IV

[248] Fürst Andrei kam im August 1809 in Petersburg an. Es war die Zeit, wo der Ruhm des jungen Speranski auf seiner höchsten Höhe stand, und wo an den von ihm betriebenen Reformen mit dem größten Eifer gearbeitet wurde. Gerade in diesem Monat war der Kaiser bei einer Wagenfahrt aus dem Wagen gefallen, hatte sich den Fuß beschädigt und blieb nun drei Wochen lang in Peterhof, wo er täglich und ausschließlich mit Speranski konferierte. In dieser Zeit wurden nicht nur zwei sehr bedeutsame und in der höheren Gesellschaft Aufregung hervorrufende[248] Ukase über die Aufhebung von Privilegien der Hofchargen und über die Examina für die Ämter der Kollegienassessoren und Staatsräte fertiggestellt, sondern auch eine vollständige Reichsverfassung, durch welche das ganze bestehende Regierungssystem auf gerichtlichem, administrativem und finanziellem Gebiet vom Reichsrat bis zur Dorfgemeinde eine durchgreifende Veränderung erfahren sollte. Jetzt begannen sich jene unklaren liberalen Ideen zu verwirklichen, mit denen Kaiser Alexander den Thron bestiegen hatte, und die er früher mit Hilfe seiner Mitarbeiter Ezartoryski, Rowosilzew, Kotschubei und Stroganow, die er selbst im Scherz seinen Wohlfahrtsausschuß zu nennen pflegte, durchzuführen bemüht gewesen war.

Jetzt waren sie alle zusammen durch zwei Männer ersetzt worden: durch Speranski in Zivilangelegenheiten und durch Araktschejew in Militärangelegenheiten.

Fürst Andrei war bald nach seiner Ankunft in seiner Eigenschaft als Kammerherr bei Hof und zur Cour erschienen. Aber der Kaiser, dem er dabei zweimal vor Augen gekommen war, hatte ihn keines Wortes gewürdigt. Fürst Andrei hatte schon früher immer den Eindruck gehabt, daß er dem Kaiser unsympathisch sei, daß dem Kaiser sein Gesicht und sein ganzes Wesen nicht zusage. In dem kalten, abweisenden Blick, mit dem ihn der Kaiser jetzt angesehen hatte, fand Fürst Andrei eine neue Bestätigung dieser Vermutung. Die Hofleute dagegen erklärten dem Fürsten Andrei gegenüber diese Nichtbeachtung seitens des Kaisers damit, daß Seine Majestät es übel vermerkt habe, daß Bolkonski seit dem Jahr 1805 nicht mehr im Dienst sei.

»Ich weiß selbst nur zu gut, wie machtlos wir unsern Sympathien und Antipathien gegenüberstehen«, dachte Fürst Andrei, »und daher ist gar nicht daran zu denken, daß ich meine Denkschrift über die militärischen Reglements dem Kaiser persönlich[249] überreichen könnte. Aber die Sache wird für sich selbst sprechen.«

Er machte einem alten Feldmarschall, einem Freund seines Vaters, brieflich von seiner Denkschrift Mitteilung. Der Feldmarschall gab ihm eine Stunde an, empfing ihn freundlich und versprach, dem Kaiser darüber zu berichten. Einige Tage darauf erhielt Fürst Andrei die Weisung, sich beim Kriegsminister, dem Grafen Araktschejew, einzufinden.


An dem festgesetzten Tag um neun Uhr morgens stellte sich Fürst Andrei im Wartezimmer des Grafen Araktschejew ein.

Persönlich kannte Fürst Andrei den Grafen Araktschejew nicht; er hatte ihn nie gesehen; aber alles, was er von ihm wußte, flößte ihm wenig Achtung vor diesem Mann ein.

»Er ist Kriegsminister«, dachte aber Fürst Andrei, »der Vertrauensmann des Kaisers; um seine persönliche Eigenschaften hat sich niemand zu kümmern. Er hat den Auftrag, meine Denkschrift zu prüfen; folglich ist er der einzige Mensch, der meinen Ideen freie Bahn schaffen kann.« Mit solchen Gedanken wartete Fürst Andrei in dem Wartezimmer des Grafen Araktschejew unter vielen anderen Leuten hohen und niederen Ranges.

Fürst Andrei hatte während seiner Dienstzeit, namentlich in seiner Stellung als Adjutant, viele Wartezimmer hoher Persönlichkeiten zu sehen bekommen und kannte den verschiedenen Charakter dieser Wartezimmer recht genau. Aber das Wartezimmer des Grafen Araktschejew repräsentierte einen ganz besonderen Typus. Auf den Gesichtern der geringeren Personen, die hier darauf warteten, daß sie an die Reihe kämen, Audienz zu erhalten, prägte sich eine gewisse Ängstlichkeit und Unterwürfigkeit aus; bei den höhergestellten Personen kam durchweg ein gemeinsames Gefühl der Unbehaglichkeit zum Ausdruck, das sich[250] unter der Maske der Ungeniertheit und des Spottes über sich selbst, über die eigene Situation und über die Persönlichkeit, bei der man auf die Audienz wartete, zu verbergen suchte. Manche gingen, mit ihren Gedanken beschäftigt, hin und her; andere flüsterten und lachten miteinander, und Fürst Andrei hörte den Spitznamen Sila Andrejewitsch1 und die Worte: »Der Onkel wird Ihnen gehörig den Kopf waschen«, die sich auf den Grafen Araktschejew bezogen. Ein General von sehr hohem Rang fühlte sich offenbar dadurch beleidigt, daß er so lange warten mußte; er saß, verächtlich vor sich hinlächelnd, da und legte die Beine bald so, bald so übereinander.

Aber sobald sich die Tür öffnete, zeigte sich auf allen Gesichtern ein und derselbe Ausdruck: der der Furcht. Fürst Andrei bat den diensttuenden Adjutanten schon zum zweitenmal, ihn doch zu melden; aber die Anwesenden blickten ihn spöttisch an, und es wurde ihm gesagt, daß es streng nach der Reihe gehe und er warten müsse, bis er drankomme. Nachdem mehrere andere Personen durch den Adjutanten in das Zimmer des Ministers hineingeführt und wieder herausgeleitet waren, wurde in die schreckliche Tür ein Offizier hineingelassen, der dem Fürsten Andrei durch seine niedergeschlagene, ängstliche Miene auffiel. Die Audienz dieses Offiziers dauerte ziemlich lange. Auf einmal hörte man durch die Tür hindurch das grollende Schelten einer unangenehm klingenden Stimme; der Offizier kam mit blassem Gesicht und zitternden Lippen wieder heraus und ging, sich an den Kopf greifend, durch das Wartezimmer hindurch.[251]

Gleich darauf wurde Fürst Andrei zu der Tür geleitet, und der diensttuende Adjutant flüsterte ihm zu: »Nach rechts, zum Fenster!«

Fürst Andrei trat in das einfach ausgestattete, saubere Arbeitszimmer und erblickte am Tisch einen Mann von etwa vierzig Jahren, mit langer Taille, langem, kurzgeschorenem Kopf, mit dicken Falten auf der Stirn und zusammengezogenen Brauen über braungrünen, stumpfblickenden Augen, und mit einer hängenden roten Nase. Araktschejew wandte den Kopf zu ihm hin, ohne ihn anzusehen.

»Um was bitten Sie?« fragte der Minister.

»Ich bitte um nichts, Euer Erlaucht«, antwortete Fürst Andrei ruhig.

Jetzt richteten sich Araktschejews Augen nach ihm hin.

»Setzen Sie sich«, sagte er. »Fürst Bolkonski?«

»Ich bitte um nichts; aber Seine Majestät der Kaiser haben geruht, Euer Erlaucht eine von mir eingereichte Denkschrift zuzustellen ...«

»Ja, sehen Sie, mein Bester, Ihre Denkschrift habe ich gelesen«, unterbrach ihn Araktschejew; er hatte nur die ersten Worte freundlich gesagt, blickte dem Fürsten Andrei nicht mehr ins Gesicht und geriet immer mehr und mehr in einen mürrischen, geringschätzigen Ton hinein. »Sie schlagen neue Militärreglements vor? Reglements haben wir genug, so viele, daß niemand auch nur die alten alle befolgen kann. Heutzutage schreiben alle Leute Reglements; schreiben ist leichter als handeln.«

»Ich bin gemäß der Weisung Seiner Majestät hergekommen, um mich bei Euer Erlaucht zu erkundigen, welche weitere Folge Sie der von mir eingereichten Denkschrift zu geben beabsichtigen«, sagte Fürst Andrei höflich.

»Ich habe ein Urteil über Ihre Denkschrift abgefaßt und[252] diese dem Komitee übersandt. Ich stimme Ihnen nicht bei«, sagte Araktschejew, stand auf und nahm ein Papier vom Schreibtisch. »Hier!« Er reichte das Blatt dem Fürsten Andrei.

Auf dem Blatt war querüber, mit Bleistift, ohne einen großen Anfangsbuchstaben, unorthographisch und ohne Interpunktionszeichen folgendes geschrieben: »Eine ungründliche Arbeit, weil lediglich Nachahmung, abgeschrieben aus dem französischen Militärreglement und von den bestehenden Bestimmungen ohne Not abweichend.«

»Welchem Komitee ist denn die Denkschrift übergeben?« fragte Fürst Andrei.

»Dem Komitee für Militärgesetzgebung, und es ist von mir beantragt worden, Euer Wohlgeboren als Mitglied zu aggregieren. Aber ohne Gehalt.«

Fürst Andrei lächelte.

»Gehalt wünsche ich auch nicht.«

»Als Mitglied ohne Gehalt«, sagte Araktschejew noch einmal. »Ich habe die Ehre ... He! Ruf den nächsten! Wer ist noch da?« rief er und machte dem Fürsten Andrei eine Verbeugung.

Fußnoten

1 Graf Rastoptschin veröffentlichte im Jahre 1807 eine Broschüre: »Ein Selbstgespräch auf der Roten Treppe«. In ihr wird als redend der Oberstleutnant a.D. Sila Andrejewitsch Bogatyrjow eingeführt, welcher über die Vorliebe der Russen für französisches Wesen klagt.

Anmerkung des Übersetzers.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 248-253.
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