I

[99] Nachdem Pierre jene Auseinandersetzung mit seiner Frau gehabt hatte, fuhr er nach Petersburg. Auf der Station in Torschok waren keine Pferde zu haben, oder der Postmeister wollte ihm keine geben. Pierre mußte warten. Ohne sich auszukleiden, streckte er sich auf ein ledernes Sofa, vor dem ein runder Tisch stand, legte seine großen, in warmen Stiefeln steckenden Füße auf den Tisch und überließ sich seinen Gedanken.

»Befehlen Sie, daß ich die Koffer hereinbringe? Soll ich das Bett aufschlagen? Befehlen Sie Tee?« fragte der Kammerdiener.

Pierre antwortete nicht, weil er nichts hörte und nichts sah. Er war schon auf der vorigen Station ins Nachdenken hineingeraten und dachte nun immer noch an denselben Gegenstand, an einen so wichtigen Gegenstand, daß er für das, was um ihn herum vorging, gar keine Aufmerksamkeit übrig hatte. Ob er früher oder später nach Petersburg kam, und ob er auf dieser Station einen geeigneten Platz finden werde, um sich zu erholen, oder nicht, das interessierte ihn nicht im geringsten; ja, es war ihm sogar im Vergleich mit den wichtigen Gedanken, die ihn jetzt beschäftigten, ganz gleichgültig, ob er auf dieser Station ein paar Stunden oder sein ganzes Leben werde zubringen müssen.

Der Postmeister, die Frau des Postmeisters, der Kammerdiener und eine Frau, die mit Produkten der Industrie von Torschok, Posamentierwaren und dergleichen, handelte, kamen abwechselnd zu ihm ins Zimmer und boten ihm ihre Dienste an. Ohne die Lage seiner hochgehobenen Beine zu ändern, sah Pierre diese Menschen durch seine Brille an und begriff nicht, worauf[99] ihr Verlangen gerichtet sein konnte, und wie sie alle überhaupt leben konnten, ohne über die Fragen ins klare gekommen zu sein, die ihn beschäftigten. Es beschäftigten ihn aber immer ein und dieselben Fragen gleich von dem Tag an, als er nach dem Duell aus Sokolniki zurückgekehrt war und die erste qualvolle, schlaflose Nacht verbracht hatte; jetzt aber, bei dem Alleinsein auf der Reise, hielten sie ihn mit ganz besonderer Gewalt in ihrem Bann. Und wenn er auch an irgendwelche anderen Dinge zu denken versuchte, er kehrte doch immer zu diesen selben Fragen zurück, die zu lösen er nicht imstande war, und die er doch, wie unter einem Zwang stehend, nicht umhin konnte sich fortwährend vorzulegen. Es war, als ob in seinem Kopf jene Hauptschraube, die seinem ganzen Leben den Halt gab, überdreht worden wäre. Die Schraube ging nicht weiter hinein, sie ging auch nicht heraus, sondern sie drehte sich, ohne etwas zu fassen, immer in derselben Windung herum, und doch mußte, mußte er sie immerzu herumdrehen.

Der Postmeister kam herein und bat demütig, Seine Erlaucht möge doch nur noch zwei Stündchen warten; nach Ablauf derselben würde er Seiner Erlaucht nötigenfalls Kurierpferde beschaffen, möge für ihn selbst daraus entstehen, was da wolle! Der Postmeister log offenbar und wollte nur von dem Reisenden eine Zuzahlung erlangen.

»Ist dieses Verfahren schlecht oder gut?« fragte sich Pierre. »Für mich ist es gut; für einen andern Reisenden ist es schlecht, und für den Postmeister selbst ist es ein Ding der Notwendigkeit, weil es ihm sonst an den Existenzmitteln mangeln würde. Er erzählte, ein Offizier habe ihn deswegen durchgeprügelt. Nun, der Offizier hat ihn deswegen durchgeprügelt, weil er schnell weiterreisen wollte; und ich habe auf Dolochow deswegen geschossen, weil ich mich für beleidigt hielt; und Ludwig den Sechzehnten[100] haben sie hingerichtet, weil sie ihn für einen Verbrecher hielten; und ein Jahr darauf wurden diejenigen getötet, die ihn hingerichtet hatten, auch mit irgendeiner Begründung. Was ist schlecht? Was ist gut? Was muß man lieben, was hassen? Zu welchem Zweck soll man leben, und was bin ich eigentlich? Was ist das Leben? Was ist der Tod? Was ist es für eine Kraft, von der alles regiert wird?« So fragte er sich.

Und es gab auf keine dieser Fragen eine Antwort, außer einer unlogischen Antwort, die eigentlich gar keine Antwort auf diese Fragen war. Diese Antwort lautete: »Wenn du stirbst, dann haben alle diese Fragen ein Ende. Wenn du stirbst, so wirst du entweder alles erfahren, oder du wirst nicht mehr fragen.« Aber auch das Sterben selbst war etwas so Furchtbares.

Die Händlerin aus Torschok bot ihm mit winselnder Stimme ihre Ware an, namentlich ziegenlederne Pantoffeln. »Ich habe viele hundert Rubel, mit denen ich nichts anzufangen weiß, und sie steht im zerrissenen Pelz da und blickt mich schüchtern an«, dachte Pierre. »Wozu möchte sie denn aber Geld haben? Als ob das Geld auch nur im geringsten zu ihrem Glück und zu ihrem Seelenfrieden beitragen könnte! Kann denn irgend etwas in der Welt bewirken, daß wir, sie und ich, der Gewalt des Bösen und des Todes minder unterworfen sind? Des Todes, der allem ein Ende macht, und der mit Sicherheit heute oder morgen kommen wird, das heißt im Vergleich mit der Ewigkeit: im nächsten Augenblick.« Und er drückte wieder auf die Schraube, die nicht faßte, und die Schraube drehte sich immer in der gleichen Weise auf demselben Fleck.

Sein Diener reichte ihm ein bis zur Hälfte aufgeschnittenes Buch, einen Roman in Briefen, von Madame Souza. Er begann von den Leiden und dem tugendhaften Kampf einer gewissen Amélie de Mansfeld zu lesen. »Aber warum kämpfte sie denn[101] gegen ihren Verführer«, dachte er, »wenn sie ihn doch liebte? Gott konnte doch nicht in ihre Seele einen Trieb hineingelegt haben, der seinem Willen zuwiderlief. Meine frühere Frau hat nicht gekämpft, und vielleicht hat sie darin recht gehandelt.« – »Keine Wahrheit ist gefunden«, sagte sich Pierre wieder, »keine Wahrheit ist erforscht. Das einzige, was wir wissen können, ist, daß wir nichts wissen. Und das ist nun die höchste Stufe der menschlichen Weisheit!«

Alles in seinem eigenen Innern und um ihn herum erschien ihm wirr, sinnlos und ekelhaft. Aber gerade in diesem Ekel gegen alles, was ihn umgab, fand Pierre einen eigenartigen, aufregenden Genuß.

»Ich bitte Euer Erlaucht untertänigst, für diesen Herrn ein klein wenig Platz zu machen«, sagte der Postmeister, der ins Zimmer trat und einen andern Reisenden mit sich hereinführte, der ebenfalls durch den Mangel an Pferden zu einem unfreiwilligen Aufenthalt genötigt war.

Dieser Reisende war ein untersetzter, breitschultriger, alter Mann, mit gelblicher Hautfarbe, vielen Runzeln und mit grauen, überhängenden Brauen über blitzenden Augen von unbestimmtem Grau.

Pierre nahm die Füße vom Tisch herunter, stand auf und legte sich auf das Bett, das der Kammerdiener für ihn aufgeschlagen hatte; ab und zu warf er einen Blick nach dem neuen Ankömmling hin, der mit müder, finsterer Miene, ohne nach Pierre hinzusehen, unter Beihilfe eines Dieners sich schwerfällig auskleidete und dann einen abgetragenen, mit Nanking überzogenen Schafspelz anlegte und Filzstiefel auf die mageren, knochigen Beine zog. So setzte er sich auf das Sofa, legte seinen sehr großen, in den Schläfen breiten, kurzgeschorenen Kopf gegen die Rücklehne und blickte nun Besuchow an. Der ernste, kluge, durchdringende[102] Ausdruck dieses Blickes überraschte Pierre. Es wurde in ihm der Wunsch rege, mit dem Fremden in ein Gespräch zu kommen; aber als er sich eben mit einer Frage nach dem Weg an ihn wenden wollte, schloß dieser bereits die Augen, faltete die runzligen, alten Hände (an einem Finger der einen Hand steckte ein großer gußeiserner Ring mit der Darstellung einer Alraunwurzel) und blieb nun in dieser Haltung sitzen, ohne sich zu rühren, entweder um sich zu erholen, oder, wie es Pierre vorkam, in ruhiges, tiefes Nachdenken versunken. Der Diener des Reisenden war ebenfalls ein ganz mit Runzeln überdeckter alter Mann von gelblicher Hautfarbe, ohne allen Bart, und zwar hatte er diesen offenbar nicht abrasiert, sondern es war ihm nie einer gewachsen. Behende packte der alte Diener ein Reisekästchen aus, machte den Teetisch zurecht und brachte einen mit siedendem Wasser gefüllten Samowar herein. Als alles fertig war, öffnete der Reisende die Augen, rückte an den Tisch heran und goß sich ein Glas Tee ein; ein anderes goß er für den bartlosen Diener ein und reichte es ihm hin. Pierre fühlte eine gewisse Unruhe und ein Verlangen, ja einen unwiderstehlichen Drang, mit diesem Reisenden ein Gespräch anzuknüpfen.

Der Diener brachte sein geleertes, umgestülptes Glas sowie das ihm gegebene Stück Zucker, von dem er nur ein wenig abgebissen hatte, wieder zurück und fragte seinen Herrn, ob er noch etwas wünsche.

»Nein«, antwortete der Reisende. »Gib mir das Buch.«

Der Diener reichte ihm ein Buch, welches Pierre nach seinem Äußeren für ein religiöses hielt, und der Reisende vertiefte sich in die Lektüre desselben. Pierre betrachtete ihn. Auf einmal machte der Reisende, nachdem er ein Lesezeichen hineingelegt hatte, sein Buch wieder zu und legte es beiseite; dann schloß er von neuem die Augen, lehnte sich auf dem Sofa zurück und saß[103] in derselben Haltung da wie vorher. Pierre sah ihn an und hatte nicht Zeit, wieder fortzusehen, als der Alte plötzlich die Augen öffnete und seinen festen, ernsten Blick gerade auf Pierres Gesicht heftete.

Pierre fühlte sich verlegen und wollte diesem Blick ausweichen; aber die glänzenden Augen des alten Mannes übten auf ihn eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 99-104.
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