X

[281] Er führte sein Tagebuch fort und trug in dieser Zeit folgendes ein:


»Den 24. November.


Ich stand um acht Uhr auf und las in der Heiligen Schrift; dann ging ich zum Dienst« (auf den Rat seines edlen Freundes war Pierre in den Staatsdienst getreten, und zwar als Mitglied einer der Kommissionen), »kam zum Mittagessen nach Hause und speiste allein (bei der Gräfin waren viele Gäste, die mir nicht gefielen). Ich aß und trank mäßig und machte nach dem Mittagessen Abschriften einiger Schriftstücke für die Brüder. Am Abend ging ich zu der Gräfin hinunter und erzählte eine komische Geschichte über Herrn B., und erst als alle schon laut lachten, kam es mir zum Bewußtsein, daß ich die Geschichte nicht hätte erzählen sollen.

Jetzt lege ich mich in glücklicher, ruhiger Gemütsstimmung schlafen. Großer Gott, hilf mir, auf Deinen Wegen wandeln, damit ich 1. den Zorn durch Sanftmut und Bedächtigkeit überwinde, 2. die Lüsternheit durch Selbstbeherrschung und Abscheu, 3. mich von nichtigem Treiben fernhalte, ohne doch zu verabsäumen: a) die Tätigkeit im Staatsdienst, b) die Sorge für die Familie, c) den Umgang mit Freunden und d) die wirtschaftliche Tätigkeit.«


»Den 27. November.


Spät aufgestanden; ich hatte nach dem Aufwachen noch lange im Bett gelegen und mich der Trägheit überlassen. Mein Gott! Hilf mir und stärke mich, damit ich auf Deinen Wegen gehen kann. Ich las in der Heiligen Schrift, aber ohne die richtige Empfindung. Es kam Bruder Urusow, und wir unterhielten uns über das nichtige Treiben der Welt. Er erzählte von neuen Plänen des Kaisers. Ich wollte schon anfangen, sie zu tadeln;[282] aber ich dachte noch rechtzeitig an meine Grundsätze und an die Worte meines Wohltäters, daß der richtige Freimaurer ein eifriger Arbeiter im Staatsdienst sein müsse, sobald seine Mitwirkung verlangt werde, und ein ruhiger Beobachter dessen, woran mitzuarbeiten er nicht berufen sei. Meine Zunge ist mein Feind. Die Brüder G., W. und O. besuchten mich; es fand eine Vorbesprechung über die Aufnahme eines neuen Bruders statt. Sie fordern mich auf, dabei die Obliegenheiten des Bruder Redners zu übernehmen. Aber ich fühle mich zu schwach und unwürdig. Dann kam die Rede auf die Erklärung der sieben Säulen und Stufen des Tempels. Sieben Wissenschaften, sieben Tugenden, sieben Laster, sieben Gaben des Heiligen Geistes. Bruder O. setzte das alles in schöner Rede auseinander. Am Abend wurde die Aufnahme vollzogen. Die neue Ausstattung der Räumlichkeiten trug viel zu dem würdigen Eindruck der Feierlichkeit bei. Der Aufgenommene war Boris Drubezkoi. Ich habe ihn vorgeschlagen und bin auch der Bruder Redner gewesen. Ein seltsames Gefühl beunruhigte mich die ganze Zeit über, als ich mit ihm in dem dunklen Gemach war. Ich bemerkte in mir eine Empfindung des Hasses gegen ihn, die ich vergebens zu überwinden suchte. Gerade deshalb wünschte ich aufrichtig, ihn vom Bösen zu retten und ihn auf den Weg der Wahrheit zu leiten; aber die argen Gedanken in betreff seiner wollten nicht von mir weichen. Es schien mir, als bestände seine Absicht beim Eintritt in die Bruderschaft nur darin, mit hochgestellten Männern, die zu unserer Loge gehören, in nähere Beziehung zu treten und ihre Gunst zu gewinnen. Er erkundigte sich einige Male bei mir, ob nicht die Herren N. und S. Mitglieder unserer Loge seien (worauf ich ihm nicht antworten durfte); auch ist er nach meinen Beobachtungen nicht fähig, eine wirkliche Hochachtung gegen unsern heiligen Orden zu empfinden, er ist zu sehr mit seinem[283] äußeren Menschen beschäftigt und zu sehr mit diesem zufrieden, als daß er den Wunsch nach einer geistigen Veredelung hegen könnte; aber von diesen Gründen abgesehen, hatte ich keinen Anlaß, daran zu zweifeln, daß er zur Aufnahme geeignet ist; nur machte er mir den Eindruck, als sei er nicht aufrichtig, und die ganze Zeit über, während ich mit ihm in dem dunklen Gemach unter vier Augen war, schien es mir, als lächle er geringschätzig über das, was ich sagte, und es kam mir wirklich die Lust an, seine nackte Brust mit dem Degen zu durchbohren, den ich gegen sie gerichtet hielt. Ich war nicht imstande, gewandt und schön zu sprechen und konnte mich nicht entschließen, meinen Zweifel den Brüdern und dem Meister vom Stuhl offen mitzuteilen. Oh, großer Baumeister der Natur, hilf mir die richtigen Wege finden, die aus dem Labyrinth der Lüge hinausführen!«


Dahinter waren in dem Tagebuch drei Blätter freigelassen; dann war folgendes eingetragen:


»Ich hatte ein langes, lehrreiches Gespräch unter vier Augen mit Bruder W., der mir den Rat gab, mich an Bruder A. anzuschließen. Es wurde mir trotz meiner Unwürdigkeit vieles enthüllt. Adonai ist der Name des Weltschöpfers. Elohim ist der Name dessen, der alles regiert. Der dritte Name ist unaussprechlich und bedeutet das All. Die Unterredungen mit Bruder W. stärken, erfrischen und kräftigen mich bei der Wanderung auf dem Weg zur Tugend. Wenn er anwesend ist, ist kein Raum für einen Zweifel. Der Unterschied der armseligen Lehre der profanen Wissenschaften von unserer heiligen, alles umfassenden Lehre ist mir klar: die menschlichen Wissenschaften zergliedern alles, um es zu begreifen; sie töten alles, um es zu betrachten; in der heiligen Wissenschaft unseres Ordens dagegen ist alles einheitlich, alles wird in seiner Zusammengehörigkeit und im Zustand des Lebens erkannt. Die Dreieinigkeit – drei Urelemente der[284] Dinge – Schwefel, Quecksilber und Salz. Der Schwefel ist von öliger und feuriger Beschaffenheit; in Verbindung mit dem Salz ruft er durch seine feurige Natur in dem Salz ein heißes Verlangen hervor, mittels dessen das Salz das Quecksilber anzieht, erfaßt, festhält und mit ihm vereint neue, eigenartige Körper hervorbringt. Das Quecksilber ist eine flüssige, flüchtige, geistige Substanz. – Christus, der Heilige Geist, Er.«


»Den 3. Dezember.


Ich wachte erst spät auf und las in der Heiligen Schrift, aber ohne rechte Empfindung. Dann verließ ich mein Schlafzimmer und ging im Saal auf und ab. Ich wollte nachdenken; aber statt dessen stellte mir meine Einbildungskraft ein Begebnis wieder vor Augen, das schon vier Jahre zurückliegt. Als Herr Dolochow nach meinem Duell mit ihm mir einmal in Moskau begegnete, sagte er zu mir, er hoffe, daß ich mich jetzt trotz der Abwesenheit meiner Gattin in vollständiger Seelenruhe befände. Ich antwortete ihm damals nicht. Jetzt nun erinnerte ich mich an alle Einzelheiten dieser Begegnung und gab ihm im Geist die bösesten, bissigsten Antworten. Erst als ich merkte, daß ich in heftigen Zorn geraten war, kam ich zur Besinnung und verscheuchte diesen Gedanken; aber ich bereute diese Verirrung nicht in hinreichendem Maß. Nachher kam Boris Drubezkoi und begann allerlei Tagesereignisse zu erzählen; ich war gleich von seinem Eintritt an mißgestimmt über seinen Besuch und sagte ihm einige unfreundliche Worte. Er erwiderte etwas darauf. Ich brauste auf und sagte ihm eine Menge Unartigkeiten und sogar Grobheiten. Er schwieg jetzt, und nun erst, wo es zu spät war, erkannte ich den von mir begangenen Fehler. O Gott, ich verstehe schlechterdings nicht, mit ihm umzugehen. Die Ursache davon ist meine Eigenliebe. Ich glaube über ihm zu stehen und werde dadurch weit schlechter als er; denn er zeigt meiner Grobheit[285] gegenüber eine freundliche Nachsicht, ich dagegen nähre gegen ihn eine arge Geringschätzung. O Gott, gib, daß ich in seiner Anwesenheit mehr Erkenntnis für meine Schlechtigkeit habe und mich so benehme, daß auch er davon Nutzen haben kann. Nach dem Mittagessen legte ich mich zum Schlafen hin, und in dem Augenblick, als ich einschlief, hörte ich deutlich eine Stimme, die mir in das linke Ohr sagte: ›Dein Tag.‹

Ich träumte, daß ich im Dunkeln ginge und plötzlich von Hunden umringt sei; aber ich ging ohne Furcht weiter; plötzlich packte mich ein kleiner Hund mit den Zähnen am linken Schenkel und ließ mich nicht los. Ich begann ihn mit den Händen zu würgen. Aber kaum hatte ich ihn losgelassen, als mich ein anderer, größerer, biß. Ich hob ihn in die Höhe, und je höher ich ihn hob, um so größer und schwerer wurde er. Und auf einmal kam Bruder A., faßte mich unter den Arm, nahm mich mit sich fort und führte mich zu einem Gebäude; um in dieses Gebäude hineinzugelangen, mußte man über ein schmales Brett gehen. Ich trat darauf; das Brett bog sich, rutschte ab und fiel, und ich versuchte auf einen Zaun zu klettern, an dessen obere Kante ich nur so eben mit den Händen heranreichte. Nach großen Anstrengungen zog ich meinen Körper so herüber, daß die Beine auf der einen Seite hingen und der Oberkörper auf der andern. Ich blickte um mich und sah, daß Bruder A. auf dem Zaun stand und auf eine große Allee und einen Garten hinwies; und in dem Garten war ein großes, schönes Gebäude. Ich erwachte. Herr Gott, großer Baumeister der Natur! Hilf mir, die Hunde, meine Leidenschaften, abzuschütteln und namentlich die letzte von ihnen, die die Kräfte aller früheren in sich vereinigt, und hilf mir, daß ich in jenen Tempel der Tugend eintrete, dessen Anblick ich im Traum genießen durfte.«
[286]

»Den 7. Dezember.


Mir träumte, Osip Alexejewitsch saß bei mir in meinem Haus, und ich freute mich darüber sehr und wollte ihn bewirten. Ich plauderte ohne Unterbrechung mit fremden Leuten, und auf einmal fiel mir ein, daß ihm das nicht gefallen könne, und ich wollte an ihn herantreten und ihn umarmen. Aber sowie ich näher herankam, sah ich, daß sein Gesicht sich verwandelte und jung wurde, und er sagte leise etwas zu mir aus der Ordenslehre, so leise, daß ich es nicht verstehen konnte. Dann gingen wir alle aus dem Zimmer hinaus, und hier begab sich nun etwas Wunderliches: wir saßen oder lagen auf dem Fußboden. Er sagte etwas zu mir. Aber ich wollte ihm gern meine tiefe Empfindung zeigen und begann, ohne auf seine Reden hinzuhören, mir den Zustand meines inneren Menschen vorzustellen, und wie mich die Gnade Gottes überschattete. Und die Tränen traten mir in die Augen, und es war mir angenehm, daß er das bemerkte. Aber er blickte mich zornig an und sprang, seine Rede abbrechend, auf. Ich wurde ängstlich und fragte, ob das, was er gesagt habe, sich auf mich bezogen hätte; aber er antwortete nichts und zeigte mir wieder ein freundliches Gesicht, und nun befanden wir uns auf einmal in mei nem Schlafzimmer, wo das zweischläfrige Bett steht. Er legte sich auf den Rand des Bettes, und in mir wurde ein brennendes Verlangen rege, ihn zu liebkosen und mich ebenfalls dort hinzulegen. Und er fragte mich: ›Sagen Sie wahrheitsgemäß: welches ist die größte Leidenschaft, die Sie besitzen? Haben Sie sie erkannt? Ich glaube, daß Sie sie schon erkannt haben.‹ Ich wurde über diese Frage verlegen und antwortete, meine größte Leidenschaft sei die Trägheit. Er schüttelte mißtrauisch den Kopf. Meine Verlegenheit wurde noch größer, und ich antwortete ihm, ich lebte zwar nach seinem Rat wieder mit meiner Frau zusammen, aber wir lebten nicht als Mann und[287] Frau. Darauf erwiderte er, ich dürfe meine Frau meiner Liebkosungen nicht berauben, und gab mir zu verstehen, daß das meine Pflicht sei. Aber ich antwortete, daß ich mich schämte, das zu tun, und auf einmal war alles verschwunden. Und ich wachte auf und mußte an die Worte der Heiligen Schrift denken: ›Das Leben war das Licht der Menschen, und das Licht scheinet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht begriffen.‹ Osip Alexejewitschs Gesicht war ganz jugendlich und hell gewesen. An diesem Tag erhielt ich einen Brief von meinem Wohltäter, in dem er mir von den Pflichten der Ehe schreibt.«


»Den 9. Dezember.


Ich hatte einen Traum, aus dem ich mit bebendem Herzen erwachte. Mir träumte, ich wäre in Moskau, in meinem Haus, im großen Sofazimmer, und aus dem Salon kam Osip Alexejewitsch zu mir herein. Ich erkannte sofort, daß mit ihm bereits der Vorgang der Wiedergeburt stattgefunden hatte, und eilte ihm entgegen. Ich küßte sein Gesicht und seine Hände; aber er sagte: ›Hast du wohl bemerkt, daß ich ein anderes Gesicht habe?‹ Ich betrachtete ihn, ohne ihn aus meinen Armen zu lassen, und sah, daß sein Gesicht jugendlich war, daß er aber keine Haare auf dem Kopf hatte und seine Gesichtszüge vollständig verändert waren. Ich sagte zu ihm: ›Ich hätte Sie trotzdem erkannt, wenn ich Ihnen zufällig begegnet wäre‹, und dachte dabei: ›Habe ich damit auch die Wahrheit gesagt?‹ Und plötzlich sah ich, daß er wie ein Toter dalag; dann kam er allmählich wieder zu sich und ging mit mir in das große Arbeitszimmer; in der Hand hatte er ein großes Buch, geschrieben, in Folio. Ich sagte zu ihm: ›Das habe ich geschrieben.‹ Und er antwortete mir durch eine Neigung des Kopfes. Ich schlug das Buch auf und fand in ihm auf allen Seiten schöne Zeichnungen. Und ich wußte, daß diese Bilder das Liebesleben der Seele und ihres Geliebten darstellten. Und ich erblickte[288] auf diesen Seiten das schöne Bild eines zu den Wolken auffliegenden Mädchens in durchsichtigem Kleid und mit durchsichtigem Körper. Und ich wußte, daß dieses Mädchen nichts anderes war als eine Darstellung des Hohen Liedes. Und während ich diese Zeichnungen betrachtete, hatte ich das Gefühl, daß ich damit etwas Schlechtes beginge; aber ich konnte mich von ihnen nicht losreißen. O Gott! Hilf mir! O mein Gott! Wenn es Dein Werk ist, daß ich Dir so fern bin, so geschehe Dein Wille; wenn ich dies aber selbst verschuldet habe, so lehre mich, was ich tun soll. Ich muß an meiner Lasterhaftigkeit zugrunde gehen, wenn Du mich ganz verläßt!«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 281-289.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.

70 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon