X

[437] »Geht dir das auch manchmal so«, sagte Natascha zu ihrem Bruder, als sie sich im Sofazimmer hingesetzt hatten, »geht dir das auch manchmal so: man hat die Vorstellung, es werde nichts mehr geschehen, gar nichts, und alles Gute sei vergangen und vorbei, und es ist einem nicht sowohl langweilig als vielmehr traurig zumute?«

»Und ob mir das so geht!« erwiderte er. »Es ist mir schon vorgekommen, daß alles in schönster Ordnung war und alle Leute[437] vergnügt waren und ich dann auf einmal denken mußte, das sei doch alles furchtbar öde und das beste wäre, wenn alle stürben. Ich war, als ich beim Regiment war, einmal nicht auf die Promenade gegangen, wo die Musik spielte, und da überkam mich plötzlich ein solcher Widerwille ...«

»Ach ja, das kenne ich. Ich weiß, ich weiß«, unterbrach ihn Natascha. »Ich war noch ganz klein, da begegnete mir das einmal. Erinnerst du dich, ich wurde einmal wegen Pflaumenabpflückens bestraft, und ihr tanztet alle, und ich saß im Unterrichtszimmer und schluchzte; das werde ich nie vergessen: ich war traurig, und alle Menschen taten mir leid, ich selbst und alle; alle taten sie mir leid. Und, was die Hauptsache war, ich war unschuldig gewesen. Erinnerst du dich wohl noch?«

»Jawohl, ich erinnere mich«, antwortete Nikolai. »Ich erinnere mich, daß ich nachher zu dir kam und dich trösten wollte, und weißt du: ich hatte ein Gefühl, als müßte ich mich schämen. Wir waren furchtbar komisch. Ich hatte damals ein Spielzeug, ein ausgestopftes Tier, und das wollte ich dir geben. Besinnst du dich noch?«

»Und besinnst du dich noch«, sagte Natascha mit gedankenvollem Lächeln, »wie uns vor langer, langer Zeit, wir waren noch ganz klein, der Onkel in sein Zimmer rief, es war noch im alten Haus, und es war dunkel; wir kamen hin, und auf einmal stand da ...«

»Ein Neger«, fiel Nikolai mit vergnügtem Lächeln ein. »Wie werde ich mich denn daran nicht erinnern? Ich weiß auch heute noch nicht, ob wirklich ein Neger da war oder wir es nur geträumt haben oder jemand es uns erzählt hat.«

»Er war nicht schwarz, sondern grau, erinnerst du dich? und hatte weiße Zähne. Er stand da und sah uns an ...«

»Erinnern Sie sich auch noch daran, Sonja?« fragte Nikolai.[438]

»Ja, ja, ich erinnere mich auch an so etwas Ähnliches«, antwortete Sonja schüchtern.

»Ich habe nachher nach diesem Neger Papa und Mama gefragt«, sagte Natascha. »Sie sagten, es sei kein Neger dagewesen. Aber du erinnerst dich doch auch daran!«

»Gewiß, ich erinnere mich an seine Zähne, wie wenn es heute gewesen wäre.«

»Wie sonderbar das ist; gerade als ob es uns geträumt hätte. So etwas habe ich gern.«

»Und erinnerst du dich noch, wie wir einmal im Saal mit Ostereiern trudelten, und auf einmal waren da zwei alte Frauen und drehten sich auf dem Teppich herum? War das nun Wirklichkeit oder nicht? Erinnerst du dich, wie schön es war?«

»Ja. Und erinnerst du dich, wie Papa in seinem blauen Pelz auf der Freitreppe mit der Flinte schoß?«

So durchmusterten sie lächelnd mit dem Genuß, den eine nicht greisenhaft-traurige, sondern jugendlich-poetische Rückerinnerung gewährt, die aus der fernsten Vergangenheit noch haftenden Eindrücke, bei denen Traum und Wirklichkeit zusammenfließen. Und sie lachten leise und freuten sich.

