajewski stimmten dem Plan Bennigsens bei. Ob sich diese Generale nun durch das Gefühl leiten ließen, daß vor der Preisgabe der Hauptstadt ein Opfer gebracht werden müsse, oder durch andere, persönliche Erwägungen, das bleibe dahingestellt; jedenfalls schienen sie nicht zu begreifen, daß der vorliegende Ratschlag an dem unvermeidlichen Gang der Dinge nichts ändern konnte und daß in Wirklichkeit Moskau schon jetzt preisgegeben war. Die übrigen Generale begriffen dies und redeten, indem sie die Frage nach dem Schicksal Moskaus beiseite ließen, über die Richtung, die das Heer bei seinem Rückzug einschlagen müsse. Malascha, die unverwandten Blickes die Dinge beobachtete, die da vor ihren Augen vorgingen, faßte die Bedeutung des Kriegsrates anders auf. Es schien ihr, daß es sich nur um einen persönlichen Streit zwischen dem Großväterchen und dem Langrock handelte, wie sie Bennigsen nannte. Sie sah, daß diese beiden sich jedesmal ärgerten, wenn sie miteinander sprachen, und nahm in ihrem Herzen für das Großväterchen Partei. Mitten in dem[432] Gespräch nahm sie wahr, daß das Großväterchen dem andern einen schnellen, listigen Blick zuwarf, und bemerkte gleich darauf zu ihrer Freude, daß das Großväterchen, durch das, was er dem Langrock gesagt hatte, diesem einen gehörigen Hieb versetzt haben mußte; denn dieser wurde auf einmal ganz rot und ging zornig in der Stube auf und ab. Was so auf Bennigsen gewirkt hatte, war das Urteil gewesen, das Kutusow in ruhigem Ton und mit leiser Stimme über die Vorteile und Nachteile des Bennigsenschen Planes ausgesprochen hatte, also über den Plan, die Truppen in der Nacht von der rechten nach der linken Flanke hinüberzuführen zum Zweck eines Angriffs auf den rechten Flügel der Franzosen.
»Ich, meine Herren«, hatte Kutusow zum Schluß gesagt, »kann den Plan des Grafen nicht billigen. Veränderungen der Stellung der Truppen in geringer Entfernung vom Feind sind stets gefährlich, und durch die Kriegsgeschichte wird diese meine Anschauung bestätigt. So zum Beispiel ...« (Kutusow schien beim Suchen nach einem Beispiel nachzudenken und sah Bennigsen mit hellem, harmlosem Blick an.) »Ja, nehmen wir zum Beispiel die Schlacht bei Friedland, die der Graf wohl noch gut im Gedächtnis hat; diese Schlacht hatte nur deshalb einen ... einen nicht ganz glücklichen Ausgang, weil unsere Truppen in zu geringem Abstand vom Feind ihre Stellung änderten ...«
Diesen Worten folgte ein Stillschweigen, das etwa eine Minute dauerte, aber allen sehr lang erschien.
Die Debatte begann von neuem; aber es traten oft Pausen ein, und es machte sich das Gefühl geltend, daß man eigentlich nichts mehr zu sagen habe.
Als wieder einmal eine solche Pause eintrat, seufzte Kutusow schwer auf, wie wenn er sich anschickte zu reden. Alle blickten zu ihm hin.[433]
»Nun wohl, meine Herren! Ich sehe, daß ich derjenige sein werde, der die zerschlagenen Töpfe bezahlen muß«, sagte er. Und sich langsam erhebend trat er an den Tisch. »Meine Herren, ich habe Ihre Meinungen gehört. Einige von Ihnen werden mit mir nicht einverstanden sein. Aber ich ...« Er hielt inne. »Kraft der Gewalt, die mein Kaiser und das Vaterland in meine Hände gelegt haben, gebe ich den Befehl zum Rückzug.«
Gleich darauf gingen die Generale mit jener feierlichen, schweigsamen Zurückhaltung auseinander, mit der man sich nach einem Begräbnis voneinander trennt.
Einige von ihnen machten mit gedämpfter Stimme und ganz anderer Tonhöhe, als diejenige war, mit der sie bei der Beratung gesprochen hatten, dem Oberkommandierenden noch diese und jene Mitteilungen.
Malascha, die schon längst von den Ihrigen zum Abendessen erwartet wurde, stieg vorsichtig rückwärts von ihrer Lagerstätte herab, indem sie sich mit den nackten Füßchen an die Absätze des Ofens an klammerte; dann wand sie sich zwischen den Beinen der Generale hindurch und schlüpfte aus der Tür.
Nachdem Kutusow die Generale entlassen hatte, saß er lange, den Kopf in die Hand gestützt, am Tisch und überdachte immer ein und dieselbe furchtbare Frage:
»Wann, wann hat denn die Waage sich so geneigt, daß Moskaus Preisgabe notwendig wurde? Wann ist dasjenige geschehen, wodurch diese Frage entschieden wurde, und wer ist schuld daran?«
»Das hatte ich nicht erwartet!« sagte er zu dem Adjutanten Schneider, der (es war schon spät in der Nacht) zu ihm in die Stube trat. »Das hatte ich nicht erwartet! Das hatte ich nicht gedacht!«
»Euer Durchlaucht sollten sich Ruhe gönnen!« bemerkte Schneider.[434]
»Aber trotzdem! Sie werden doch noch Pferdefleisch fressen, wie die Türken!« rief Kutusow, ohne zu antworten, und schlug mit seiner fleischigen Faust auf den Tisch. »Das werden sie tun, wenn nur ...«
Buchempfehlung
Die letzte zu Lebzeiten des Autors, der 1835 starb, erschienene Lyriksammlung.
242 Seiten, 12.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro