XI

[289] Die finanziellen Verhältnisse der Familie Rostow hatten sich während der zwei Jahre, die sie auf dem Land verlebt hatte, nicht gebessert.

Obwohl Nikolai Rostow, seinem Vorsatz getreu, still bei seinem Regiment in der entlegenen kleinen Garnison weiterdiente und verhältnismäßig wenig Geld ausgab, war doch der ganze Zuschnitt des Lebens in Otradnoje derart, daß die Schulden in jedem Jahr unaufhaltsam wuchsen; ganz besonders wirkte übrigens zu diesem bedauerlichen Resultat auch die Art mit, in welcher Dmitri die Geschäfte führte. Die einzige Rettung, die sich dem alten Grafen noch darbot, war augenscheinlich der Staatsdienst, und so reiste er denn nach Petersburg, um sich eine Stelle zu suchen, und nahm auch gleich seine Familie mit, um während des Stellensuchens gleichzeitig seinen Mädchen, wie er sich ausdrückte, zum letztenmal ein bißchen Amüsement zu verschaffen.

Bald nach der Ankunft der Familie Rostow in Petersburg hielt Berg um Wjeras Hand an, und sein Antrag wurde angenommen.[289]

Obwohl Rostows in Moskau zur besten Gesellschaft gehörten, übrigens ohne selbst zu wissen und darüber nachzudenken, zu welcher Gesellschaft sie gehörten, war doch in Petersburg ihr Gesellschaftskreis ein gemischter und nicht streng begrenzter. In Petersburg waren sie Provinzler, und dieselben Leute, welche die Familie Rostow in Moskau gastfreundlich aufgenommen hatte, ohne ihre Gäste nach deren Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gesellschaftskreis zu fragen, trugen nun in Petersburg Bedenken, sich zu der Familie Rostow herabzulassen.

Rostows lebten in Petersburg ebenso gastfrei wie in Moskau, und ihre Soupers bildeten einen Sammelpunkt für die verschiedenartigsten Persönlichkeiten; da kamen Nachbarn aus der Gegend von Otradnoje, alte, unbemittelte Gutsbesitzer mit Töchtern, ein Hoffräulein namens Peronskaja, Pierre Besuchow und der in Petersburg angestellte Sohn eines Kreispostmeisters. Von den männlichen Gästen wurden einige im Rostowschen Haus in Petersburg sehr bald Hausfreunde: erstens Boris, ferner Pierre, den der alte Graf zuerst auf der Straße getroffen und mit sich nach Hause geschleppt hatte, und drittens Berg, der ganze Tage bei Rostows zubrachte und der ältesten Komtesse Wjera alle die Aufmerksamkeiten erwies, die ein junger Mann überhaupt einer jungen Dame erweisen kann, um deren Hand er anzuhalten beabsichtigt.

Berg hatte wirklich etwas dadurch erreicht, daß er allen Leuten seine bei Austerlitz verwundete rechte Hand zeigte und dabei erzählte, wie er den (in Wirklichkeit völlig unnützen) Degen in die Linke genommen habe. Er hatte dieses Ereignis allen mit solcher Beharrlichkeit und mit so bedeutsamem Ernst berichtet, daß alle an die Zweckmäßigkeit und Verdienstlichkeit dieser Tat glaubten und Berg für Austerlitz zwei Auszeichnungen erhielt.

Auch im Finnischen Krieg war es ihm geglückt, sich hervorzutun.[290] Er hatte einen Granatsplitter, der einen Adjutanten in der Nähe des Oberkommandierenden getötet hatte, aufgehoben und diesen Granatsplitter dem hohen Vorgesetzten gebracht. Ebenso wie nach Austerlitz erzählte er auch von diesem Ereignis allen so lange und so beharrlich, daß auch hierbei alle von der Notwendigkeit und Nützlichkeit dieser Handlungsweise überzeugt waren und Berg auch für den Finnländischen Krieg mit zwei Auszeichnungen bedacht wurde. Im Jahre 1809 war er Hauptmann bei der Garde, hatte mehrere Orden und übte in Petersburg einige besonders einträgliche Funktionen aus.

Obgleich einige Ungläubige lächelten, wenn man ihnen gegenüber von Bergs Verdiensten sprach, so mußte doch jeder zugeben, daß Berg ein pflichttreuer, tapferer, bei seinen Vorgesetzten vorzüglich angeschriebener Offizier war, ein ehrenhafter junger Mann, der eine glänzende Laufbahn vor sich hatte und in der Gesellschaft sogar schon jetzt eine gesicherte Stellung einnahm.

Vier Jahre zuvor hatte Berg einmal im Parkett des Theaters in Moskau einen deutschen Kameraden getroffen, diesem Wjera Rostowa gezeigt und zu ihm auf deutsch gesagt: »Die soll meine Frau werden«, und von dem Augenblick an hatte auch sein Entschluß festgestanden, sie zu heiraten. Jetzt nun in Petersburg stellte er Erwägungen an über die Situation der Familie Rostow und über die seinige, gelangte zu dem Resultat, daß der richtige Zeitpunkt gekommen sei, und machte seinen Antrag.

Bergs Antrag wurde zunächst mit einem Erstaunen aufgenommen, das für ihn nicht schmeichelhaft war. Anfangs erschien es den Rostows sonderbar, daß der Sohn eines geringen livländischen Edelmannes um die Hand einer Komtesse Rostowa anhielt; aber die hervorragendste Charaktereigenschaft Bergs bestand in einer so naiven, gutherzigen Selbstgefälligkeit, daß[291] die Rostows unwillkürlich zu dem Gedanken kamen, dies müsse wohl für Wjera eine gute Partie sein, da er selbst so fest davon überzeugt sei, daß das junge Mädchen an ihm eine gute, eine sehr gute Partie mache. Außerdem waren die Vermögensverhältnisse der Rostows stark zerrüttet (das konnte dem Bewerber ja nicht unbekannt sein), und was die Hauptsache war: Wjera war schon vierundzwanzig Jahre alt; sie hatte alle möglichen Bälle und Gesellschaften besucht; aber obwohl sie unstreitig ein schönes, kluges Mädchen war, hatte sich bisher noch niemand um sie beworben. So wurde denn Bergs Antrag angenommen.

»Sehen Sie wohl«, sagte Berg zu seinem Kameraden, den er nur deshalb seinen Freund nannte, weil er wußte, daß alle Menschen Freunde haben. »Sehen Sie wohl, ich habe alles sorgfältig erwogen und würde nicht heiraten, wenn ich nicht alles bedacht hätte und irgend etwas dagegen spräche. Aber es ist alles in Ordnung: mein Papa und meine Mama sind jetzt versorgt; ich habe ihnen eine Pacht in den Ostseeprovinzen verschafft; und ich werde in Petersburg bei meiner Sparsamkeit ganz gut auskommen, da ich mein Gehalt habe und meine künftige Frau ihr Vermögen. Wir werden ganz gut leben können. Ich heirate nicht um des Geldes willen; das würde ich für eine unanständige Denkungsart halten; aber das ist erforderlich, daß die Frau etwas in die Ehe mitbringt und ebenso der Mann. Ich habe mein Gehalt und sie ihre Konnexionen und einige, wenn auch nicht bedeutende Mittel. Das fällt in unserer Zeit schon einigermaßen ins Gewicht, nicht wahr? Aber die Hauptsache ist doch: sie ist ein schönes, achtbares Mädchen und liebt mich ...«

Berg errötete und lächelte.

»Ich liebe sie gleichfalls, weil sie einen vortrefflichen Verstand und einen sehr guten Charakter besitzt. Sehen Sie, da ist die[292] andere Schwester ... aus derselben Familie, aber ein ganz anderes Wesen, ein unangenehmer Charakter, auch nicht verständig genug; und sie hat so etwas ... wissen Sie, mir sagt sie nicht zu ... Aber meine Braut ... Nun, kommen Sie nur später zu uns ...«, fuhr Berg fort; er wollte sagen: »zum Mittagessen«, besann sich aber noch eines andern und sagte: »zum Tee«; und dann ließ er schnell einen runden, kleinen Rauchring, den er durch Hindurchstoßen der Zunge bildete, aus dem Mund aufsteigen, wie wenn er seine Glücksträumereien dadurch verkörpern wollte.

Nach dem ersten Erstaunen, das Bergs Antrag bei den Eltern hervorgerufen hatte, geriet die Familie in die in solchen Fällen gewöhnliche festliche, freudige Stimmung; aber diese Freude war keine aufrichtige, sondern eine mehr äußerliche. Aus dem Verhalten der Verwandten hinsichtlich dieser Heirat konnte man eine gewisse Verlegenheit, eine Art Schamgefühl herausmerken. Sie schienen sich gleichsam jetzt zu schämen, daß sie Wjera so wenig liebten und sie so leichten Herzens hingaben. Am verlegensten von allen war der alte Graf. Er wäre wahrscheinlich nicht imstande gewesen, die eigentliche Ursache seiner Verlegenheit deutlich zu bezeichnen; aber diese Ursache war seine pekuniäre Lage. Er wußte schlechterdings nicht, wieviel er noch besaß, wieviel Schulden er hatte, und wieviel er seiner Tochter Wjera würde mitgeben können. Als die Töchter geboren wurden, hatte er einer jeden von ihnen dreihundert Seelen als Mitgift bestimmt; aber das eine dieser Dörfer war bereits verkauft und das andere verpfändet, und da der Zahlungstermin nicht innegehalten war, so mußte auch dieses verkauft werden; ein Gut konnte also Wjera nicht mitgegeben werden. Bares Geld war auch nicht vorhanden.

Berg und Wjera waren schon über einen Monat verlobt, und[293] es war nur noch eine Woche bis zur Hochzeit; aber der Graf war über die Frage der Mitgift mit sich immer noch nicht ins reine gekommen, hatte auch mit seiner Frau noch nicht darüber gesprochen. Bald wollte er Wjera einen Teil des Rjasanschen Gutes geben, bald einen Wald verkaufen, bald Geld auf Wechsel aufnehmen. Einige Tage vor der Hochzeit suchte Berg einmal frühmorgens den Graf in dessen Zimmer auf und bat mit einem liebenswürdigen Lächeln respektvoll seinen künftigen Schwiegervater, ihm mitzuteilen, welche Mitgift Komtesse Wjera erhalten werde. Obwohl der Graf diese Frage schon lange vorhergesehen hatte, setzte sie ihn doch so in Verwirrung, daß er ohne zu überlegen das erste beste antwortete, was ihm in den Mund kam.

»Das gefällt mir, daß du auch an dein Budget denkst, das gefällt mir; nun, du wirst zufrieden sein ...«

Er klopfte Berg auf die Schulter und stand auf, mit dem Wunsch, dieses Gespräch damit abzubrechen. Aber Berg erklärte mit liebenswürdigem Lächeln, wenn er nicht zuverlässig erführe, wieviel Wjera mitbekomme, und nicht wenigstens einen Teil des ihr Zugedachten im voraus erhielte, so sähe er sich genötigt zurückzutreten.

»Denn das werden Sie zugeben, Graf: wenn ich mich jetzt erdreistete zu heiraten, ohne die sicheren Mittel zum Unterhalt meiner Frau zu haben, so wäre das meinerseits nicht ehrenhaft gehandelt ...«

Das Gespräch endete damit, daß der Graf, in dem Wunsch, sich großherzig zu zeigen und mit weiteren Forderungen verschont zu werden, einen Wechsel über achtzigtausend Rubel als Mitgift zu geben versprach. Berg lächelte freundlich, küßte den Grafen auf die Schulter und sagte, er sei sehr dankbar, könne aber für das bevorstehende neue Leben nicht die nötigen Einrichtungen[294] treffen, wenn er nicht dreißigtausend Rubel bar erhalte.

»Oder wenigstens zwanzigtausend, Graf«, fügte er hinzu. »Und dann einen Wechsel nur über sechzigtausend.«

»Ja, ja, schön!« erwiderte der Graf hastig. »Aber wenn's dir recht ist, lieber Freund, so will ich dir die zwanzigtausend geben und außerdem einen Wechsel über achtzigtausend. Also abgemacht! Gib mir einen Kuß!«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 289-295.
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