XXII

[140] Am Vormittag des 15. Juli, also zwei Tage nach diesen Ereignissen im Kreml, hielt vor dem Slobodski-Palais eine zahllose Menge von Equipagen.

Die Säle waren voll Menschen. Im ersten Saal waren die Adligen, sämtlich in Uniform, im zweiten die Kaufleute, bärtige Männer in blauen Kaftanen, mit Medaillen geschmückt. In dem Saal, in welchem die Adelsversammlung stattfand, herrschte lautes Stimmengewirr und lebhafte Bewegung. An einem großen Tisch saßen unter dem Porträt des Kaisers auf hochlehnigen[140] Stühlen die allervornehmsten Persönlichkeiten; die meisten Adligen aber gingen im Saal hin und her.

Alle diese Adligen, dieselben Leute, die Pierre täglich bald im Klub, bald in ihren Häusern sah, alle trugen sie Uniformen: teils solche aus der Zeit der Kaiserin Katharina, teils solche aus Kaiser Pauls Zeit, teils die neuen von Alexander eingeführten, teils auch die gewöhnlichen Adelsuniformen; und diese gemeinsame Eigenschaft des Uniformiertseins verlieh all den alten und jungen, höchst verschiedenartigen, wohlbekannten Persönlichkeiten ein gleichartiges, seltsam-phantastisches Aussehen. Besonders auffallend sahen die halbblinden, zahnlosen, kahlköpfigen Greise aus, die teils von gelblichem Fett aufgedunsen, teils runzlig und mager waren. Sie saßen größtenteils auf ihren Plätzen und schwiegen, und wenn sie umhergingen und redeten, so schlossen sie sich an irgendwelche jüngeren Leute an. Ebenso wie auf den Gesichtern der Volksmenge, die Petja auf dem Platz im Kreml gesehen hatte, waren auch auf all diesen Gesichtern zwei zueinander in starkem Gegensatz stehende Züge wahrnehmbar: einerseits die allgemeine Erwartung von etwas Feierlichem, andrerseits die gewöhnlichen, alltäglichen Interessen: für die Bostonpartie, für die Leistungen des Koches Pjotr, für das Befinden der teuren Gattin Sinaida Dimitrijewna usw.

Pierre, der schon vom frühen Morgen an in eine unbequeme, ihm zu eng gewordene Adelsuniform eingezwängt war, bewegte sich gleichfalls in dem Adelssaal und seinen Nebenräumen. Er war in lebhafter Erregung: die ungewöhnliche Zusammenberufung nicht nur des Adels, sondern auch der Kaufmannschaft (der Stände, états généraux) rief bei ihm eine ganze Reihe von Gedanken an den Contrat social und die Französische Revolution wieder wach, Gedanken, mit denen er sich seit langer Zeit nicht mehr beschäftigt hatte, die aber in seiner Seele tief eingegraben[141] waren. Die Worte, die ihm in dem Aufruf besonders bemerkenswert erschienen waren, nämlich daß der Kaiser zum Zweck der Beratung mit seinem Volk in der Residenz erscheinen werde, diese Worte bestärkten ihn noch in seiner Ansicht. Und in der Annahme, daß in diesem Sinne ein wichtiges, von ihm längst erwartetes Ereignis herannahe, ging er umher, sah aufmerksam um sich, hörte nach den Gesprächen hin, fand aber nirgends eine Äußerung der Gedanken, die ihn beschäftigten.

Das Manifest des Kaisers wurde vorgelesen und rief große Begeisterung hervor; dann verteilten sich alle in lebhaftem Gespräch. Außer den alltäglichen Unterhaltungsgegenständen hörte Pierre Gespräche darüber, wo die Adelsmarschälle beim Eintritt des Kaisers stehen sollten, wann man dem Kaiser einen Ball geben könne, ob man sich jetzt nach Kreisen ordnen oder die Adligen des ganzen Gouvernements ungeteilt bleiben sollten usw.; aber sowie die Rede auf den Krieg und auf den Zweck dieser Adelsversammlung kam, wurden die Äußerungen unsicher und schwankend; ein jeder wollte lieber hören als reden.

Ein Mann in mittleren Jahren, von stattlicher, hübscher Figur, in der Uniform eines Marineoffiziers a.D., sprach in einem der Nebensäle, und es drängten sich viele um ihn herum. Auch Pierre trat zu dem dichten Ring, der sich um den Redner gebildet hatte, und begann zuzuhören. Graf Ilja Andrejewitsch, der in seinem Wojewodenkaftan aus der Zeit der Kaiserin Katharina mit freundlichem Lächeln durch die Menge wandelte, in der er mit allen bekannt war, trat gleichfalls zu dieser Gruppe und hörte zu, indem er, wie immer wenn er zuhörte, gutmütig lächelte und zum Zeichen, daß er mit dem Redenden einer Meinung sei, beifällig mit dem Kopf nickte. Der Marineoffizier a.D. sprach mit großer Dreistigkeit; das war aus dem Gesichtsausdruck seiner Zuhörer zu ersehen, sowie daraus, daß mehrere Herren, die[142] Pierre als besonders loyale, stille Männer kannte, sich mißbilligend von ihm entfernten oder ihren Widerspruch äußerten. Pierre drängte sich bis in die Mitte der Gruppe, hörte zu und überzeugte sich, daß der Redende tatsächlich ein Fortschrittsmann war, aber in einem ganz andern Sinn, als es Pierres eigener Anschauungsweise entsprach. Der Marineoffizier sprach mit dem bei Edelleuten häufigen besonders klangvollen, singenden Bariton, mit einem angenehm klingenden Schnarren des r und mit Unterdrückung einzelner Konsonanten, in dem Ton, mit dem er »Orrroanz« (Ordonnanz), die »Pfeife!« und Ähnliches gerufen haben mochte. Man hörte seiner Redeweise an, daß er gewohnt war, lustig zu leben und zu kommandieren.

»Was geht uns das an, daß die Smolensker dem Kaiser Landwehrleute angeboten haben? Haben uns etwa die Smolensker etwas zu sagen? Wenn der verehrliche Adel des Gouvernements Moskau es für nötig befindet, so kann er Seiner Majestät dem Kaiser seine Ergebenheit auch durch andere Mittel zum Ausdruck bringen. Haben wir etwa die Landwehr von achtzehnhundertsieben vergessen? Dabei haben nur die Federfuchser ihr Schäfchen geschoren, die Diebe und Räuber ...«

Graf Ilja Andrejewitsch lächelte süß und nickte zustimmend.

»Und dann, sind etwa unsere Landwehrleute dem Staat von Nutzen gewesen? Ganz und gar nicht! Nur unsere Gutswirtschaft ist dadurch ruiniert worden. Da ist eine Rekrutenaushebung denn doch noch besser ... Der Landwehrmann, der aus dem Krieg zu uns zurückkommt, ist weder Soldat noch Bauer, sondern einfach ein Liederjan. Der Adel wird sein eigenes Leben nicht schonen; wir werden uns selbst Mann für Mann einfinden, wir bringen noch die Rekruten mit, und dann braucht der Kaiser nur zu befehlen, so gehen wir alle für ihn in den Tod!« fügte der Redner enthusiastisch hinzu.[143]

Ilja Andrejewitsch mußte wiederholt den Speichel hinunterschlucken, der ihm vor Vergnügen im Mund zusammenfloß, und stieß Pierre an; aber Pierre wollte gern gleichfalls reden. Er drängte sich nach vorn, ohne noch selbst zu wissen, warum er eigentlich so erregt war und was er sagen wollte. Aber kaum hatte er den Mund geöffnet, um zu reden, als ein Senator, ein völlig zahnloser, alter Mann mit klugem, zornig erregtem Gesicht, der nahe bei dem Redner stand, Pierre unterbrach. Sichtlich gewöhnt, sich an Debatten zu beteiligen und Streitfragen zu behandeln, begann er mit leiser, aber vernehmlicher Stimme:

»Ich bin der Ansicht, verehrter Herr«, sagte der Senator wispernd, wie eben Leute ohne Zähne reden, »daß wir nicht hierhergerufen sind, um ein Urteil darüber abzugeben, was für den Staat im gegenwärtigen Augenblick zweckmäßiger ist, Rekrutierung oder Landwehr. Sondern wir sind hierhergerufen, um auf den Aufruf zu antworten, mit dem uns Seine Majestät der Kaiser beehrt hat. Darüber zu urteilen, was zweckmäßiger sei, Rekrutierung oder Landwehr, das überlassen wir der höchsten Stelle ...«

Nun hatte Pierre auf einmal den Weg gefunden, auf dem er seiner Erregung Luft machen konnte. Er war wütend auf diesen Senator, der diesen Formalismus und diese Beschränktheit der Anschauungsweise in die Behandlung der dem Adel gestellten Aufgaben hineinbrachte. Pierre ging weiter nach vorn und unterbrach ihn. Er wußte selbst nicht, was er sagen würde; aber er begann lebhaft, wobei er sich ab und zu mit französischen Ausdrücken half und eine Art von Schriftrussisch sprach.

»Verzeihen Sie, Euer Exzellenz«, begann er (Pierre war mit diesem Senator ganz gut bekannt, hielt es aber hier für notwendig, mit ihm in offizieller Form zu verkehren). »Obgleich ich[144] dem Herrn ...« (Pierre stockte; er wollte sagen: à mon très honorable préopinant) »dem Herrn ... den ich nicht die Ehre habe zu kennen, nicht beistimme, so bin ich doch der Ansicht, daß der Stand der Adligen nicht nur zusammenberufen ist, um seine Sympathie und Begeisterung zum Ausdruck zu bringen, sondern auch um ein Urteil über die Maßregeln abzugeben, durch die dem Vaterland geholfen werden kann. Ich bin der Ansicht«, fuhr er, immer mehr in Eifer geratend, fort, »daß der Kaiser sogar unzufrieden sein würde, wenn er an uns weiter nichts fände als Eigentümer von Bauern, die wir ihm hingeben, und ... und chair à canon, Kanonenfutter, wozu wir uns selbst anbieten, aber keine Rat ... Rat ... Ratgeber.«

Viele entfernten sich von dieser Gruppe, da sie das geringschätzige Lächeln des Senators sahen und merkten, daß Pierre fortschrittliche Ansichten aussprach; nur Ilja Andrejewitsch war mit Pierres Rede zufrieden, wie er auch mit den Reden des Marineoffiziers und des Senators zufrieden gewesen war und überhaupt immer mit derjenigen Rede zufrieden war, die er soeben gehört hatte.

»Ich bin der Ansicht, daß, bevor wir in die Erörterung dieser Fragen eintreten«, fuhr Pierre fort, »wir den Kaiser fragen sollten, wir ehrerbietigst Seine Majestät bitten sollten, uns ... communiquer, mitzuteilen, wieviel Truppen wir haben, und in welchem Zustand sich unsere Truppen befinden, und daß wir dann ...«

Aber Pierre konnte seinen Satz nicht zu Ende sprechen, da auf einmal von drei Seiten gleichzeitig Gegner über ihn herfielen. Am heftigsten griff ihn ein alter Bekannter von ihm an, der ihm sonst immer freundlich gesinnt gewesen war und manche Partie Boston mit ihm gespielt hatte, Stepan Stepanowitsch Adraxin. Stepan Stepanowitsch trug an diesem Tag Uniform, und[145] mochte es nun von der Uniform herkommen oder von irgendwelchen anderen Ursachen, genug, Pierre sah heute einen ganz anderen Menschen vor sich. Stepan Stepanowitsch, auf dessen Gesicht sich auf einmal ein greisenhafter Jähzorn zeigte, schrie Pierre an:

»Erstens möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß wir gar kein Recht haben, dem Kaiser eine solche Frage vorzulegen, und zweitens, selbst wenn der russische Adel ein derartiges Recht hätte, so könnte der Kaiser uns doch keine Antwort geben. Die Truppen bewegen sich entsprechend den Bewegungen des Feindes; die Truppen vermindern sich und nehmen wieder zu ...«

Hier unterbrach den redenden Adraxin eine andere Stimme; es war die Stimme eines Mannes von mittlerer Statur und von ungefähr vierzig Jahren, welchen Pierre in früheren Zeiten bei den Zigeunern gesehen hatte und als unredlichen Kartenspieler kannte, und der jetzt gleichfalls einen Angriff auf Pierre unternahm; auch er hatte in der Uniform ein ganz verändertes Aussehen.

»Wir haben auch gar keine Zeit, lange hin und her zu reden«, sagte dieser Edelmann; »wir müssen handeln: der Krieg ist bereits in Rußland. Unser Feind kommt, um Rußland zu vernichten, die Gräber unserer Väter zu schänden, unsere Weiber und Kinder wegzuschleppen.« Der Edelmann schlug sich auf die Brust. »Wir alle werden uns erheben; alle, Mann für Mann, werden wir mitgehen, alle werden wir für unser Väterchen, den Zaren, kämpfen!« schrie er und riß die blutunterlaufenen Augen weit auf. Aus der Menge erschollen einige Beifallsrufe. »Wir sind Russen und werden unser Blut zur Verteidigung des Glaubens, des Thrones und des Vaterlandes nicht sparen. Aber unnützes Geschwätz müssen wir beiseite lassen, wenn wir wahre Söhne[146] des Vaterlandes sind. Wir werden Europa zeigen, wie Rußland sich zur Verteidigung Rußlands erhebt!« schrie der Edelmann.

Pierre wollte etwas erwidern; aber er kam nicht zu Wort. Auch sagte er sich, daß seine Worte, ganz ohne Rücksicht auf ihren Inhalt, weit weniger zu hören sein würden als die Worte des erregten Edelmannes.

