VIII

[297] Man könnte glauben, unter diesen schlimmen, beinah undenkbar schlimmen Verhältnissen, in denen sich damals die russischen Soldaten befanden, ohne warmes Schuhzeug, ohne Pelze, ohne Dach über dem Kopf, im Schnee bei achtzehn Grad Kälte, sogar ohne das erforderliche Quantum Proviant, da dieser nicht immer der Armee nachkommen konnte, man könnte glauben, die Soldaten hätten das traurigste, kläglichste Schauspiel bieten müssen.

Aber im Gegenteil: niemals, selbst unter den besten materiellen Verhältnissen nicht, hatte das Heer einen fröhlicheren, muntereren Eindruck gemacht. Dies kam daher, daß jeder Tag aus dem Heer alles ausschied, was schlaff oder schwach zu werden anfing. Alles, was körperlich oder seelisch schwach war, war schon längst zurückgeblieben; zur Stelle waren nur die tüchtigsten Elemente des Heeres, die kräftigsten an Geist und Körper.

Bei der achten Kompanie, die sich die schöne Schutzwand errichtet hatte, hatten sich besonders viel Leute gesammelt. Auch zwei Feldwebel hatten sich zu ihnen gesetzt, und ihr Wachfeuer brannte heller als die andern. Für das Recht, im Schutz der[297] geflochtenen Wand zu sitzen, forderten sie eine Beisteuer an Holz.

»Sieh da, Makjejew, wo kommst du denn her ...« (Hier folgte ein arges Schimpfwort.) »Hattest du dich verkrümelt, oder hatten dich die Wölfe gefressen? Hol mal Holz!« rief ein Soldat mit rotem Gesicht und rotem Haar, der vor dem Rauch die Augen zukniff und blinzelte, aber trotzdem nicht vom Feuer wich. »Na, oder geh du, Krähe, und hol Holz!« wandte er sich an einen andern Soldaten. Der Rote war nicht Unteroffizier, nicht einmal Gefreiter; aber er war ein kräftiger Mensch, und daher kommandierte er diejenigen, die schwächer waren als er. Der zuletzt Angeredete, ein magerer, kleiner Soldat, mit spitzer, kleiner Nase, den sie Krähe nannten, stand gehorsam auf und war im Begriff fortzugehen, um den Auftrag auszuführen; aber in diesem Augenblick trat in den Lichtkreis des Wachfeuers die schlanke, schöne Gestalt eines jungen Soldaten, der eine Last Holz trug.

»Gib her. Das ist ja schön!«

Das Holz wurde zerkleinert und auf Glut gelegt; dann bliesen die Soldaten mit dem Mund hinein und wehten mit den Schößen der Mäntel, bis die Flamme zu zischen und zu knistern anfing. Sich heransetzend, zündeten sie ihre Pfeifen an. Der junge, schöne Soldat, der das Holz gebracht hatte, stemmte die Arme in die Seiten und begann hurtig und behende mit seinen frierenden Beinen auf dem Fleck umherzutanzen.

»Ach, wenn ich so als Musketier im schönen, kalten Tau marschier«, sang er dazu, und es klang, als ob er bei jeder Silbe des Liedes das Schlucken hätte.

»He, du! Die Sohlen fliegen dir weg!« rief der Rote, da er bemerkte, daß dem Tänzer an dem einen Stiefel die Sohle herabhing. »Ja, das Tanzen ruiniert die Stiefel.«[298]

Der Tänzer hielt inne, riß die herunterbaumelnde Sohle ab und warf sie ins Feuer.

»Da hast du recht, Bruder«, sagte er, setzte sich hin, holte aus dem Tornister ein Stück blaues französisches Tuch hervor und wickelte es sich um den Fuß. »Ganz steifgefroren waren mir die Beine«, fügte er hinzu und streckte die Beine zum Feuer hin.

»Wir werden bald neue Stiefel geliefert bekommen. Es heißt, wenn wir die Feinde alle totgeschlagen haben, bekommen wir jeder zwei Paar.«

»Nun seh einer an, der Hundesohn, der Petrow, ist auch zurückgeblieben«, sagte der Feldwebel der Kompanie.

