V

[253] Während Fürst Andrei eine Benachrichtigung darüber erwartete, daß er dem Komitee als Mitglied aggregiert sei, erneuerte er alte Bekanntschaften, namentlich mit solchen Persönlichkeiten, von denen er wußte, daß sie Einfluß besaßen und ihm nützlich sein konnten. Es erfüllte ihn jetzt in Petersburg ein ähnliches Gefühl wie damals am Tag vor der Schlacht, als ihn eine unruhige Neugier gequält und ihn unwiderstehlich zu jenen höheren Regionen hingezogen hatte, wo die Zukunft vorbereitet wurde, von der das Schicksal von Millionen Menschen abhing.[253] An dem erbitterten Ingrimm der Partei der Älteren, an der Neugier der Uneingeweihten, an der Zurückhaltung der Wissenden, an dem hastigen Treiben und unruhigen Wesen aller, an der zahllosen Menge von Komitees und Kommissionen (täglich hörte er von der Existenz neuer, ihm bisher unbekannter), an alledem merkte er, daß jetzt, im Jahre 1809, hier in Petersburg gewissermaßen eine gewaltige soziale Schlacht vorbereitet wurde, deren Oberkommandierender eine ihm unbekannte, geheimnisvolle, aber genial erscheinende Persönlichkeit war: Speranski.

Sowohl das Reformwerk selbst, das ihm nur in undeutlichen Umrissen bekannt war, als auch die eigentliche Triebfeder desselben, Speranski, begannen ihn so leidenschaftlich zu interessieren, daß die Angelegenheit des Militärreglements bei ihm sehr bald an die zweite Stelle zurücktreten mußte.

Fürst Andrei befand sich in einer außerordentlich günstigen Lage, durch die ihm eine gute Aufnahme in all den so verschiedenartigen Kreisen der damaligen Petersburger Gesellschaft, auch in den höchsten, gesichert wurde. Die Partei der Reformer empfing ihn freudig und suchte ihn für sich zu gewinnen, erstens, weil er in dem Ruf stand, einen guten Verstand und eine große Belesenheit zu besitzen, und zweitens, weil er durch seine Bauernbefreiung sich bereits die Reputation eines Liberalen erworben hatte. Die Partei der unzufriedenen Alten wandte sich an ihn, einfach weil er der Sohn seines Vaters war, und rechnete aus diesem Grund auf seine Zustimmung bei dem Verdammungsurteil über die Reformen. Die weibliche Gesellschaft, die »Welt«, nahm ihn mit Freuden auf, weil er ein reicher, vornehmer Heiratskandidat war und als eine beinahe neue Persönlichkeit, geschmückt mit dem Nimbus, den ihm die romanhafte Geschichte von seinem vermeintlichen Tod und dem tragischen Ende seiner Frau verlieh, in diesen Kreis trat.[254] Außerdem war bei allen, die ihn früher gekannt hatten, nur eine Stimme darüber, daß er sich in diesen fünf Jahren sehr zu seinem Vorteil verändert habe, milder und männlicher geworden sei, nicht mehr das frühere gekünstelte, hochmütige, spöttische Wesen zeige, sondern jene Ruhe gewonnen habe, die dem Menschen die Jahre verleihen. Man fing an, von ihm zu sprechen, man interessierte sich für ihn, und alle wünschten mit ihm umzugehen.

Am Tag nach dem Besuch bei dem Grafen Araktschejew war Fürst Andrei auf einer Abendgesellschaft bei dem Grafen Kotschubei. Er erzählte dem Grafen seine Unterredung mit »Sila Andrejewitsch« (auch Kotschubei nannte den Grafen Araktschejew so mit einer Nuance von Spott über dessen Richtung; dieselbe Nuance hatte Fürst Andrei schon in dem Wartezimmer des Kriegsministers herausgefühlt).

»Mein Lieber«, sagte Kotschubei, »auch in dieser Angelegenheit dürfen Sie Michail Michailowitsch Speranski nicht übergehen. Er ist der große Mann, der alles macht. Ich werde es ihm sagen. Er hat mir versprochen, heute abend herzukommen.«

»Was hat denn Speranski mit dem Militärreglement zu schaffen?« fragte Fürst Andrei.

Kotschubei wiegte lächelnd den Kopf hin und her, wie wenn er sich über Bolkonskis Naivität wunderte.

