III

[244] Am andern Tag nahm Fürst Andrei, ohne abzuwarten, bis die Damen zum Vorschein kämen, nur vom Grafen Abschied und fuhr nach Hause.

Es war schon Anfang Juni, als Fürst Andrei bei der Rückkehr nach Bogutscharowo wieder in denselben Birkenhain einfuhr, in welchem jene alte, krumm gewachsene Eiche so eigenartige, merkwürdige Gedanken in ihm wachgerufen hatte. Die Glöckchen der Pferde klangen jetzt noch dumpfer im Wald als vor anderthalb Monaten; alles war jetzt voll und dicht und schattig; und die durch den Wald verstreuten jungen Tannen störten die allgemeine Schönheit nicht mehr: denn allgemeinen Charakter des Waldes sich anpassend, trieben auch sie wollige Sprossen von zartgrüner Farbe.

Den ganzen Tag über war es heiß gewesen; jetzt zog sich irgendwo ein Gewitter zusammen; aber vorläufig sandte nur eine kleine Wolke einen Sprühregen auf den Staub des Weges und auf die saftigen Blätter herab. Die linke Seite des Waldes lag im Schatten und war dunkel; die rechte, von der Nässe glänzend, blitzte in der Sonne, indem die Blätter nur leise im Wind schwankten. Alles stand in Blüte; die Nachtigallen schmetterten und flöteten bald nah, bald fern.

»Ja, hier in diesem Wald stand doch jene Eiche, in der ich mein Ebenbild erkannte«, dachte Fürst Andrei. »Ja, wo ist sie nur?« fragte er sich, nach der linken Seite des Weges blickend, und betrachtete bewundernd, ohne es selbst zu wissen, ohne sie zu erkennen, eben jene Eiche, die er suchte. Die alte Eiche, ganz verwandelt, breitete sich jetzt mit ihrem saftigen, dunkelgrünen Laub wie ein Zelt aus und schwelgte, kaum ein Blatt rührend, in den Strahlen der Abendsonne. Weder krumm gewachsene[245] Finger, noch Narben, noch altes Mißtrauen und Leid, nichts derartiges war mehr zu sehen. Quer durch die harte, hundertjährige Borke drangen ohne Äste saftige, grüne Blätter, so daß man kaum glauben mochte, daß diese Greisin sie hervorgebracht habe. »Ja, das ist dieselbe Eiche«, dachte Fürst Andrei, und plötzlich überkam ihn, eigentlich ohne tatsächliche Ursache, ein Frühlingsgefühl der Verjüngung und der Freude. Alle diejenigen Augenblicke seines Lebens, wo wahrhaft gute Empfindungen sein Herz erfüllt hatten, kamen ihm gleichzeitig ins Gedächtnis: Austerlitz mit dem hohen Himmel, und das vorwurfsvolle Antlitz seiner toten Frau, und Pierre auf der Fähre, und das von der Schönheit der Nacht so mächtig erregte junge Mädchen, und diese Nacht selbst und der Mond – das alles war ihm auf einmal wieder gegenwärtig.

»Nein, das Leben ist noch nicht abgeschlossen, wenn man einunddreißig Jahre alt ist«, das war das endgültige, unumstößliche Resultat dieser Gedanken. »Es genügt nicht«, dachte Fürst Andrei, »daß ich selbst weiß, was alles in meiner Seele wohnt; auch alle andern sollen es erfahren: Pierre und dieses junge Mädchen, das in den Himmel fliegen wollte; alle sollen sie mich kennenlernen, damit mein Leben nicht für mich allein dahingehe, und damit sie ihr Leben nicht so abgetrennt und unberührt von dem meinigen führen, und damit mein Leben auf sie alle zurückwirke, und damit sie alle mit mir vereint leben!«


Nach der Rückkehr von seiner Reise beschloß Fürst Andrei, im Herbst nach Petersburg zu fahren, und sann sich verschiedene Gründe für diesen Entschluß aus. Er hatte jeden Augenblick eine ganze Reihe logischer Vernunftbeweise zur Verfügung, weshalb er unbedingt nach Petersburg gehen und sogar wieder in den[246] Dienst treten müsse. Ja, es war ihm jetzt ganz unbegreiflich, wie er jemals an der Notwendigkeit, tätigen Anteil am Leben zu nehmen, hatte zweifeln können, gerade wie er einen Monat vorher nicht begriffen hatte, wie ihm der Gedanke in den Sinn kommen könnte, vom Land fortzuziehen. Es schien ihm jetzt ganz klar, daß seine gesamten Lebenserfahrungen nutzlos und vergebliche Mühe sein würden, wenn er sie nicht praktisch verwertete und nicht wieder tätigen Anteil am Leben nähme. Es war ihm jetzt sogar unbegreiflich, wie er früher hatte meinen können (und doch hatte er es aufgrund ebenso armseliger Vernunftbeweise gemeint), daß es seiner unwürdig sei, nach seinen trüben Lebenserfahrungen den Glauben an die Möglichkeit, Nutzen zu stiften, und den Glauben an die Möglichkeit von Glück und Liebe festzuhalten. Jetzt flüsterte ihm seine Vernunft ganz andere Ratschläge zu. Seit seiner Reise hatte Fürst Andrei angefangen, sich auf dem Land zu langweilen, seine früheren Beschäftigungen interessierten ihn nicht mehr, und oft, wenn er allein in seinem Zimmer saß, stand er auf, trat zum Spiegel und blickte lange sein Gesicht an. Dann wandte er sich ab und betrachtete das Porträt der verstorbenen Lisa, die mit à la grecque frisierten Locken ihn freundlich und heiter aus ihrem goldenen Rahmen anblickte. Sie sprach zu ihrem Mann jetzt nicht mehr die früheren furchtbaren Worte; sie blickte ihn harmlos und fröhlich und mit einem Ausdruck von Neugier an. Und Fürst Andrei ging, die Hände auf den Rücken gelegt, lange im Zimmer auf und ab, bald mit finsterer Miene, bald lächelnd, und überließ sich jenen Gedanken, die mit der Vernunft nichts zu tun hatten, die sich mit Worten nicht aussprechen ließen, und die er wie ein Verbrechen geheimhalten zu müssen glaubte, jenen Gedanken, die mit Pierre und mit dem Ruhm und mit dem Mädchen am Fenster und mit der Eiche und mit weiblicher Schönheit und mit[247] der Liebe zusammenhingen und sein ganzes Leben verändert hatten. Und in solchen Augenblicken benahm er sich, wenn jemand zu ihm ins Zimmer trat, besonders trocken, streng und scharf und brachte namentlich in unfreundlicher Weise die Logik zur Anwendung.

»Lieber Bruder«, sagte zum Beispiel einmal Prinzessin Marja, als sie in einem solchen Augenblick hereinkam, »unser kleiner Nikolai kann heute nicht Spazierengehen; es ist sehr kalt.«

»Wenn es warm wäre«, erwiderte Fürst Andrei seiner Schwester in trockenem Ton, »dann würde er im bloßen Hemd ausgehen; da es nun aber kalt ist, so muß man ihm warme Kleidung anziehen, die ja eben zu diesem Zweck erfunden ist. Das also folgt daraus, daß es kalt ist, nicht aber, daß er zu Hause bleiben müßte, obwohl doch ein kleines Kind frische Luft braucht.« So redete er mit besonderer Herauskehrung der Logik, wie wenn er für all die geheime, unlogische Geistestätigkeit, die in ihm vorging, einen andern bestrafen wollte.

Prinzessin Marja dachte in solchen Fällen erstaunt, was für ein trockenes Wesen doch die Männer infolge der geistigen Arbeit bekommen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 244-248.
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