Sonja blieb, wie immer, hinter ihnen zurück, obgleich diese Erinnerungen eigentlich ihnen allen dreien gemeinsam waren.

Sonja konnte sich an vieles von dem nicht erinnern, woran sich die beiden andern erinnerten; und auch das, woran sie sich erinnerte, erregte bei ihr nicht jene poetische Empfindung, welche die andern dabei genossen. Sie hatte ihr Vergnügen nur an der Freude der beiden und bemühte sich, eine ähnliche Freude zu zeigen.

Wirklichen Anteil nahm sie erst dann, als erwähnt wurde, wie[439] sie selbst zuerst zu der Familie gekommen sei. Sonja erzählte, wie sie sich vor Nikolai gefürchtet hätte, weil an seinem Jäckchen Schnüre gewesen wären und die Kinderfrau ihr gesagt habe, sie würde an diese Schnüre festgenäht werden.

»Und ich erinnere mich: mir sagten sie, du wärest unter einem Kohlkopf geboren«, sagte Natascha, »und ich erinnere mich, daß ich das damals nicht zu bezweifeln wagte, obwohl ich wußte, daß es nicht wahr sein konnte; und das war mir ein unheimliches Gefühl.«

Während dieses Gespräches schob sich durch die hintere Tür des Sofazimmers der Kopf eines Stubenmädchens hindurch.

»Gnädiges Fräulein, der Hahn ist gebracht worden«, meldete das Mädchen flüsternd.

»Ich brauche ihn nicht mehr, Polja, laß ihn nur wieder wegbringen«, sagte Natascha.

Als das Gespräch im Sofazimmer im besten Gang war, kam Herr Dümmler herein und ging zu der Harfe, die in einer Ecke stand. Er nahm den Überzug ab, wobei das Instrument einen häßlingen Klang gab.

»Eduard Karlowitsch, bitte, spielen Sie mir doch mein Lieblings-Notturno von Monsieur Field«, rief die alte Gräfin aus dem Salon.

Dümmler griff einen Akkord und sagte, zu Natascha, Nikolai und Sonja gewendet: »Wie nett und friedlich das junge Volk da so zusammensitzt!«

»Ja, wir philosophieren«, antwortete Natascha, sich einen Augenblick nach ihm hinwendend, und fuhr dann in dem Gespräch fort. Es war jetzt von Träumen die Rede.

Dümmler begann zu spielen. Natascha ging leise, auf den Fußspitzen, zum Tisch hin, nahm die Kerze, trug sie hinaus und setzte sich, als sie zurückkam, still wieder auf ihren Platz. Im Zimmer, und besonders bei dem Sofa, auf dem sie saßen, war es[440] dunkel; aber durch die großen Fenster fiel das silberne Licht des Vollmondes auf die Dielen.

»Wißt ihr, ich glaube«, flüsterte Natascha, an Nikolai und Sonja näher heranrückend, als Dümmler schon das Musikstück beendet hatte und nun noch dasaß und leise hier und da eine Saite mit den Fingern berührte, augenscheinlich nicht recht wissend, ob er zu spielen aufhören oder etwas Neues anfangen sollte, »ich glaube, wenn man sich so erinnert und erinnert und immer weiter erinnert, dann bringt man es schließlich in der Erinnerung so weit, daß man sich an das erinnert, was geschehen ist, ehe man noch auf der Welt war.«

»Das ist die Metempsychose, die Seelenwanderung«, sagte Sonja, die in der Schule immer gut gelernt hatte und alles dort Gelernte noch wußte. »Die Ägypter glaubten, unsere Seelen hätten vorher in Tierleibern gesteckt und würden auch wieder in Tierleiber einziehen.«

»Nein, weißt du, das glaube ich nicht, daß wir Tiere gewesen sind«, erwiderte Natascha, immer noch in demselben Flüsterton, obwohl die Musik schon zu Ende war, »aber ich weiß bestimmt, daß wir einmal Engel waren, dort irgendwo, und daß wir auch hier unten waren, und uns daher an alles erinnern ...«

»Darf ich mich zu Ihnen gesellen?« fragte Herr Dümmler, der leise herangetreten war, und setzte sich zu ihnen hin.

»Wenn wir Engel gewesen wären, wodurch hätten wir es dann verdient, so tief zu fallen?« entgegnete Nikolai. »Nein, das ist nicht möglich!«

»Nicht tief! Wer hat dir gesagt, daß das so tief ist ...?« erwiderte Natascha. Und im Ton fester Überzeugung fuhr sie fort: »Und woher ich das weiß, was ich früher gewesen bin? Die Seele ist ja unsterblich ... folglich, wenn ich immer leben werde, so habe ich auch vorher gelebt, von Ewigkeit her gelebt.«[441]

»Ja, aber es fällt uns doch schwer, uns die Ewigkeit vorzustellen«, bemerkte Dümmler, der zwar ursprünglich mit einem Lächeln freundlicher Geringschätzung zu den jungen Leuten getreten war, nun aber ebenso ruhig und ernst redete wie sie.

»Warum soll es so schwer sein, sich die Ewigkeit vorzustellen?« sagte Natascha. »Sie ist heute, wird morgen sein, wird immer sein und war gestern und vorgestern ...«

»Natascha, jetzt kommst du an die Reihe!« rief die Gräfin. »Sing mir etwas! Was sitzt ihr da alle zusammen wie die Verschwörer?«

»Ach, Mama, ich habe eigentlich gar keine Lust«, antwortete Natascha, stand aber doch gleichzeitig auf.

Sie hatten alle, selbst der schon bejahrte Dümmler, keine Lust, das Gespräch abzubrechen und aus dem Eckchen des Sofazimmers herauszukommen; aber Natascha war schon aufgestanden, und Nikolai setzte sich ans Klavier. Natascha stellte sich, wie immer, in die Mitte des Saales, wodurch sie sich den besten Platz für die Resonanz auswählte, und begann das Lieblingslied ihrer Mutter zu singen.

Sie hatte zwar gesagt, daß sie keine Lust zum Singen habe; aber dennoch sang sie lange Zeit vorher und nachher nicht so gut wie gerade an diesem Abend. Graf Ilja Andrejewitsch hörte ihren Gesang von seinem Arbeitszimmer aus, wo er mit dem Geschäftsführer Dmitri eine Besprechung hatte, und wie ein Schüler, der sich beeilt mit seinen Schularbeiten fertigzuwerden, um zum Spielen zu gehen, machte er bei den Weisungen, die er dem Geschäftsführer erteilte, lauter Konfusion und schwieg endlich ganz; und Dmitri stand, gleichfalls zuhörend, schweigend und lächelnd vor dem Grafen. Nikolai verwandte kein Auge von seiner Schwester und holte in Übereinstimmung mit ihr Atem.[442] Sonja dachte beim Zuhören, was für ein gewaltiger Unterschied doch zwischen ihr und ihrer Freundin bestehe, und daß es ihr schlechterdings unmöglich sei, auch nur für eine kleine Weile eine so bezaubernde Wirkung auf andere auszuüben wie ihre Kusine.

Die alte Gräfin saß mit einem glücklichen und zugleich traurigen Lächeln und mit Tränen in den Augen da und wiegte manchmal den Kopf hin und her. Sie dachte sowohl an Natascha als auch an ihre eigene Jugend und konnte nicht von dem Gedanken loskommen, daß in dieser bevorstehenden Verheiratung Nataschas mit dem Fürsten Andrei etwas Unnatürliches und Besorgniserregendes liege.

Dümmler hatte sich neben die Gräfin gesetzt und hörte mit geschlossenen Augen zu.

»Nein, Gräfin«, sagte er endlich, »das ist ja ein Talent, wie man es in ganz Europa nur selten findet. Sie braucht nichts mehr hinzuzulernen; diese Weichheit, diese Zartheit, diese Kraft ...!«

»Ach, wie ich mich um sie ängstige, wie ich mich um sie ängstige!« sagte die Gräfin, ohne zu bedenken, mit wem sie sprach. Ihr mütterliches Gefühl sagte ihr, daß bei Natascha irgendeine Art von Übermaß vorhanden sei und sie infolgedessen nicht glücklich sein werde.

Natascha hatte ihren Gesang noch nicht beendet, als der vierzehnjährige Petja ganz entzückt mit der Nachricht ins Zimmer gelaufen kam, es seien Vermummte gekommen.

Natascha brach plötzlich ab.

»Dummkopf!« rief sie ihrem Bruder zu, lief zu einem Stuhl, ließ sich darauf niederfallen und schluchzte dermaßen, daß sie lange Zeit nicht imstande war damit aufzuhören.

»Es hat nichts zu bedeuten, Mamachen; es hat wirklich nichts zu bedeuten; es kommt nur davon, daß mich Petja so erschreckt[443] hat«, sagte sie und versuchte zu lächeln; aber die Tränen flossen immer noch, und das Schluchzen schnürte ihr die Kehle zu.

Die vermummten Gutsleute, welche Bären, Türken, Schankwirte, Damen vorstellten und sämtlich schrecklich und lächerlich anzusehen waren, brachten kalte Luft und Fröhlichkeit mit sich, drängten sich aber zunächst schüchtern im Vorzimmer zusammen; dann allmählich schoben sie sich, einer sich hinter dem andern versteckend, in den Saal hinein und begannen, anfangs verlegen, dann immer lustiger und zuversichtlicher, ihre Gesänge, Tänze, Reigen und Weihnachtsspiele. Die Gräfin begab sich, nachdem sie die einzelnen Vermummten erkannt und ein wenig über sie gelacht hatte, wieder in den Salon. Graf Ilja Andrejewitsch aber blieb mit strahlendem Lächeln im Saal sitzen und spendete den Spielenden Beifall. Die jungen Leute waren verschwunden, niemand wußte, wohin.

Eine halbe Stunde darauf tauchten im Saal unter den andern Vermummten noch einige neue auf: eine alte Dame im Reifrock; dies war Nikolai. Eine Türkin war in Wirklichkeit Petja. Ein Bajazzo; das war Dümmler. Ein Husar: Natascha, und ein Tscherkesse: Sonja, mit Augenbrauen und Schnurrbart, die mit angebranntem Kork gemalt waren.

Nachdem die Nichtverkleideten ein freundliches Staunen gezeigt, die Vermummten eine Zeitlang nicht erkannt und dann die Verkleidungen gebührendermaßen gelobt hatten, fanden die jungen Leute ihre Kostüme so schön, daß sie für nötig erachteten, sie auch sonst noch jemandem zu zeigen.

Nikolai, der bei der vorzüglichen Schlittenbahn große Lust hatte, alle mit seinem Dreigespann zu fahren, machte den Vorschlag, etwa ein Dutzend von den vermummten Gutsleuten mitzunehmen und zum Onkel zu fahren.

»Nein, wozu wollt ihr den alten Mann stören!« sagte die Gräfin.[444] »Und es ist auch bei ihm so wenig Raum, daß ihr euch kaum umdrehen könntet. Wenn ihr einmal fahren wollt, dann fahrt doch zu Meljukows.«

Frau Meljukowa war Witwe und wohnte mit ihren in verschiedenem Lebensalter stehenden Kindern und deren Gouvernanten und Erziehern vier Werst von Rostows entfernt.

»Hör mal, meine Liebe, das ist ein gescheiter Gedanke von dir«, fiel der alte Graf ein, der ganz vergnügt geworden war. »Wißt ihr was? Ich will mich auch schnell verkleiden und mit euch fahren. Ich werde Pelagia schon amüsieren.«

Aber die Gräfin war dagegen und wollte den Grafen nicht weglassen, weil er doch alle diese Tage Schmerzen im Bein gehabt habe. Das Schlußresultat war: Ilja Andrejewitsch solle nicht mitfahren; aber wenn Luisa Iwanowna (das war Madame Schoß) mit von der Partie sein wolle, dann dürften auch die jungen Mädchen zu Frau Meljukowa fahren. Sonja, die sonst immer so zaghaft und schüchtern war, bestürmte jetzt dringender als alle andern Luisa Iwanowna mit Bitten, ihnen das doch nicht abzuschlagen.

Sonjas Verkleidung war die schönste von allen. Der Schnurrbart und die starken Augenbrauen standen ihr außerordentlich gut. Alle sagten ihr, sie sehe sehr hübsch aus, und sie befand sich in einer ihr sonst fremden, angeregten, tatenlustigen Stimmung. Eine innere Stimme sagte ihr, heute oder nie werde sich ihr Schicksal entscheiden, und sie schien in ihrem Männerkostüm ein ganz anderer Mensch geworden zu sein. Luisa Iwanowna willigte ein, und eine halbe Stunde darauf fuhren vier Schlitten, jeder mit drei Pferden bespannt, unter lustigem Geläut der Glöckchen und Schellen und starkem Quieken und Pfeifen der eisenbeschlagenen Kufen auf dem gefrorenen Schnee, vor der Haustür vor.

Natascha war die erste, die den Ton weihnachtlicher Lustigkeit[445] anschlug, und diese Lustigkeit, die sich von einem auf den andern übertrug, steigerte sich immer mehr und mehr und war auf den höchsten Grad gelangt, als alle in die Kälte hinaustraten und eifrig miteinander redend und einander zurufend, lachend und schreiend sich in die Schlitten verteilten.

Zwei der Dreigespanne waren gewöhnliche Gutspferde; das dritte Dreigespann, welches das besondere Eigentum des alten Grafen war, hatten einen Orlow-Traber in der Deichsel; das vierte, mit einem kleinen, zottigen Rappen als Deichselpferd, gehörte Nikolai. Nikolai, der über sein Kostüm als alte Dame einen durch einen Gurt zusammengehaltenen Husarenmantel angezogen hatte, stand mitten in seinem Schlitten und hielt die Zügel straff. Es war so hell, daß er die im Mondlicht blitzenden Metallplatten an den Köpfen der Pferde und die Augen der Pferde sah, die sich erschrocken nach der Reisegesellschaft umschauten, welche unter dem Schutzdach vor der Haustür, wo es dunkel war, einen solchen Lärm vollführte.

In Nikolais Schlitten nahmen Natascha, Sonja, Madame Schoß und zwei Gutsmädchen Platz; in den Schlitten des alten Grafen stiegen Dümmler mit seiner Frau und Petja; die übrigen beiden füllten die vermummten Gutsleute an.

»Fahr voran, Sachar!« rief Nikolai dem Kutscher seines Vaters zu, um die Möglichkeit zu haben, ihn unterwegs zu überholen.

Der Schlitten des alten Grafen, in welchem Dümmler und seine Fahrtgenossen saßen, fuhr mit einem Aufkreischen der Kufen, als ob sie am Schnee angefroren wären, ab; in tiefem Ton klingelte sein Glöckchen. Die Seitenpferde drängten sich an die Gabeldeichsel und sanken tief in den wie Zucker festen, glänzenden Schnee ein, den sie in Mengen in die Höhe schleuderten.

Nach dem ersten Schlitten fuhr Nikolai ab; dahinter folgten[446] klingelnd und knirschend die übrigen. Anfangs fuhren sie in kurzem Trab auf schmalem Weg. Solange sie am Garten entlangfuhren, legten sich oft die Schatten der kahlen Bäume quer über den Weg und verbargen das helle Licht des Mondes; aber sowie sie über den Garten hinausgekommen waren, erschloß sich auf allen Seiten die unbeweglich daliegende Schneefläche, die ganz vom Mondlicht überflutet war und wie Diamanten, mit einem bläulichen Schimmer, blitzte. Einmal und noch einmal stieß der vorderste Schlitten rumpelnd in ein ausgefahrenes Loch im Weg; und genau dieselben Stöße wiederholten sich beim folgenden Schlitten und bei den übrigen. So zogen sich die Schlitten in langer Reihe einer hinter dem andern dahin und störten keck die ringsum herrschende tiefe Stille.