»Ich habe es ihm schon lange angemerkt«, äußerte ein andrer Soldat.

»Freilich, so ein elendes Menschchen ...«

»In der dritten Kompanie, heißt es, haben gestern beim Appell neun Mann gefehlt.«

»Na, sag selbst, wenn du dir die Füße erfroren hast, wie willst du gehen?«

»Ach was, redet nicht dummes Zeug!« sagte der Feldwebel.

»Du hast wohl auch Lust zurückzubleiben?« sagte ein alter Soldat vorwurfsvoll zu demjenigen, der darauf hingedeutet hatte, daß er sich die Füße erfroren habe.

»Was denkst du denn eigentlich?« sagte auf einmal, sich hinter dem Wachfeuer aufrichtend, mit weinerlicher, zitternder Stimme der Soldat mit der spitzen Nase, der Krähe genannt wurde. »Wer von vornherein voll und kräftig war, der wird dabei mager, und wer von vornherein mager war, der stirbt. So zum Beispiel ich. Ich kann nicht mehr«, sagte er plötzlich in entschlossenem Ton, sich an den Feldwebel wendend. »Ordne an, daß ich ins Lazarett komme; ich habe schreckliches Gliederreißen; sonst muß ich eben auch zurückbleiben ...«[299]

»Na, es wird schon gehen, es wird schon gehen«, erwiderte der Feldwebel ruhig. Der kleine Soldat schwieg, und das Gespräch nahm seinen Fortgang.

»Heute sind doch eine solche Menge gefangene Franzosen eingebracht worden; aber Stiefel hatte, man kann geradezu sagen, kein einziger ordentliche an, kaum etwas, was den Namen Stiefel verdient«, begann einer der Soldaten ein neues Thema.

»Die Kosaken haben ihnen allen die Stiefel ausgezogen. Heute räumten die Kosaken für ihren Oberst ein Bauernhaus auf und trugen die toten Franzosen hinaus. Es war ein Jammer, das anzusehen, Kinder«, erzählte der Tänzer. »Sie raubten die Leichen aus; da lebte einer noch, ihr könnt mir's glauben, und redete etwas in seiner Sprache.«

»Aber ein sauberes Volk ist es, Kinder«, sagte der erste wieder. »Weiß wie Birkenrinde; und tapfere Leute sind es, das muß man sagen, vornehme Leute.«

»Na ja, was meinst du? Bei denen werden sie aus allen Ständen zum Militär genommen.«

»Aber sie verstehen gar nichts von unserer Sprache«, sagte der Tänzer mit verwundertem Lächeln. »Ich sagte zu einem: ›Aus welchem Land bist du?‹ Aber er redete etwas auf seine Art. Ein schnurriges Volk!«

»Wißt ihr, das ist doch ganz wunderbar, Brüder«, fuhr der fort, der sich über die weiße Hautfarbe der Feinde gewundert hatte, »da haben mir die Bauern bei Moschaisk gesagt, als sie angefangen hätten die Toten wegzuräumen, da, wo die Schlacht gewesen ist, also da sagten sie: ›Denk dir bloß‹, sagten sie, ›da hatten ihre Toten nun einen ganzen Monat lang gelegen. Und doch‹, sagten sie, ›waren ihre Toten wie Papier so weiß und sauber und rochen nicht ein bißchen.‹«[300]

»Woher kam das? Wohl von der Kälte?« fragte einer.

»Ja, du bist ein Schlauer! Von der Kälte! Damals war es ja doch heiß. Wenn es von der Kälte käme, dann würden unsere Leute doch ebensowenig verfault sein. ›Aber‹, sagten sie, ›wenn man zu einem von Unsern kam, da war er ganz verwest und voller Würmer. Wir haben sie‹, sagten sie, ›in Tücher geschlagen, uns mit dem Gesicht abgewendet und sie so weggezogen: es war nicht zum Aushalten. Aber ihre‹, sagten sie, ›waren wie Papier so weiß und rochen nicht ein bißchen.‹«

Alle schwiegen eine kleine Weile.

»Das kommt gewiß von der Nahrung«, sagte der Feldwebel. »Die haben Herrenkost gefressen.«

Niemand erwiderte etwas darauf.

»Und dann erzählten mir noch diese Bauern bei Moschaisk, wo die Schlacht gewesen ist, es wären die Bauern von zehn Dörfern zusammengetrieben worden, und zwanzig Tage lang wären sie gefahren und hätten doch nicht alle Leichen zusammenbekommen. ›Na und die Wölfe!‹ sagten sie ...«

»Ja, das war eine wirkliche Schlacht«, sagte der alte Soldat. »Das ist etwas, woran man lange denken kann. Aber alles, was nachher gekommen ist, war bloß unnütze Quälerei für die Mannschaften.«

»Das ist richtig, Onkelchen. Vorgestern liefen wir auf sie los. Denk mal, sie ließen uns gar nicht erst herankommen. Flink warfen sie die Gewehre weg und fielen auf die Knie. ›Pardon!‹ riefen sie. Und das ist nur so ein einzelnes Beispiel. Platow, so wird erzählt, hat den Polion selbst zweimal gefangengenommen. Aber er kannte das Zauberwort nicht. Er hatte ihn schon gefangen und hielt ihn in den Händen, da verwandelte er sich in einen Vogel und flog davon; weg war er. Und ihn zu töten ist auch keine Möglichkeit.«[301]

»Ja, im Schwindeln bist du stark, Kiselew. Ich staune immer über dich.«

»Wieso im Schwindeln? Es ist die reine Wahrheit.«

»Wenn ich's auf meine Art machen könnte, ich würde ihn, sowie ich ihn gefangen hätte, in die Erde eingraben, und dann an den Galgen. Was hat der für viele Menschen zugrunde gerichtet!«

»Jedenfalls werden wir ein Ende machen; er soll nicht davonkommen«, sagte der alte Soldat gähnend.

Das Gespräch verstummte; die meisten legten sich zur Ruhe.

»Nein, die Sterne, diese Unmenge! Sieh nur, die Weiber haben die Leinwand ausgelegt«, sagte ein Soldat, die Milchstraße betrachtend.

»O Gott, o Gott!«

»Das bedeutet ein fruchtbares Jahr, Kinder.«

»Wir werden noch Holz brauchen.«

»Den Rücken wärmt man sich, und der Bauch erfriert einem. Wunderlich!«

»Was stößt du denn? Ist denn das Feuer für dich allein da? Was? Seh bloß einer, wie der Mensch sich hingefläzt hat.«

Bei dem nun eingetretenen Stillschweigen hörte man das Schnarchen einiger Schläfer; die andern drehten sich so und so herum und wärmten sich, nur selten ein paar Worte miteinander wechselnd. Von einem etwa hundert Schritte entfernten Wachfeuer tönte vielstimmiges, heiteres Lachen herüber.

»Hört mal, wie fidel sie in der fünften Kompanie sind«, sagte ein Soldat. »Und was für eine Menge Menschen da ist!«

Ein Soldat stand auf und ging zur fünften Kompanie hin.

»Das gibt's was zu lachen«, sagte er, als er zurückkam. »Es haben sich da zwei Franzosen eingefunden. Der eine ist ganz erforen;[302] aber der andre ist ein forscher Kerl; es ist zum Erstaunen. Er singt Lieder.«

»Oh, da wollen wir hin und es uns ansehen.«

Mehrere Soldaten begaben sich zur fünften Kompanie.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 297-303.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Rameaus Neffe

Rameaus Neffe

In einem belebten Café plaudert der Neffe des bekannten Komponisten Rameau mit dem Erzähler über die unauflösliche Widersprüchlichkeit von Individuum und Gesellschaft, von Kunst und Moral. Der Text erschien zuerst 1805 in der deutschen Übersetzung von Goethe, das französische Original galt lange als verschollen, bis es 1891 - 130 Jahre nach seiner Entstehung - durch Zufall in einem Pariser Antiquariat entdeckt wurde.

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon