VIII

[273] Über Pierre kam nun wieder jene Schwermut, die er so sehr fürchtete. Nachdem er in der Loge seine Rede gehalten hatte, lag er drei Tage lang zu Hause auf dem Sofa; er empfing niemand und besuchte niemand.

In dieser Zeit erhielt er einen Brief von seiner Frau, die ihn inständig um eine Unterredung bat und schrieb, wie sehr sie sich nach ihm sehne und ihm ihr ganzes Leben zu weihen wünsche.

Am Schluß des Briefes teilte sie ihm mit, daß sie in den nächsten Tagen aus dem Ausland wieder in Petersburg eintreffen werde.

Bald nachdem Pierre diesen Brief empfangen hatte, drang[273] ein Bruder Maurer, den Pierre nicht sonderlich schätzte, zu ihm in seine Einsamkeit, leitete das Gespräch auf Pierres eheliche Verhältnisse und sagte ihm in Form eines brüderlichen Rates, seine Strenge gegen seine Frau sei ungerecht, und Pierre verstoße gegen die ersten Grundsätze der Freimaurerei, wenn er der Reuigen nicht verzeihe.

Um dieselbe Zeit schickte seine Schwiegermutter, die Frau des Fürsten Wasili, zu Pierre und ersuchte ihn dringend, sie wenigstens auf ein paar Minuten zu besuchen, da sie mit ihm über eine sehr wichtige Angelegenheit zu reden habe. Pierre sah, daß eine Verabredung gegen ihn bestand und man ihn wieder mit seiner Frau zusammenbringen wollte, und dies war ihm in dem Zustand, in dem er sich jetzt befand, nicht einmal unangenehm. Ihm war alles gleich: nichts im Leben erschien ihm wichtig, und unter dem Einfluß der Schwermut, die ihn in ihrem Bann hielt, legte er weder auf seine eigene Freiheit Wert noch auf eine hartnäckige Fortsetzung der Bestrafung seiner Frau.

»Niemand hat recht, niemand ist schuldig; also ist auch sie nicht schuldig«, dachte er.

Wenn Pierre nicht sofort seine Zustimmung zu seiner Wiedervereinigung mit seiner Frau aussprach, so unterließ er dies nur deswegen, weil er in dem Zustand von Schwermut, in dem er sich befand, überhaupt nicht die Kraft hatte, irgend etwas zu tun. Wäre seine Frau zu ihm gekommen, so hätte er sie jetzt nicht von sich gewiesen. War es denn im Vergleich mit dem, was ihn beschäftigte, nicht ganz gleichgültig, ob er mit seiner Frau zusammenlebte oder nicht?

Ohne seiner Frau oder seiner Schwiegermutter zu antworten, machte sich Pierre eines Abends reisefertig und fuhr nach Moskau, um Osip Alexejewitsch aufzusuchen. Über diesen Besuch trug Pierre in sein Tagebuch folgendes ein:
[274]

»Moskau, den 17. November.


Soeben komme ich von meinem Wohltäter zurück und beeile mich, alles zu notieren, was ich bei ihm gesehen und gehört habe. Osip Alexejewitsch lebt ärmlich und leidet schon seit mehr als zwei Jahren an einer schmerzhaften Blasenkrankheit. Aber nie hat jemand aus seinem Mund einen Seufzer oder ein Wort der Klage gehört. Er ist vom frühen Morgen bis spät in die Nacht hinein, mit einziger Ausnahme der Zeiten, wo er seine einfachen Mahlzeiten zu sich nimmt, mit wissenschaftlicher Arbeit beschäftigt. Er nahm mich freundlich auf und lud mich ein, mich auf das Bett zu setzen, auf dem er lag; ich machte ihm das Zeichen der Ritter vom Orient und von Jerusalem; er antwortete mir mit demselben Zeichen und befragte mich mit einem milden Lächeln nach dem, was ich in den preußischen und schottischen Logen erfahren und erworben hätte. Ich erzählte ihm alles, so gut ich es vermochte, ich teilte ihm die Leitgedanken mit, die ich in unserer Petersburger Loge in Vorschlag gebracht hatte, und berichtete ihm von der üblen Aufnahme, die ich dabei gefunden hatte, und von dem Bruch, der zwischen mir und den Brüdern erfolgt war. Osip Alexejewitsch schwieg längere Zeit und dachte nach; dann setzte er mir über alles dies seine Ansicht auseinander, die mir in einem Moment die gesamte Vergangenheit und den ganzen in der Zukunft vor mir liegenden Weg beleuchtete. Er setzte mich in Verwunderung durch die Frage, ob ich mich wohl erinnere, worin das dreifache Ziel des Ordens bestehe: 1. in der Bewahrung und Erkenntnis des Geheimnisses, 2. in der Läuterung und Besserung unseres eigenen Selbst, um jenes aufnehmen zu können, und 3. in der Besserung des Menschengeschlechts durch das Streben nach einer solchen Läuterung. Welches sei nun das erste und wichtigste Ziel unter diesen dreien? Gewiß doch die eigene Besserung und Läuterung. Nur nach[275] diesem Ziel seien wir imstande immer zu streben, unabhängig von allen äußeren Umständen. Aber gleichzeitig verlange gerade dieses Ziel von uns die allergrößte Anstrengung, und daher ließen wir, von unserm Dünkel auf einen Irrweg geleitet, gern dieses Ziel beiseite und nähmen entweder das Geheimnis in Angriff, das wir doch wegen unserer Unreinheit nicht würdig seien in uns aufzunehmen, oder die Besserung des Menschengeschlechts, obgleich wir doch den Menschen in unserer eigenen Person ein Beispiel von Schändlichkeit und Sittenlosigkeit gäben. Das Illuminatentum könne namentlich deswegen nicht als die reine Lehre betrachtet werden, weil es sich zu einer politischen Tätigkeit habe verleiten lassen und in einen falschen Dünkel hineingeraten sei. Aufgrund dieser Anschauung tadelte Osip Alexejewitsch meine Rede und meine ganze Tätigkeit. Ich stimmte ihm in der Tiefe meiner Seele zu. Als das Gespräch sich meinen Familienangelegenheiten zuwandte, sagte er zu mir: ›Die wichtigste Pflicht eines wahren Freimaurers besteht, wie ich Ihnen schon sagte, in der Vervollkommnung des eigenen Selbst. Aber wir denken oft, wir könnten dadurch, daß wir alle Schwierigkeiten des Lebens von uns fernhalten, dieses Ziel leichter erreichen. Das Gegenteil ist richtig, mein Herr! Nur inmitten der Erregungen, die das Leben in der Welt mit sich bringt, können wir die drei Hauptziele erreichen: 1. Selbsterkenntnis; denn der Mensch kann sich selbst nur durch Vergleich erkennen, 2. Vervollkommnung; denn zu dieser gelangt man nur durch Kampf, und 3. die Haupttugend: Liebe zum Tod; denn nur die Widerwärtigkeiten des Lebens können uns von der Wertlosigkeit des Lebens überzeugen und so die uns angeborene Sehnsucht nach dem Tod oder nach einer Wiedergeburt zu einem neuen Leben verstärken.‹ Diese Worte sind um so bemerkenswerter, da Osip Alexejewitsch trotz seiner schweren[276] körperlichen Leiden sich nie durch das Leben bedrückt fühlt, aber den Tod liebt, für den er trotz aller Reinheit und Erhabenheit seines inneren Menschen noch nicht genügend vorbereitet zu sein glaubt. Dann erklärte mir mein edler Freund in vollem Umfang die Bedeutung des großen Quadrates der Schöpfung und wies darauf hin, daß die Dreizahl und die Siebenzahl die Grundlage von allem sind. Er riet mir, mich nicht von der Gemeinschaft mit den Petersburger Brüdern zurückzuziehen und, da ich ja in der Loge nur die Pflichten des zweiten Grades zu erfüllen hätte, nach besten Kräften die Brüder vor den Verlockungen des Dünkels zu bewahren und sie auf den richtigen Weg der Selbsterkenntnis und Vervollkommnung zu leiten. Außerdem riet er mir, zu meinem eigenen Besten vor allen Dingen mich selbst zu beobachten, und gab mir zu diesem Zweck ein Heft, eben das, in welches ich schreibe, und in dem ich auch künftig alle meine Handlungen aufzeichnen werde.«


»Petersburg, den 23. November.


Ich lebe wieder mit meiner Frau zusammen. Meine Schwiegermutter kam in Tränen zu mir und sagte, Helene wäre hier und bäte mich inständig, sie anzuhören; sie sei schuldlos, sie sei unglücklich darüber, daß ich mich von ihr getrennt hätte, und vieles andere. Ich sah voraus, daß, wenn ich in ein Wiedersehen willigte, ich nicht imstande sein würde, ihr die Erfüllung ihres Wunsches länger zu versagen. In meinem Zweifel wußte ich nicht, an wen ich mich um Rat und Hilfe wenden sollte. Wäre mein Wohltäter hier, so hätte er mir das Richtige gesagt. Ich zog mich in mein Zimmer zurück, las die früheren Briefe Osip Alexejewitschs durch, rief mir die Gespräche mit ihm ins Gedächtnis zurück und kam aus alledem zu dem Resultat, daß ich einen Bittenden nicht abweisen darf, und daß ich verpflichtet bin, einem jeden die helfende Hand zu reichen, einem jeden und um wieviel mehr[277] jemandem, der so eng mit mir verbunden ist, und daß ich verpflichtet bin, mein Kreuz zu tragen. Aber wenn ich ihr um der Tugend willen verziehen habe, so soll auch meine Wiedervereinigung mit ihr nur einen geistigen Zweck haben. Das war die Entscheidung, zu der ich gelangte, und das schrieb ich auch an Osip Alexejewitsch. Ich sagte meiner Frau, ich bäte sie, alles Vergangene zu vergessen und mir das zu verzeihen, worin ich etwa ihr gegenüber gefehlt hätte; ich meinerseits hätte ihr nichts zu verzeihen. Es machte mir Freude, ihr das zu sagen. Sie soll nicht erfahren, wie schwer es mir geworden ist, sie wiederzusehen. Ich habe mich in dem großen Haus in den Zimmern des oberen Stockwerks einquartiert und empfinde das beglückende Gefühl der geistigen Wiedergeburt.«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 273-278.
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