IX

[303] Die fünfte Kompanie hatte ihren Platz unmittelbar am Wald. Ein gewaltiges Wachfeuer brannte hell mitten im Schnee und beleuchtete die vom Reif beschwerten Zweige der Bäume.

Um Mitternacht hörten die Soldaten der fünften Kompanie im Wald Schritte im Schnee und das Knacken von Zweigen.

»Kinder, ein Bär«, sagte einer der Soldaten.

Alle hoben die Köpfe in die Höhe und horchten, und aus dem Wald traten in den hellen Lichtkreis des Wachfeuers zwei seltsam gekleidete menschliche Gestalten, die sich aneinander festhielten.

Es waren zwei Franzosen, die sich im Wald versteckt gehalten hatten. Sie traten an das Wachfeuer heran und sagten mit heiserer Stimme etwas in einer den Soldaten unverständlichen Sprache. Der eine war von hohem Wuchs, trug eine Offiziersmütze und schien ganz entkräftet zu sein. Als er an das Wachfeuer herangekommen war, wollte er sich hinsetzen, fiel aber auf die Erde. Der andere, ein kleiner, stämmiger Gemeiner, der sich ein Tuch um die Backen gebunden hatte, war kräftiger. Er hob seinen Kameraden auf, zeigte auf seinen eigenen Mund und sagte etwas dabei. Die Soldaten umringten die Franzosen, legten dem Kranken einen Mantel unter und brachten beiden Grütze und Schnaps.

Der entkräftete französische Offizier war Ramballe, der andre mit dem Tuch um den Kopf sein Bursche Morel.[303]

Als Morel Schnaps getrunken und einen Kessel voll Grütze gegessen hatte, wurde er plötzlich von einer krankhaften Lustigkeit ergriffen und begann zu den Soldaten, die ihn nicht verstanden, ohne Unterbrechung zu reden. Ramballe lehnte das Essen ab, lag schweigend auf den Ellbogen gestützt am Feuer und blickte ohne jedes Zeichen von Teilnahme mit seinen geröteten Augen auf die russischen Soldaten. Ab und zu ließ er ein gedehntes Stöhnen vernehmen und schwieg dann wieder. Morel zeigte auf die Schultern seines Gefährten und suchte den Soldaten deutlich zu machen, daß das ein Offizier sei und daß er der Erwärmung bedürfe. Ein russischer Offizier, der zu dem Wachfeuer trat, schickte zu dem Obersten und ließ fragen, ob er vielleicht einen französischen Offizier zu sich ins Haus nehmen wolle, damit dieser sich erwärme; und als der Abgeschickte zurückkehrte und meldete, der Oberst habe befohlen, den Offizier hinzubringen, forderte der russische Offizier den kranken Ramballe auf, hinzugehen. Dieser stand auf und wollte gehen; aber er schwankte und wäre gefallen, wenn ihn nicht ein danebenstehender Soldat gestützt hätte.

»Nun? Du tust es wohl auch nicht wieder?« sagte ein Soldat zu Ramballe mit spöttischem Augenzwinkern.

»Ach, du Schafskopf! Was redest du da für unpassendes Zeug! So ein Bauer, der richtige Bauer!« so erschollen von vielen Seiten die Vorwürfe gegen den Soldaten, der sich die Spöttelei erlaubt hatte.

Die Soldaten umringten Ramballe; zwei von ihnen bildeten aus ihren Armen einen Sitz, auf den er gehoben wurde, und trugen ihn nach dem Bauernhaus. Ramballe schlang seine Arme um die Hälse der Soldaten und sagte, während sie ihn trugen, in kläglichem Ton auf französisch:

»Oh ihr tapferen Soldaten, o meine guten, guten Freunde! Ihr[304] seid noch Menschen! O ihr tapferen Soldaten, ihr meine guten Freunde!« Und er lehnte sich wie ein Kind gegen die Schulter des einen Soldaten.

Unterdessen saß Morel, von den Soldaten umringt, auf dem besten Platz.

Morel, der kleine, stämmige Franzose mit entzündeten, tränenden Augen, hatte sich nicht nur nach Weiberart ein Tuch über die Uniformmütze gebunden, sondern trug auch einen schlechten Weiberpelz. Er war augenscheinlich etwas betrunken, umarmte den neben ihm sitzenden Soldaten und sang mit heiserer, abgebrochener Stimme ein französisches Lied. Die Soldaten sahen ihn an und hielten sich die Seiten vor Lachen.

»Na zu, na zu, bring es mir auch bei, ja? Ich werde es schnell lernen. Ja?« sagte der spaßlustige Sänger, welchen Morel umarmte.

»Vive Henri quatre. Vive ce roi vaillant!« sang Morel und zwinkerte mit dem einen Auge. »Ce diable à quatre ...«

»Wiwarikà! Wif ceruwaru! cidjablakà ...«, wiederholte der Soldat, den Arm schwenkend, und hatte wirklich die Melodie erfaßt.

»Sieh mal, wie geschickt! Ho-ho-ho-ho-ho!« erscholl von vielen Seiten ein derbes, fröhliches Lachen.

Morel runzelte zwar die Stirn, lachte aber gleichfalls.

»Na, vorwärts, noch mehr, noch mehr!«


»Qui eut le triple talent

De boire, de battre

Et d'être un vert galant.«


»Das klang auch sehr schön. Na, nun du, Saletajew!«

»Kü ...«, brachte Saletajew mühsam heraus. »Kü-ü-ü ...«, begann er, die Silbe dehnend und mit Anstrengung den Mund breit ziehend »letriptala de bu de ba i detrawagala«, sang er.[305]

»Ei, vorzüglich! Du bist ja der reine Franzose, das muß man sagen! Ho-ho-ho-ho ...! Na, wie ist's? Möchtest du noch essen?«

»Gib ihm nur noch Grütze; der hat einen solchen Hunger gehabt, daß er so bald nicht satt wird.«

Es wurde ihm nochmals Grütze gereicht, und lachend machte sich Morel an den dritten Kessel voll. Ein vergnügtes Lächeln lag auf den Gesichtern aller jungen Soldaten, die Morel anblickten. Die alten Soldaten, die es für unpassend hielten, sich mit solchen Torheiten abzugeben, lagen auf der andern Seite des Wachfeuers, richteten sich aber auch manchmal auf den Ellbogen auf und sahen lächelnd zu Morel hin.

»Sie sind auch Menschen«, sagte einer von ihnen und wickelte sich in seinen Mantel. »Auch der Wermut hat seine Wurzel, auf der er wächst.«

»O Gott, o Gott, wie sternenklar! Zum Erstaunen! Das gibt Kälte ...«

Alles wurde still. Als wüßten sie, daß sie jetzt niemand sah, trieben die Sterne am dunklen Himmel ihre Spiele. Bald hell aufflammend, bald trüber werdend, bald zusammenzuckend, führten sie geschäftig miteinander flüsternde Gespräche über irgend etwas Freudiges, aber Geheimnisvolles.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 303-306.
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