Ilja Andrejewitsch brachte hinter der Gruppe seinen Beifall zum Ausdruck. Einige andere Zuhörer machten am Schluß dieser Tirade mit energischer Gebärde eine halbe Wendung, so daß sie dem Redner die Schulter zukehrten, und sagten:

»Hört, hört! So ist es! Ja, so ist es!«

Pierre wollte sagen, daß er durchaus bereit sei, sein Geld, seine Bauern und sich selbst zum Opfer zu bringen, daß man aber doch zunächst den Stand der Dinge kennen müsse, um wirksame Hilfe bringen zu können. Indessen er konnte nicht zu Wort kommen. Viele Stimmen schrien und sprachen zugleich, so daß Ilja Andrejewitsch gar nicht Zeit fand, allen Redenden zuzunicken, und die Gruppe vergrößerte sich, teilte sich, sammelte sich wieder und zog sich in ihrer Gesamtheit unter lebhaftem Stimmengewirr in den großen Saal hinein, zu dem großen Tisch. Und nicht nur, daß es Pierre nicht gelang zu reden, man unterbrach ihn sogar in recht grober Weise, wies ihn zurück und wandte sich wie von einem gemeinsamen Feind von ihm ab. Das kam nicht daher, daß man mit dem Inhalt seiner Rede unzufrieden gewesen wäre (den hatte man nach der großen Menge von Reden, die auf die seinige gefolgt waren, bereits vergessen), sondern die Menge brauchte zu ihrer Begeisterung einen greifbaren Gegenstand der Liebe und einen greifbaren Gegenstand des Hasses. Und dieser letztere war Pierre geworden. Viele Redner hatten bereits nach dem erregten Edelmann gesprochen, und alle in demselben[147] Ton. Nicht wenige von ihnen hatten schön und eigenartig geredet.

So hatte der Herausgeber des »Russischen Boten« Glinka (man hatte ihn erkannt und in der Menge gerufen: »Ein Schriftsteller, ein Schriftsteller!«) gesagt, man müsse die Hölle mit der Hölle besiegen; er habe ein Kind gesehen, das beim Leuchten der Blitze und beim Rollen des Donners gelächelt habe; aber wir würden es nicht machen wie dieses Kind.

»Ja, ja, beim Rollen des Donners!« hatte in den hinteren Reihen jemand beifällig wiederholt.

Die Menge näherte sich nun dem großen Tisch, an welchem in ihren Uniformen mit breiten Ordensbändern ergraute, kahlköpfige, siebzigjährige Magnaten saßen, die Pierre fast alle in ihrer eigenen Häuslichkeit im Verkehr mit ihren Hausnarren oder in den Klubs am Bostontisch oft gesehen hatte. Die Menge umringte den Tisch, ohne daß ihr Stimmengewirr aufgehört hätte. Einer aus ihr nach dem andern hielt eine Rede, manchmal sprachen auch zwei zugleich; die andrängende Menge preßte die Redner von hinten gegen die hohen Lehnen der Stühle. Diejenigen, die hinter den Redenden standen, paßten auf, was etwa der Redner nicht mit hinreichender Vollständigkeit sagte, und beeilten sich, das Ausgelassene hinzuzufügen. Andere wühlten, trotz der Hitze und Enge, in ihrem Gehirnkasten umher, um irgendeinen Gedanken darin zu finden, und sputeten sich dann, ihn auszusprechen. Die alten Magnaten, mit denen Pierre bekannt war, saßen still da und blickten sich bald nach diesem, bald nach jenem um, und der Gesichtsausdruck der meisten von ihnen besagte weiter nichts, als daß ihnen sehr heiß war. Pierre jedoch fühlte sich erregt, und das allen gemeinsame Bestreben, zu zeigen, daß ihnen kein Opfer zu groß sei, dieses mehr im Ton und in den Mienen als in den Worten der Redenden zum Ausdruck[148] gelangende Bestreben hatte sich auch ihm mitgeteilt. Er wollte die vorher von ihm ausgesprochenen Ansichten nicht verleugnen; aber er fühlte sich gewissermaßen schuldig und wünschte sich zu rechtfertigen.

»Ich habe nur gesagt, daß es zweckmäßig wäre, bevor wir Opfer bringen, uns Kenntnis davon zu verschaffen, was denn eigentlich erforderlich ist«, rief er mit einem Versuch, die anderen Stimmen zu überschreien.

Ein alter Herr in seiner nächsten Nähe blickte sich nach ihm um; indes wurde seine Aufmerksamkeit sofort wieder durch ein Geschrei abgelenkt, das sich an der anderen Seite des Tisches erhob.

»Ja, Moskau wird sich nicht ergeben! Es wird die Retterin werden!« rief jemand.

»Er ist der Feind der Menschheit!« rief ein anderer. »Gestatten Sie mir zu reden ... Meine Herren, Sie erdrücken mich ja ...!«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 140-149.
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