»Eine Hasenspur, eine Menge Spuren!« erklang Nataschas Stimme in der vom Frost wie zusammengeschmiedeten Luft.

»Wie deutlich alles zu sehen ist, Nikolai!« sagte Sonja.

Nikolai drehte sich nach Sonja um und beugte sich nieder, um aus größerer Nähe ihr Gesicht unterscheiden zu können. Ein ganz neues, allerliebstes Gesichtchen, mit schwarzen Augenbrauen und schwarzem Schnurrbart, das im Mondlicht nah und fern zugleich erschien, blickte ihm aus dem Zobelpelzwerk entgegen.

»Das war doch früher Sonja?« dachte Nikolai. Er rückte mit seinem Gesicht noch etwas näher heran, um sie genauer zu sehen, und lächelte.

»Was haben Sie, Nikolai?«

»Oh, nichts!« antwortete er und wandte sich wieder zu den Pferden hin.

Als sie auf die vielbefahrene große Landstraße hinauskamen, die von den Schlittenkufen geglättet und, was man im Mondschein deutlich sehen konnte, von den Hufeisendornen ganz zerhackt war, da begannen die Pferde ganz von selbst die Zügel auszuziehen[447] und ihren Lauf zu beschleunigen. Das linke Seitenpferd bog den Kopf nach unten und machte Sprünge, von denen die Stränge jedesmal einen Ruck bekamen. Das Deichselpferd wiegte sich hin und her und bewegte die Ohren, als ob es fragen wollte: »Soll ich nun anfangen, oder ist es noch zu früh?« Vorn, schon weit voraus, sah man deutlich gegen den weißen Schnee das schwarze Dreigespann Sachars. Man hörte das sich immer mehr entfernende tieftönende Glöckchen klingen, und wie die Verkleideten in dem Schlitten schrien und lachten und miteinander redeten.

»Na, nun aber, meine lieben Tierchen!« schrie Nikolai; gleichzeitig zupfte er mit der einen Hand an den Zügeln und streckte die andere Hand mit der Peitsche aus.

Und nur aus dem anscheinend stärker entgegenwehenden Wind und den zuckenden Bewegungen der sich ausstreckenden und immer schneller springenden Seitenpferde war zu merken, wie schnell der Schlitten dahinflog.

Nikolai blickte zurück: mit quiekenden Kufen, unter lautem Geschrei der Kutscher, die die Peitschen schwangen und die Deichselpferde zum Galopp an trieben, suchten die anderen Schlitten mitzukommen. Nikolais Deichselpferd wiegte sich ruhig unter dem Joch hin und her und dachte gar nicht daran, in eine andere Gangart überzugehen; indes merkte man ihm an, daß es seine Schnelligkeit noch erheblich steigern könne, wenn es nötig sein sollte.

Nikolai hatte den ersten Schlitten eingeholt. Sie fuhren eine Anhöhe hinunter und kamen auf einen in bedeutender Breite befahrenen Weg, der an einem Fluß hin über eine Wiese führte.

»Wo fahren wir denn eigentlich?« dachte Nikolai. »Doch wohl über die Schräge Wiese. Aber nein, das ist etwas Neues, was ich noch nie gesehen habe. Das ist nicht die Schräge Wiese und nicht die Djomkina-Höhe, sondern Gott weiß was! Das ist etwas ganz[448] Neues, Zauberhaftes. Na, mag es sein, was es will!« Er schrie die Pferde an und begann den ersten Schlitten zu überholen.

Sachar verhielt seine Pferde ein wenig und wendete sein schon bis an die Brauen mit Reif bedecktes Gesicht zurück.

Nikolai ließ seinen Pferden die Zügel schießen; Sachar streckte beide Arme nach vorn, schnalzte mit der Zunge und ließ auch seinen Pferden volle Freiheit.

»Na, nun nimm dich zusammen, Herr!« rief er.

Noch schneller flogen die Dreigespanne nebeneinander dahin, und geschwind lösten die Beine der galoppierenden Pferde einander ab. Nikolai begann voranzukommen. Sachar hob, ohne die Haltung der ausgestreckten Arme zu verändern, den einen Arm mit den Zügeln in die Höhe.

»Bilde dir nur nichts ein, Herr!« rief er Nikolai zu.

Nikolai ließ nun auch das Mittelpferd in Galopp übergehen und überholte Sachar. Die Pferde überschütteten die Gesichter der Insassen mit feinem, trockenem Schnee; stürmisch ertönte das Läuten und Klingeln; die sich schnell bewegenden Pferdebeine und die Schatten des überholten Dreigespannes bildeten ein wirres Durcheinander. Hier wie dort hörte man die Kufen auf dem Schnee pfeifen und Weiberstimmen kreischen.

Nikolai hielt die Pferde wieder zurück und warf einen Blick um sich. Ringsumher breitete sich immer noch dieselbe, vom Mondlicht tief durchtränkte, zauberhafte Ebene aus, die wie mit Sternen übersät blitzte.

»Sachar ruft, ich solle nach links wenden; aber warum nach links?« dachte Nikolai. »Sind wir denn wirklich auf dem richtigen Weg zu Meljukows, und ist das wirklich Meljukowka? Wir fahren ja Gott weiß wo, und Gott weiß, was mit uns vorgeht – aber das, was mit uns vorgeht, ist sehr seltsam und schön.« Er blickte in seinen Schlitten zurück.[449]

»Sieh nur, sein Schnurrbart und seine Wimpern, alles ist ganz weiß«, sagte eines der im Schlitten sitzenden sonderbaren, hübschen, fremden Wesen, das einen feinen schwarzen Schnurrbart und schwarze Augenbrauen hatte.

»Das war doch, wie mir scheint, Natascha«, dachte Nikolai. »Und das da ist Madame Schoß, aber vielleicht auch nicht; aber wer dieser Tscherkesse mit dem Schnurrbart ist, das weiß ich nicht; aber ich liebe dieses Mädchen.«

»Friert euch auch nicht?« fragte er.

Sie antworteten nicht und lachten nur. Dümmler rief etwas von dem hinteren Schlitten her, wahrscheinlich etwas Komisches; aber es war für Nikolai unmöglich, zu verstehen, was er rief.

»Ja, ja«, antworteten lachende Stimmen.

Aber das war ja eine Art von Zauberwald, in welchem dunkle Schatten und ein Geglitzer wie von Diamanten durcheinanderflossen, und da war ja eine lange Reihe von Marmorstufen und silberne Dächer zauberhafter Gebäude, und da erscholl ein durchdringendes Kreischen irgendwelcher wilden Tiere. »Aber wenn das wirklich Meljukowka sein sollte, so ist noch seltsamer, daß wir Gott weiß wo gefahren und doch nach Meljukowka gelangt sind«, dachte Nikolai.

Es war wirklich Meljukowka, und mit Lichtern in den Händen kamen Mädchen und Diener mit vergnügten Gesichtern vor die Haustür gelaufen.

»Wer ist es denn?« wurde dort gefragt.

»Es sind Vermummte von dem gräflichen Gute; ich sehe es an den Pferden«, lautete die Antwort.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 437-450.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Der gute Mond / Er laßt die Hand küssen / Ihr Traum. Drei Erzählungen

Der gute Mond / Er laßt die Hand küssen / Ihr Traum. Drei Erzählungen

Drei Erzählungen aus den »Neuen Dorf- und Schloßgeschichten«, die 1886 erschienen.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon