IX

[278] Wie immer, teilte sich auch damals die höhere Gesellschaft, die bei Hof und auf großen Bällen zusammenkam, in mehrere Kreise, von denen ein jeder seine besondere Färbung hatte. Unter diesen Kreisen war der größte der französische Kreis, der durch seine Zusammensetzung die Allianz mit Napoleon zur Anschauung brachte, und an dessen Spitze der Reichskanzler Graf Rumjanzew und der französische Gesandte Graf Caulaincourt standen. In diesem Kreis nahm Helene, seit sie wieder bei ihrem Mann in Petersburg wohnte, eine sehr bedeutende Stellung ein. In ihrem Salon verkehrten die Herren von der französischen Gesandtschaft und eine große Anzahl als geistreich und liebenswürdig bekannter Männer, die dieser Richtung angehörten.

Helene war in Erfurt zur Zeit der berühmten Kaiserzusammenkunft gewesen und hatte diese Beziehungen zu allen napoleonischen Notabilitäten Europas von dort mitgebracht. In Erfurt[278] hatte sie einen glänzenden Erfolg gehabt. Napoleon selbst, dem sie im Theater aufgefallen war, hatte von ihr gesagt: »Ein großartiger Leib!« Über ihren Erfolg als schöne, elegante Frau wunderte Pierre sich nicht, da sie mit den Jahren noch schöner geworden war als früher. Aber etwas anderes setzte ihn in Erstaunen: daß seine Frau in diesen zwei Jahren den Ruf »einer anziehenden, ebenso geistvollen wie schönen Frau« erworben hatte. Der bekannte Fürst von Ligne schrieb ihr acht Seiten lange Briefe; Bilibin hielt seine Witzworte zurück, um sie im Salon der Gräfin Besuchowa zum erstenmal von sich zu geben. In dem Salon der Gräfin Besuchowa empfangen zu werden galt als eine Art von urkundlichem Beleg dafür, daß man ein Mann von Geist sei. Die jungen Männer studierten vor Helenes Abendgesellschaften allerlei Bücher durch, um Stoff zu haben, über den sie in ihrem Salon sprechen könnten, und die Gesandtschaftssekretäre, ja sogar die Gesandten selbst vertrauten ihr diplomatische Geheimnisse an, so daß Helene in gewissem Sinn eine Macht war. Pierre, welcher wußte, daß sie sehr dumm war, empfand mitunter ein seltsames Gefühl von Staunen und Angst, wenn er bei ihren Soireen und Diners zugegen war und dabei über Politik, Poesie und Philosophie gesprochen wurde. Es war ihm bei solchen Gelegenheiten ungefähr wie einem Taschenspieler zumute, der jeden Augenblick erwarten muß, daß ein Betrug zutage kommt. Aber mochte es nun daher kommen, daß gerade eine Portion Dummheit dazu nötig ist, um einen solchen Salon zu halten, oder daher, daß die Betrogenen selbst an dem Betrug Vergnügen fanden: genug, der Betrug wurde nicht aufgedeckt, und der Ruf der Gräfin Jelena Wasiljewna Besuchowa als einer interessanten, geistvollen Frau stand so unerschütterlich fest, daß sie die ärgsten Plattheiten und Dummheiten sagen konnte und doch alle Leute von jedem ihrer Worte[279] entzückt waren und darin einen tiefen Sinn suchten, von dem sie selbst keine Ahnung hatten.

Pierre war gerade der Gatte, den diese glänzende Weltdame brauchte. Er war ein zerstreuter Sonderling und als Ehemann ein Grandseigneur, der niemand störte und nicht nur den allgemeinen Eindruck des erstklassigen Salons nicht verdarb, sondern der Eleganz und dem Takt seiner Frau durch sein ganz entgegengesetztes Verhalten als vorteilhafter Hintergrund diente. Pierre, der sich in diesen zwei Jahren beständig und angelegentlich nur mit nichtmateriellen Interessen beschäftigt hatte und alles übrige herzlich geringschätzte, redete in den ihm sehr uninteressanten Gesellschaften seiner Frau mit allen in jenem gleichgültigen, lässigen, wohlwollenden Ton, den man sich nicht künstlich aneignen kann, und der eben darum dem Hörer unwillkürlich Achtung abzwingt. Er ging in den Salon seiner Frau wie ins Theater, war mit allen bekannt, sprach allen in gleicher Weise seine Freude aus, sie zu sehen, und ließ alle in gleicher Weise merken, daß sie ihm völlig gleichgültig waren. Manchmal, wenn ihn ein Gespräch interessierte, beteiligte er sich daran und sprach dann ohne Rücksicht darauf, ob die Herren von der Gesandtschaft anwesend waren oder nicht, in seiner lispelnden Manier seine Ansichten aus, die mit dem Ton, der zu der betreffenden Zeit der herrschende war, oft recht wenig harmonierten. Aber das Urteil über den wunderlichen Gatten der distinguiertesten Frau von ganz Petersburg stand bereits so fest, daß niemand seine schroffen Auslassungen ernst nahm.

Unter den vielen jungen Männern, die nach Helenes Rückkehr aus Erfurt täglich in ihrem Haus aus und ein gingen, konnte Boris Drubezkoi, der es in seiner dienstlichen Laufbahn schon recht weit gebracht hatte, als der intimste Freund des Besuchowschen Hauses betrachtet werden. Helene nannte ihn »mein Page«[280] und behandelte ihn wie einen Knaben. Ihr Lächeln im Verkehr mit ihm war dasselbe wie allen gegenüber; aber manchmal hatte Pierre eine unangenehme Empfindung, wenn er dieses Lächeln sah. Boris benahm sich gegen Pierre mit besonderem Respekt, der etwas Würdevolles, Trübes an sich hatte. Diese besondere Nuance der Respektsbezeigung hatte gleichfalls die Wirkung, Pierre zu beunruhigen. Pierre hatte drei Jahre vorher so schwer unter der Kränkung gelitten, die ihm seine Frau angetan hatte, daß er sich jetzt vor der Möglichkeit einer ähnlichen Kränkung erstens dadurch zu retten suchte, daß er nicht der Mann seiner Frau war, und zweitens dadurch, daß er absichtlich jeden Verdacht von vornherein zurückwies.

»Nein, jetzt, wo sie ein Blaustrumpf geworden ist, hat sie den früheren Gelüsten für immer Valet gesagt«, dachte er. »Es hat noch nie ein Beispiel gegeben, daß Blaustrümpfe sinnliche Regungen gehabt hätten«, fügte er im stillen hinzu; aber woher er diese Regel, an die er fest glaubte, eigentlich entnommen hatte, das war nicht zu sagen. Trotzdem jedoch übte Boris' Anwesenheit in dem Salon seiner Frau (und Boris war fast beständig dort) auf Pierre eine merkwürdige physische Wirkung aus: alle seine Glieder waren wie gefesselt, und seine Bewegungen hörten auf, frei und unbewußt zu sein.

»Eine seltsame Antipathie!« dachte Pierre. »Und früher hat er mir doch sogar ganz gut gefallen!«

In den Augen der Welt war Pierre ein großer Herr, der etwas blinde, komische Gatte einer berühmten Frau, ein intelligenter Sonderling, der nichts Nützliches tat, aber auch niemandem schadete, von Charakter ein braver, guter Mensch. Aber in Pierres Innerem ging während dieser ganzen Zeit ein komplizierter, schwieriger seelischer Entwicklungsprozeß vor, der ihn vieles verstehen lehrte und ihn durch Zweifel hindurch zu schönen Freuden führte.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 278-281.
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