IV

[278] Nach dem Zusammenstoß bei Wjasma, wo Kutusow das Verlangen seines Heeres, den Feind zurückzuwerfen, abzuschneiden usw., nicht hatte zügeln können, ging der weitere Marsch der fliehenden Franzosen und der sie verfolgenden Russen ohne Kämpfe vor sich. Die Flucht war so eilig, daß die russische Armee, die die Franzosen verfolgte, ihnen nicht nachkommen konnte und die Pferde der Kavallerie und Artillerie den Dienst versagten und die Nachrichten über die Bewegungen der Franzosen stets unzuverlässig waren.

Die Mannschaften des russischen Heeres waren durch dieses ununterbrochene Marschieren, täglich vierzig Werst, so erschöpft, daß sie nicht schneller vorwärts konnten.

Um den Grad der Erschöpfung der russischen Armee zu begreifen, braucht man sich nur die Bedeutung der Tatsache klarzumachen, daß die russische Armee, die aus Tarutino in einer Stärke von hunderttausend Mann ausgerückt war und an Verwundeten und Gefallenen während des ganzen Marsches von Tarutino nicht mehr als fünftausend Mann, an Gefangenen nicht hundert verloren hatte, in Krasnoje nur noch fünfzigtausend Mann stark anlangte.

Der schnelle Marsch der Russen hinter den Franzosen her wirkte auf die russische Armee genau ebenso aufreibend wie die Flucht auf die Franzosen. Der Unterschied war nur der, daß die russische Armee nach ihrem eigenen Willen marschierte, ohne daß sie das Verderben zu fürchten gehabt hätte, wie es als drohende Wolke über der französischen Armee hing, und darin, daß die zurückbleibenden Maroden bei den Franzosen in die Hände des Feindes fielen, während die zurückbleibenden Russen in ihrer Heimat waren. Die Hauptursache für die Verringerung des napoleonischen[279] Heeres war die Schnelligkeit des Marsches, und als zweifelloser Beweis dafür dient die entsprechende Verringerung der russischen Truppen.

Kutusows ganze Tätigkeit war, wie dies auch bei Tarutino und Wjasma der Fall gewesen war, nur darauf gerichtet, soweit es in seiner Macht stand, diese für die Franzosen unheilvolle Bewegung nicht zu hemmen (wie es die Herrschaften in Petersburg und die russischen Generale bei der Armee wollten), sondern sie zu fördern und die Bewegung der eigenen Truppen zu erleichtern.

Seit sich aber bei den Truppen eine starke Erschöpfung fühlbar machte und die gewaltigen Menschenverluste eintraten, die eine Folge des schnellen Marschierens waren, hatte Kutusow außer dem oben angegebenen Grund noch einen zweiten, der ihn veranlaßte, die Bewegungen der Truppen zu verlangsamen und abzuwarten. Der Zweck der russischen Truppen war die Verfolgung der Franzosen. Der Weg, den die Franzosen einschlugen, war unbekannt; je näher auf den Fersen daher unsere Truppen den Franzosen folgten, eine um so größere Strecke hatten sie zurückzulegen. Nur wenn sie in einiger Entfernung folgten, war es möglich, durch Benutzung des kürzesten Weges die Franzosen abzuschneiden. Alle die kunstvollen Manöver, die die Generale in Vorschlag brachten, liefen auf Truppenverschiebungen und Vergrößerung der Märsche hinaus, während doch das einzig vernünftige Ziel darin bestand, diese Märsche zu verkleinern. Und auf dieses Ziel war während des ganzen Feldzuges von Moskau bis Wilna Kutusows Tätigkeit gerichtet, nicht etwa nur gelegentlich und zeitweilig, sondern mit solcher Konsequenz, daß er es auch nicht ein einziges Mal aus den Augen verlor.

Kutusow wußte nicht mit dem Verstand oder durch die Wissenschaft,[280] sondern er wußte und fühlte mit seinem ganzen russischen Wesen, was jeder russische Soldat fühlte: daß die Franzosen besiegt waren, daß die Feinde flohen und daß man sie hinausbegleiten mußte; zugleich aber fühlte er in vollem Einklang mit den Soldaten die ganze drückende Last dieses hinsichtlich der Schnelligkeit und der Jahreszeit unerhörten Marsches.

Aber die Generale, namentlich die nicht-russischen, die den Wunsch hatten sich auszuzeichnen, irgend jemand in Erstaunen zu versetzen, zu irgendeinem Zweck irgendeinen Herzog oder König gefangenzunehmen, diese Generale waren jetzt, wo doch jeder Kampf widerlich und sinnlos war, der Ansicht, gerade jetzt sei die richtige Zeit, um eine Schlacht zu liefern und irgend jemand zu besiegen. Kutusow zuckte nur die Achseln, wenn sie ihm einer nach dem andern allerlei Projekte zu Manövern mit diesen schlecht beschuhten, der Pelze entbehrenden, halb verhungerten Soldaten vorlegten, die in einem Monat ohne Schlachten auf die Hälfte zusammengeschmolzen waren und mit denen man, selbst wenn sich die weitere Verfolgung unter den günstigsten Umständen vollzog, bis zur Grenze noch eine weitere Strecke zu durchmessen hatte, als die bisher zurückgelegte.

Ganz besonders trat dieses Streben, sich auszuzeichnen und zu manövrieren, zurückzuwerfen und abzuschneiden, dann hervor, wenn die russischen Truppen auf die der Franzosen stießen.

So war dies bei Krasnoje der Fall, wo man eine der drei französischen Kolonnen zu finden erwartet hatte und auf Napoleon selbst mit dem ganzen Heer stieß. Trotz aller Mittel, die Kutusow anwandte, um diesem verderblichen Zusammenstoß auszuweichen und seine Truppen zu schonen, kam es doch zu einer drei Tage dauernden Bekämpfung der aufgelösten Scharen der Franzosen durch die erschöpften Soldaten der russischen Armee.[281]

Toll hatte eine schriftliche Disposition verfaßt: »Die erste Kolonne marschiert usw.« Und wie immer verlief nichts der Disposition gemäß. Prinz Eugen von Württemberg beschoß die vorbeilaufenden Scharen der Franzosen von einem Berg aus und forderte Verstärkungen, die er aber nicht erhielt. Die Franzosen flüchteten in den Nächten um die Russen herum, zerstreuten sich, verbargen sich in den Wäldern und arbeiteten sich, ein jeder so gut er konnte, weiter vorwärts.

Miloradowitsch, der geäußert hatte, von dem ökonomischen Angelegenheiten seiner Abteilung wolle er nichts wissen, er, der niemals zu finden war, wenn man ihn brauchte, der Ritter ohne Furcht und Tadel, wie er sich selbst gern nannte, ein Freund von Unterhandlungen mit den Franzosen, schickte Parlamentäre, forderte zur Ergebung auf, verlor die Zeit und tat nicht, was ihm befohlen war.

»Ich schenke euch diese Kolonne, Kinder«, sagte er, indem er an seine Truppen heranritt und den Kavalleristen die Franzosen zeigte.

Und die Kavalleristen ritten auf ihren Pferden, die sich kaum bewegen konnten und die sie mit den Sporen und Säbeln antreiben mußten, im Trab mühsam zu der ihnen geschenkten Kolonne, d.h. zu einem Haufen halb erfrorener, halb verhungerter Franzosen, hin, und die geschenkte Kolonne streckte die Waffen und ergab sich; was sie schon längst gewollt hatte.

Bei Krasnoje wurden sechsundzwanzigtausend Mann gefangengenommen und Hunderte von Geschützen erbeutet, sowie auch ein Stock, den man einen Marschallstab nannte, und man stritt darüber, wer sich dabei besonders ausgezeichnet habe, und war mit dem Resultat zufrieden; nur bedauerte man sehr, daß man nicht Napoleon oder wenigstens einen Helden zweiten Ranges, einen Marschall, gefangengenommen hatte, und machte sich deswegen[282] gegenseitig Vorwürfe; ganz besonders aber richteten sich die Vorwürfe gegen Kutusow.

Diese Leute, die sich von ihren Leidenschaften bestimmen ließen, waren nur blinde Vollstrecker des so traurigen Gesetzes der Notwendigkeit; aber sie hielten sich für Helden und meinten, das, was sie ausgeführt hatten, sei die würdigste, edelste Tat. Sie beschuldigten Kutusow und sagten, er habe sie gleich vom Beginn des Feldzuges an daran gehindert, Napoleon zu besiegen; er sei nur auf die Befriedigung seiner Leidenschaften bedacht und habe nicht aus Polotnjanyje Sawody weggehen wollen, weil er sich dort behaglich gefühlt habe; er habe bei Krasnoje den Marsch gehemmt, weil er auf die Kunde von Napoleons Anwesenheit vollständig den Kopf verloren gehabt habe; man könne vermuten, daß er sich im Einverständnis mit Napoleon befinde, von ihm gekauft sei1, usw. usw.

Und nicht genug, daß die Zeitgenossen, von ihren Leidenschaften hingerissen, so sprachen, auch die Nachwelt und die Geschichte haben Napoleon einen »großen Mann« genannt; Kutusow aber haben die Ausländer als einen schlauen, ausschweifenden, schwächlichen, höfisch gesinnten alten Mann bezeichnet, die Russen als einen wankelmütigen, unentschlossenen Menschen, als eine Art Strohmann, der nur durch seinen russischen Namen nützlich gewirkt habe.

Fußnoten

1 Vgl. Wilsons Aufzeichnungen.

Anmerkung des Verfassers.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 278-283.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Auerbach, Berthold

Barfüßele

Barfüßele

Die Geschwister Amrei und Dami, Kinder eines armen Holzfällers, wachsen nach dem Tode der Eltern in getrennten Häusern eines Schwarzwalddorfes auf. Amrei wächst zu einem lebensfrohen und tüchtigen Mädchen heran, während Dami in Selbstmitleid vergeht und schließlich nach Amerika auswandert. Auf einer Hochzeit lernt Amrei einen reichen Bauernsohn kennen, dessen Frau sie schließlich wird und so ihren Bruder aus Amerika zurück auf den Hof holen kann. Die idyllische Dorfgeschichte ist sofort mit Erscheinen 1857 ein großer Erfolg. Der Roman erlebt über 40 Auflagen und wird in zahlreiche Sprachen übersetzt.

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon