XIV

[304] Am 31. Dezember, dem Silvesterabend vor Beginn des Jahres 1810, fand bei einem der Großen aus der Zeit der Kaiserin Katharina ein Ball statt. Zu diesem Ball war auch das ganze diplomatische Korps eingeladen, und auch der Kaiser hatte sein Erscheinen zugesagt.

Auf dem Englischen Kai erstrahlte das berühmte Haus des Großwürdenträgers vom Schein unzähliger Lichter. An dem hellerleuchteten Portal war der Fußboden mit rotem Tuch belegt. Dort an der Auffahrt stand Polizei, nicht nur gewöhnliche Gendarmen, sondern der Polizeimeister selbst und ein Dutzend Polizeioffiziere.

Sowie eine Equipage wegfuhr, folgte auch schon wieder eine neue, mit Lakaien in roten Livreen und Federhüten. Aus den Equipagen stiegen Männer in Uniformen, mit Ordenssternen und Ordensbändern; Damen in Atlas und Hermelin stiegen vorsichtig über die geräuschvoll herabgeschlagenen Wagentritte hinab und schritten eilig und lautlos über das Tuch in das Portal hinein.

Fast jedesmal, wenn eine neue Equipage vorfuhr, lief ein Flüstern durch die Menge, und alle nahmen die Mützen ab.

»Der Kaiser ...? Nein, ein Minister ... ein Prinz ... ein Gesandter ... Siehst du wohl den Federbusch?« hieß es im Schwarm der Zuschauer.

Einer aus der Menge, der besser gekleidet war als die andern, schien alle Anfahrenden zu kennen und nannte den übrigen die Namen der vornehmsten Großen jener Zeit.

Schon hatte sich der dritte Teil der Gäste zu diesem Ball eingefunden; aber bei Rostows, die ebenfalls eingeladen waren und den Ball besuchen wollten, waren die Damen noch in größter Eile dabei, sich anzukleiden.[305]

Um dieses Balles willen hatten in der Familie Rostow viele Erörterungen stattgefunden, und viele Vorbereitungen waren getroffen worden, und viele Befürchtungen hatten Unruhe erregt: würden sie auch eine Einladung erhalten, und würden die Kleider rechtzeitig fertig werden, und würde an diesen auch alles nach Wunsch ausgefallen sein?

Mit Rostows zusammen sollte Marja Ignatjewna Peronskaja auf den Ball fahren, eine Freundin und Verwandte der Gräfin, eine hagere, gelbliche Hofdame des alten Hofes, die den Provinzlern Rostow in den höchsten Petersburger Gesellschaftskreisen als Führerin und Ratgeberin diente.

Um zehn Uhr abends sollten Rostows die Hofdame vom Taurischen Garten abholen; aber jetzt waren es schon fünf Minuten vor zehn, und die jungen Mädchen waren noch nicht angekleidet.

Es war der erste große Ball, den Natascha in ihrem Leben besuchte. Sie war an diesem Tag um acht Uhr morgens aufgestanden und hatte sich den ganzen Tag über in fieberhafter Unruhe und Tätigkeit befunden. Alle ihre Kräfte waren vom frühen Morgen an darauf gerichtet gewesen, daß sie alle drei, sie selbst und die Mama und Sonja, auch wirklich recht schön gekleidet wären. Sonja und die Gräfin hatten sich in dieser Hinsicht völlig in Nataschas Hände gegeben. Die Gräfin sollte ein dunkelrotes Samtkleid tragen und die beiden jungen Mädchen weiße Kreppkleider über rosaseidenen Unterkleidern, mit Rosen am Mieder. Die Haare sollten à la grecque frisiert sein.

Alles Wesentliche war bereits getan: Füße, Arme, Hals und Ohren waren schon mit besonderer Sorgfalt ballmäßig gewaschen, parfümiert und gepudert; die durchbrochenen seidenen Strümpfe und die weißen Atlasschuhe mit den Bandschleifen waren schon angezogen, die Frisuren fast fertig. Sonja brachte an ihrem Anzug nur noch die letzten Kleinigkeiten in Ordnung, die Gräfin[306] ebenfalls; aber Natascha, die sich mit allen geschäftig abgemüht hatte, war noch weit zurück. Sie saß noch, mit dem Frisiermantel um die mageren Schultern, vor dem Spiegel. Sonja stand, schon angekleidet, mitten im Zimmer und steckte, mit ihrem feinen Finger so stark zudrückend, daß er ihr weh tat, das unter der Stecknadel knirschende letzte Band fest.

»Nicht so, nicht so, Sonja!« rief Natascha; sie drehte dabei den Kopf, der gerade frisiert wurde, und griff sich dann mit den Händen nach den Haaren, da das Stubenmädchen, das diese festhielt, sie nicht so schnell hatte loslassen können. »Nicht so die Schleife; komm mal her!«

Sonja kauerte sich vor ihr nieder. Natascha steckte ihr das Band anders.

»Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, aber so kann ich Sie wirklich nicht frisieren«, sagte das Stubenmädchen, das Nataschas Haar in den Händen hatte.

»Ach, mein Gott, gleich, gleich! Siehst du, so, Sonja!«

»Seid ihr bald soweit?« fragte die Gräfin vom Nebenzimmer aus. »Es ist gleich zehn.«

»Im Augenblick! Sind Sie denn fertig, Mama?«

»Ich habe mir nur noch die Toque anzustecken.«

»Tun Sie es ja nicht ohne mich!« rief Natascha. »Sie verstehen das nicht ordentlich.«

»Aber es ist schon zehn Uhr.«

Sie hatten gerechnet, daß sie um halb elf auf dem Ball sein wollten, und nun mußte Natascha sich erst noch anziehen, und dann mußten sie noch nach dem Taurischen Garten fahren.

Sowie die Frisur fertig war, lief Natascha im kurzen Unterkleid, unter dem die Ballschuhe zu sehen waren, und in einer Nachtjacke, die ihrer Mutter gehörte, zu Sonja hin, musterte sie von allen Seiten und eilte dann zur Mutter. Indem sie ihr den[307] Kopf hin und her drehte, steckte sie ihr die Toque fest; sie ließ sich kaum Zeit, ihr einen Kuß auf das graue Haar zu drücken, und lief wieder zu den Stubenmädchen hin, die ihr den Rock des Kreppkleides kürzer nähten.

Denn es war noch ein Hemmnis zu beseitigen: Nataschas Kleiderrock war zu lang. Zwei Mädchen waren damit beschäftigt, ihn kürzer zu nähen, wobei sie eilig die Fäden abbissen. Eine dritte, mit Stecknadeln zwischen den Lippen und Zähnen, kam aus dem Zimmer der Gräfin zu der mithelfenden Sonja gelaufen; die vierte hielt das Kreppkleid, an dem genäht wurde, in der hochgehobenen Hand.

»Mawruscha, bitte, recht schnell, Liebe, Gute!«

»Reichen Sie mir von da den Fingerhut, gnädiges Fräulein!«

»Na, seid ihr endlich soweit?« fragte der Graf hinter der angelehnten Tür. »Was habt ihr aber für schönes Parfüm! Die Peronskaja wartet gewiß schon ungeduldig.«

»Fertig, gnädiges Fräulein«, sagte das eine Stubenmädchen, hob das verkürzte Kreppkleid mit zwei Fingern in die Höhe, indem sie dagegen blies und es schüttelte, wie wenn sie dadurch ihre Freude über die Duftigkeit und Sauberkeit dessen, was sie da hielt, zum Ausdruck bringen wollte.

Natascha machte sich daran, das Kleid anzuziehen.

»Gleich, gleich! Komm jetzt nicht herein, Papa!« rief sie, noch unter dem Krepprock hervor, der ihr Gesicht verdeckte, dem Vater zu, der im Begriff war, die Tür zu öffnen.

Sonja schlug die Tür zu. Eine Minute darauf wurde der Graf hereingelassen. Er war in blauem Frack, Kniestrümpfen und Schuhen, parfümiert und pomadisiert.

»Ach, Papa, wie hübsch du aussiehst! Ganz entzückend!« rief Natascha, die mitten im Zimmer stand und die Falten des Kreppkleides ordnete.[308]

»Erlauben Sie, gnädiges Fräulein, erlauben Sie!« sagte eines der Stubenmädchen, das neben Natascha kniete, das Kleid zurechtzupfte und die Stecknadeln mit der Zunge von einer Seite des Mundes nach der anderen schob.

»Nimm's mir nicht übel!« rief Sonja ganz verzweifelt, indem sie Nataschas Kleid betrachtete, »nimm's mir nicht übel, aber es ist noch zu lang!«

Natascha trat etwas weiter zurück, um sich im Trumeau sehen zu können. Das Kleid war zu lang.

»Bei Gott, gnädiges Fräulein, es ist nicht zu lang«, beteuerte Mawruscha, die auf dem Fußboden hinter Natascha herrutschte.

»Nun, wenn es zu lang ist, nähen wir es noch weiter um; damit sind wir in einer Minute fertig«, sagte die resolute Dunjascha, zog eine Nähnadel aus ihrem Brusttuch und machte sich von neuem auf dem Fußboden an die Arbeit.

In diesem Augenblick trat, in Samtkleid und Toque, mit leisen Schritten, wie verschämt, die Gräfin ins Zimmer.

»Ei, ei! Meine schöne Frau!« rief der Graf. »Sie ist schöner als ihr alle zusammen!« Er wollte sie umarmen; aber sie trat errötend zurück, um sich nichts zerdrücken zu lassen.

»Mama, die Toque muß mehr seitwärts sitzen!« rief Natascha. »Ich werde sie Ihnen zurechtstecken.« Mit diesen Worten lief sie vorwärts auf die Mutter zu; aber die Mädchen, die das Kleid verkürzten, konnten ihr nicht so schnell nachkommen, und es riß ein Stückchen Krepp ab.

»O mein Gott!« rief Natascha erschrocken. »Was war das? Ich kann wahrhaftig nichts dafür ...«

»Das tut nichts«, tröstete Dunjascha. »Ich nähe es wieder an; dann sieht es kein Mensch.«

»Ach, wie wunderschön! Mein Prachtkind!« sagte von der Tür[309] aus die eintretende Kinderfrau. »Und unsere liebe Sonja! Nun, das sind einmal zwei allerliebste junge Damen ...!«

Um ein Viertel auf elf setzten sich endlich alle in die beiden Equipagen und fuhren fort. Aber sie mußten noch nach dem Taurischen Garten fahren.

Fräulein Peronskaja war schon bereit. Trotz ihres Alters und ihrer Häßlichkeit hatte sie dieselben Zurüstungen mit sich vorgenommen wie die Rostowschen Damen, wiewohl nicht mit solcher Unruhe und Hast (für sie war ein solcher Ball etwas Gewöhnliches); aber sie hatte ihren alten, unschönen Körper ebenso gewaschen, parfümiert und gepudert und sich ebenso sorgsam hinter den Ohren gesäubert; ja es hatte sogar, ganz ebenso wie bei Rostows, die bejahrte Kammerfrau voll Entzücken die Toilette der alten Hofdame bewundert, als diese im gelben Kleid, mit dem Namenszug der Kaiserin als Abzeichen ihrer Stellung, in den Salon getreten war.

Fräulein Peronskaja lobte die Toiletten der Rostowschen Damen. Die Rostowschen Damen ihrerseits lobten den auserlesenen Geschmack und die Eleganz der Toilette der Hofdame, und sorgfältig darauf bedacht, ihre Frisuren und Kleider nicht zu verderben, nahmen sie endlich alle um elf Uhr ihre Plätze in den Equipagen ein und fuhren zum Ball.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 304-310.
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