»Ich habe kürzlich mit ihm über Sie gesprochen«, fuhr Kotschubei fort, »über Ihre freien Bauern ...«

»Ja, was haben Sie denn da gemacht, Fürst? Sie haben Ihre Bauern freigelassen?« sagte ein alter, aus der Zeit der Kaiserin Katharina stammender Herr, der sich mit einer Miene geringschätzigen Tadels zu Bolkonski wandte.

»Es handelte sich nur um ein kleines Gut, das nichts einbrachte«, antwortete Bolkonski, der, um den alten Mann nicht[255] unnötig zu ärgern, sich bemühte, ihm gegenüber die Bedeutung seiner Handlungsweise abzuschwächen.

»Sie fürchten wohl, hinter dem Fürsten Bolkonski zurückzubleiben?« sagte der Alte, indem er Kotschubei anblickte.

»Ich begreife nur eines nicht«, fuhr er fort: »Wer wird denn das Land pflügen, wenn man sie freiläßt? Gesetze schreiben ist leicht; aber regieren ist schwer. Das sieht man auch jetzt bei dieser neuen Verordnung: ich frage Sie, Graf, wer wird denn noch Chef einer Gerichts- oder Verwaltungsbehörde werden, wenn alle erst ein Examen machen müssen?«

»Diejenigen, die das Examen bestehen, möchte ich meinen«, antwortete Kotschubei, schlug ein Bein über das andere und sah sich um.

»Da habe ich in meinem Departement einen Beamten, namens Prjanitschnikow; ein prächtiger Mensch, nicht mit Gold zu bezahlen; aber er ist sechzig Jahre alt; wird der noch Examina machen?«

»Ja, Schwierigkeiten hat die Sache, weil eben die Bildung noch sehr wenig Verbreitung gefunden hat; aber ...«

Graf Kotschubei sprach seinen Satz nicht zu Ende; er erhob sich, faßte den Fürsten Andrei unter den Arm und ging mit ihm einem soeben eintretenden Herrn entgegen. Es war ein hochgewachsener, kahlköpfiger, blonder Mann von etwa vierzig Jahren, mit großer, offener Stirn und ganz ungewöhnlich blasser Farbe des länglichen Gesichts; er trug einen blauen Frack, einen Orden um den Hals und einen andern auf der linken Brustseite. Dies war Speranski. Fürst Andrei erkannte ihn sofort und fühlte in seinem Innern ein Zucken und Zittern, wie das in wichtigen Augenblicken des Lebens häufig vorkommt. Ob es nun Hochachtung war, oder Neid, oder gespannte Erwartung, er wußte es nicht. Die ganze Erscheinung Speranskis hatte etwas Besonderes[256] an sich, woran man ihn sogleich erkennen konnte. Bei niemandem in den Gesellschaftskreisen, in denen Fürst Andrei lebte, hatte er so ruhige, selbstbewußte und dabei doch unbeholfene, anmutlose Bewegungen gesehen; bei niemandem einen so festen und zugleich weichen Blick der halbgeschlossenen und etwas feuchten Augen, ein so konsequent festgehaltenes, bedeutungsloses Lächeln, eine so feine, gleichmäßige, leise Stimme, und vor allem bei niemandem eine so zarte, weiße Farbe des Gesichts und namentlich auch der etwas breiten, ungewöhnlich fleischigen, zarten Hände. Eine solche Blässe und Zartheit des Gesichts hatte Fürst Andrei nur bei Soldaten gesehen, die lange im Hospital gewesen waren. Das also war Speranski, der Staatssekretär und vortragende Rat des Kaisers, den er auch nach Erfurt begleitet hatte, wo er mehrmals mit Napoleon zusammengetroffen war und mit ihm gesprochen hatte.

Speranski ließ seine Augen nicht von einem zum andern laufen, wie man das beim Eintritt in eine große Gesellschaft oft unwillkürlich tut, und beeilte sich nicht, zu reden. Er sprach leise, offenbar in der sicheren Überzeugung, daß man ihm zuhören werde, und blickte nur denjenigen an, mit dem er sprach.

Fürst Andrei achtete mit besonderer Aufmerksamkeit auf jedes Wort und jede Bewegung Speranskis. Wie es vielen Menschen geht, und namentlich solchen, die über ihre Mitmenschen streng zu urteilen pflegen, gab Fürst Andrei, wenn er einer neuen Persönlichkeit begegnete, und nun gar einem Mann wie Speranski, dessen bedeutenden Ruf er kannte, sich immer der Erwartung hin, in dem Betreffenden den Inbegriff menschlicher Vollkommenheit zu finden.

Speranski äußerte gegen Kotschubei sein Bedauern, daß er nicht habe früher kommen können, da er im Palais noch aufgehalten worden sei. Er sagte nicht, daß es der Kaiser gewesen war, der[257] ihn aufgehalten hatte. Auch diese erkünstelte Bescheidenheit entging dem Fürsten Andrei nicht. Als Kotschubei ihm den Fürsten Andrei vorstellte, ließ Speranski langsam seine Augen zu diesem hinübergleiten und betrachtete ihn schweigend mit demselben Lächeln.

»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen; ich habe von Ihnen gehört; und wer hätte von Ihnen nicht gehört?« sagte er.

Kotschubei sagte einige Worte über den Empfang, den Bolkonski bei Araktschejew gefunden hatte. Speranski lächelte noch mehr als vorher.

»Herr Magnizki, der Direktor des Komitees für Militärgesetzgebung, ist ein guter Freund von mir«, sagte er, indem er jede Silbe und jedes Wort deutlich aussprach, »und wenn Sie es wünschen, kann ich Sie mit ihm bekanntmachen.« (Er machte eine kleine Pause, als ob er zum Schluß dieses Satzes einen Punkt setzte.) »Ich hoffe, Sie werden an ihm einen Mann finden, der sich für alles Vernünftige interessiert und bereit ist, dabei mitzuwirken.«

Um Speranski bildete sich sogleich eine Gruppe; auch der alte Herr, der von seinem Beamten Prjanitschnikow gesprochen hatte, wendete sich mit einer Frage an Speranski.

Fürst Andrei beteiligte sich nicht an dem Gespräch, sondern beobachtete nur alle Bewegungen Speranskis, dieses Mannes, der vor nicht allzu langer Zeit ein unbedeutender Schüler der geistlichen Akademie gewesen war und jetzt in seinen Händen, diesen weißen, fleischigen Händen, das Schicksal Rußlands hielt. Dem Fürsten Andrei imponierte die außerordentliche, geringschätzige Ruhe, mit welcher Speranski dem alten Herrn antwortete. Es machte den Eindruck, als ob er von einer unermeßlichen Höhe herab ein paar leutselige Worte an ihn richtete. Als der alte Herr zu laut zu sprechen begann, bemerkte Speranski[258] lächelnd, jener habe wohl kein zuverlässiges Urteil darüber, ob das, was der Kaiser anordne, nützlich sei oder nicht.

Nachdem Speranski eine Zeitlang in dem allgemeinen Kreis sich an dem Gespräch beteiligt hatte, stand er auf, trat zum Fürsten Andrei und ging mit ihm nach dem andern Ende des Zimmers. Augenscheinlich hielt er es für angemessen, sich mit Bolkonski ganz besonders abzugeben.

»Infolge des lebhaften Gesprächs, in das ich durch diesen ehrenwerten alten Herrn hineingeriet, bin ich noch gar nicht dazu gekommen, Fürst, mit Ihnen zu reden«, sagte er mit einem milden, geringschätzigen Lächeln; durch dieses Lächeln konstatierte er gleichsam, daß er und Fürst Andrei über die Wertlosigkeit jener Leute, mit denen er soeben gesprochen hatte, einer Meinung seien; dieses Benehmen hatte für den Fürsten Andrei etwas Schmeichelhaftes. »Ich kenne Sie schon lange: erstens infolge Ihres Verfahrens mit Ihren Bauern; das ist bei uns das erste Beispiel, und es wäre höchst erwünscht, wenn es recht viele Nachahmer fände; und zweitens, weil Sie einer der wenigen Kammerherren sind, die sich durch den neuen Ukas über die Privilegien der Hofchargen, der so viel böses Blut gemacht hat, nicht beleidigt gefühlt haben.«

»Ja«, erwiderte Fürst Andrei, »mein Vater wollte nicht, daß ich von diesen Privilegien Vorteil zöge; ich habe meine militärische Laufbahn auf den untersten Stufen begonnen.«

»Ihr Herr Vater, ein Mann der alten Zeit, steht augenscheinlich hoch über der heutigen Generation, die über diese Maßnahme ein Verdammungsurteil fällt, obwohl dadurch doch lediglich die natürliche Gerechtigkeit wiederhergestellt wird.«

»Ich möchte indessen doch meinen, daß auch diese ungünstige Beurteilung nicht ohne eine gewisse Begründung ist«, sagte Fürst Andrei, der gegen die ihm fühlbar werdende Wirkung anzukämpfen suchte, die Speranski auf ihn ausübte.[259]

Es war ihm unangenehm, in allen Punkten mit ihm derselben Meinung zu sein: er wollte auch einmal widersprechen. Aber während er sonst gewöhnlich leicht und gut sprach, wurde es ihm jetzt im Gespräch mit Speranski schwer, die richtigen Ausdrücke zu finden. Er war zu sehr damit beschäftigt, die Persönlichkeit des berühmten Mannes zu studieren.

»Eine Begründung aus dem Interesse des persönlichen Ehrgeizes, mag sein«, schaltete Speranski leise und ruhig ein.

»Zum Teil doch auch aus dem Staatsinteresse«, entgegnete Fürst Andrei.

»Wie meinen Sie das?« fragte Speranski und schlug langsam die Augen nieder.

»Ich bin ein Verehrer Montesquieus«, sagte Fürst Andrei, »und sein Satz, daß die Grundlage der Monarchien das Ehrgefühl ist, scheint mir unbestreitbar. Und da scheinen mir gewisse Rechte und Privilegien des Adels geeignete Mittel zu sein, um dieses Gefühl lebendig zu erhalten.« Bei dem Zitat von Montesquieu war er unwillkürlich dazu übergegangen, französisch zu sprechen.

Das Lächeln verschwand auf Speranskis weißem Gesicht, wodurch seine Physiognomie noch bedeutend gewann. Der Gedanke, den Fürst Andrei geäußert hatte, interessierte ihn offenbar.

»Wenn Sie die Sache von diesem Gesichtspunkt aus ansehen«, begann er ebenfalls auf französisch; es wurde ihm offenbar schwer, sich dieser Sprache zu bedienen, und er sprach noch langsamer als vorher, wo sie russisch gesprochen hatten, aber auch jetzt mit vollkommener Ruhe.

Er äußerte sich dahin, das Ehrgefühl könne nicht durch Privilegien lebendig erhalten werden, die dem Interesse des Staatsdienstes zuwiderliefen. Das Ehrgefühl sei entweder ein negativer Begriff, so daß es in der Unterlassung tadelnswerter Handlungen[260] bestehe, oder es sei eine Quelle des Wetteifers, so daß es darauf abziele, Anerkennung und Belohnungen, die äußerlichen Kennzeichen der Ehre, zu erlangen.

»Eine solche Institution«, schloß er, »durch welche dieses Ehrgefühl, die Quelle des Wetteifers, lebendig erhalten wird, ist zum Beispiel die Ehrenlegion des großen Kaisers Napoleon, die den Interessen des Dienstes nicht schädlich, sondern förderlich ist, keineswegs aber Privilegien eines Standes oder der Hofchargen.«

»Das erstere bestreite ich nicht; aber es läßt sich nicht leugnen, daß durch die Privilegien der Hofchargen dasselbe Ziel erreicht worden ist«, sagte Fürst Andrei. »Jeder Hofmann hält sich für verpflichtet, die Stellung, die er vermöge seiner Privilegien erhält, würdig auszufüllen.«

»Und doch haben Sie selbst, Fürst, von diesen Privilegien keinen Gebrauch machen können«, erwiderte Speranski und zeigte durch sein Lächeln, daß er den für seinen Gegner ungünstig stehenden Streit durch eine Liebenswürdigkeit abzubrechen wünschte. »Wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen, mich am Mittwoch zu besuchen«, fügte er hinzu, »so werde ich nach vorgängiger Rücksprache mit Magnizki Ihnen alles mitteilen, was Sie interessieren kann, und werde außerdem das Vergnügen haben, mich ausführlicher mit Ihnen zu unterhalten.«

Dann schloß er für einen Moment die Augen, verbeugte sich und verließ auf französische Manier, ohne Abschied zu nehmen, möglichst unauffällig den Saal.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 253-261.
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