III

[274] Prinzessin Marja hatte ihre Abreise aufgeschoben. Sonja und der Graf versuchten, Natascha abzulösen; aber dies war ihnen nicht möglich. Sie sahen, daß Natascha die einzige war, die die Mutter vor wahnsinniger Verzweiflung bewahren konnte. Drei Wochen lang wohnte Natascha mit ihrer Mutter zusammen, ohne sie je zu verlassen; sie schlief auf einem Lehnstuhl in ihrem Zimmer, gab ihr zu trinken und zu essen und redete fortwährend[274] mit ihr; sie redete, weil schon allein der zärtliche, liebkosende Klang ihrer Stimme für die Gräfin etwas Beruhigendes hatte.

Die seelische Wunde der Mutter konnte nicht heilen. Petjas Tod hatte ihr die Hälfte ihrer Lebenskraft geraubt. Als sie die Nachricht von Petjas Tod empfangen hatte, war sie eine frische, rüstige Fünfzigerin gewesen; einen Monat darauf trat sie aus ihrem Zimmer als eine fast abgestorbene Greisin, die am Leben keinen Anteil mehr nahm. Aber durch dieselbe Wunde, die der Gräfin die halbe Lebenskraft entrissen hatte, durch diese neue Wunde war Natascha wieder zum Leben erweckt worden.

Mit einer seelischen Wunde, die von einer Verletzung sozusagen des geistigen Leibes herrührt, ist es dieselbe Sache wie mit einer körperlichen Wunde. So sonderbar es auch scheinen mag: nachdem die Wunde gleichsam in der Tiefe der Seele zu bluten aufgehört hat und ihre Ränder sich geschlossen haben, heilt sie, wie eine körperliche, allein durch die von innen hervordrängende Lebenskraft.

Ebenso heilte Nataschas Wunde. Sie hatte gemeint, ihr Leben sei abgeschlossen. Aber plötzlich zeigte ihr die Liebe zur Mutter, daß der Kern ihres Lebens, die Liebe, in ihr noch lebendig war. Die Liebe war wieder erwacht, und mit ihr auch das Leben.

Die letzten Tage des Fürsten Andrei hatten um Natascha und Prinzessin Marja ein Band geschlungen. Das neue Unglück brachte sie einander noch näher. Prinzessin Marja hatte ihre Abreise aufgeschoben und in den letzten drei Wochen Natascha wie ein krankes Kind gewartet und gepflegt. Die letzten Wochen, welche Natascha im Zimmer der Mutter verbracht hatte, hatten ihre physischen Kräfte arg mitgenommen.

Eines Tages bemerkte Prinzessin Marja um die Mittagszeit, daß Natascha in einem Fieberschauer zitterte; sie nahm sie mit sich auf ihr Zimmer und veranlaßte sie, sich dort auf ihr Bett zu[275] legen. Natascha legte sich auch hin; aber als Prinzessin Marja die Vorhänge heruntergelassen hatte und nun hinausgehen wollte, rief Natascha sie zu sich heran.

»Ich mag nicht schlafen, Marja; setz dich doch ein Weilchen zu mir.«

»Du bist müde; versuche nur zu schlafen.«

»Nein, nein. Warum hast du mich hierhergebracht? Sie wird nach mir fragen.«

»Es geht ihr ja doch bedeutend besser. Sie hat heute so lieb und gut gesprochen«, sagte Prinzessin Marja.

Natascha lag auf dem Bett und betrachtete in dem Halbdunkel des Zimmers das Gesicht der Prinzessin.

»Hat sie Ähnlichkeit mit ihm?« dachte Natascha. »Ja, sie hat mit ihm Ähnlichkeit und auch wieder nicht. Aber sie ist ein besonderes, fremdes, ganz neuartiges, mir unbekanntes Wesen. Und sie hat mich gern. Wie mag es nur in ihrem Herzen aussehen? In ihrem Herzen wohnt gewiß nur Gutes. Aber wie mag sie über mich denken? Wie mag sie mich beurteilen? Ja, sie ist ein herrliches Wesen!«

»Marja«, sagte sie schüchtern und zog deren Hand zu sich heran. »Marja, halte mich nicht für schlecht. Nein? Marja, Täubchen! Wie lieb ich dich habe! Wir wollen gute Freundinnen sein, recht gute Freundinnen.«

Und Natascha umarmte Prinzessin Marja und bedeckte ihre Hände und ihr Gesicht mit Küssen. Prinzessin Marja fühlte sich durch diesen Gefühlsausbruch Nataschas beschämt und beglückt.

Von diesem Tag an bildete sich zwischen Prinzessin Marja und Natascha jene leidenschaftliche, zärtliche Freundschaft heraus, wie sie nur zwischen Frauen vorkommt. Sie küßten sich fortwährend, wechselten zärtliche Worte miteinander und verbrachten die meiste Zeit zusammen. Ging die eine hinaus, so wurde die andere[276] unruhig und beeilte sich, sich ihr wieder zuzugesellen. Sie befanden sich beide untereinander in größerem Einklang, als jede einzelne mit sich selbst. Das Gefühl, das zwischen ihnen bestand, war stärker als bloße Freundschaft; eine jede von ihnen fühlte geradezu, daß sie eigentlich nur bei Anwesenheit der andern wahrhaft leben könne.

Manchmal schwiegen sie ganze Stunden lang; machmal begannen sie, wenn sie schon in den Betten lagen, noch miteinander zu reden und redeten so bis zum Morgen. Sie sprachen größtenteils von der fernen Vergangenheit. Prinzessin Marja erzählte von ihrer Kindheit, von ihrer Mutter, ihrem Vater, von ihrer Gedankenwelt; und Natascha, die sich früher mit ruhiger Verständnislosigkeit von diesem Leben der Ergebung und Demut und von der Poesie christlicher Selbstverleugnung abgewandt hatte, lernte jetzt, wo sie sich durch das Band der Liebe mit Prinzessin Marja verknüpft fühlte, auch die Vergangenheit der Prinzessin Marja lieben und diese ihr vorher unverständliche Seite des Lebens verstehen. Sie beabsichtigte nicht, Demut und Selbstverleugnung ihrem eigenen Charakter beizugesellen, da sie andere Freuden zu suchen gewohnt war; aber sie begriff und liebte nun an andern diese ihr bisher unverständliche Tugend. Und auch der Prinzessin Marja erschloß sich, wenn sie Nataschas Erzählungen von ihrer Kindheit und ersten Mädchenzeit anhörte, eine ihr bisher unverständliche Seite des Lebens, der Glaube an das Leben und an den Genuß des Lebens.

Wie früher, sprachen sie auch jetzt nie von »ihm«; sie hatten die Vorstellung, daß sie durch Worte sich an der Erhabenheit des Gefühls, das in ihren Herzen lebte, versündigen würden; aber dieses Schweigen über ihn hatte die Wirkung, daß sie, ohne selbst sich dessen bewußt zu werden, seiner allmählich vergaßen.

Natascha wurde so mager und blaß und ihre Körperkräfte[277] nahmen dermaßen ab, daß alle beständig von ihrer Gesundheit sprachen; und ihr war dies angenehm. Manchmal aber überkam sie plötzlich eine Angst nicht nur vor dem Tod, sondern auch vor Krankheit, Schwäche, Verlust ihrer Schönheit, und unwillkürlich betrachtete sie dann aufmerksam ihren nackten Arm und erschrak über seine Magerkeit, oder sie musterte morgens im Spiegel ihr langgezogenes und, wie es ihr vorkam, Mitleid erweckendes Gesicht. Sie hatte die Vorstellung, das müsse so sein, war aber doch traurig darüber.

Einmal ging sie schnell die Treppe hinauf und kam dabei stark außer Atem. Sofort ersann sie sich noch eine Verrichtung unten und lief dann von dort noch einmal nach oben, um ihre Kraft auf die Probe zu stellen und sich zu beobachten.

Ein andermal rief sie nach Dunjascha, und ihre Stimme kam dabei ins Zittern. Sie rief sie noch einmal, obgleich sie schon ihre Schritte hörte, und zwar mit dem Brustton, mit dem sie sang, und horchte, was er für einen Klang habe.

Sie wußte es nicht und hätte es nicht geglaubt: aber durch die Schlammschicht, die ihre Seele bedeckte und ihr undurchdringlich schien, kamen schon von unten dünne, zarte, junge Grasspitzen hindurch, von denen zu erwarten war, daß sie sich bald fester verwurzeln und mit ihren lebensfrischen Trieben den Kummer, welcher Natascha niederdrückte, so überdecken würden, daß er bald nicht mehr zu sehen und zu merken sein würde. Die Wunde heilte von innen heraus.

Ende Januar reiste Prinzessin Marja nach Moskau, und der Graf bestand darauf, daß Natascha mit ihr fahren sollte, um die dortigen Ärzte zu konsultieren.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 274-278.
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