IX

[431] Das Weihnachtsfest kam heran; aber außer einem besonders feierlichen Meßgottesdienst und den förmlichen, langweiligen Gratulationen der Nachbarn und der Gutsleute, außer den neuen Kleidern, welche alle anhatten, gab es nichts Besonderes, wodurch sich diese Tage von anderen unterschieden hätten; und doch machte sich bei einer windstillen Kälte von zwanzig Grad, bei dem hellen, blendenden Sonnenschein am Tag und dem winterlichen Sternenglanz in der Nacht das Bedürfnis fühlbar, in dieser Zeit irgend etwas Besonderes zu unternehmen.[431]

Am dritten Festtag hatten sich nach dem Mittagessen die einzelnen Hausgenossen in ihre Zimmer zurückgezogen. Es war dies die allerlangweiligste Zeit des Tages. Nikolai, der am Vormittag zu einigen Nachbarn gefahren war, um ihnen Besuche abzustatten, schlief im Sofazimmer. Der alte Graf ruhte sich in seiner eigenen Stube aus. Im Salon saß Sonja am runden Tisch und zeichnete und malte ein Stickmuster ab. Die Gräfin legte sich Karten. Der Narr Nastasja Iwanowna saß mit zwei alten Frauen am Fenster und machte ein betrübtes Gesicht. Natascha kam in den Salon herein, trat zu Sonja und sah zu, was sie machte; dann ging sie zu ihrer Mutter und stellte sich schweigend neben sie.

»Warum läufst du so herum, als ob du gar nicht wüßtest, wo du bleiben sollst?« sagte die Mutter zu ihr. »Was fehlt dir denn?«

»Er fehlt mir ... Sofort, diesen Augenblick will ich ihn hierhaben«, antwortete Natascha mit blitzenden Augen, ohne zu lächeln.

Die Gräfin hob den Kopf in die Höhe und blickte ihre Tochter aufmerksam an.

»Sehen Sie mich nicht so an, Mama, sehen Sie mich nicht so an; sonst muß ich gleich losweinen.«

»Setz dich her und bleibe ein Weilchen bei mir«, sagte die Gräfin.

»Mama, er fehlt mir. Warum muß ich mich so hinquälen, Mama ...?«

Die Stimme versagte ihr, die Tränen stürzten ihr aus den Augen, und um sie zu verbergen, wandte sie sich schnell ab und verließ das Zimmer.

Sie ging ins Nebenzimmer, stand dort eine Zeitlang, mit ihren Gedanken beschäftigt, und begab sich dann in die Mädchenstube. Dort schalt eine alte Kammerfrau auf ein junges Mädchen, das soeben, ganz außer Atem vor Kälte, vom Wirtschaftshof hereingerannt gekommen war.[432]

»Du könntest nun wohl genug herumgetollt haben«, sagte die Alte. »Alles hat seine Zeit.«

»Laß sie doch, Kondratjewna«, sagte Natascha. »Geh nur, Mawruscha, geh nur.«

Nachdem sie so Mawruscha freigemacht hatte, begab sich Natascha durch den Saal ins Vorzimmer. Dort spielten ein alter und zwei junge Diener Karten. Beim Eintritt des gnädigen Fräuleins unterbrachen sie ihr Spiel und standen auf.

»Was könnte ich wohl mit denen anfangen?« dachte Natascha.

»Ach, Nikita, bitte, geh doch hin ...« (»Wohin könnte ich ihn nur schicken?« dachte sie.) »Ja, geh doch auf den Wirtschaftshof und hol mir, bitte, einen Hahn; und du, Michail, bring mir etwas Hafer.«

»Ein bißchen Hafer befehlen Sie?« fragte Michail vergnügt und dienstfertig.

»So geh doch, mach schnell«, trieb ihn der Alte an.

»Und du, Fjodor, besorge mir etwas Kreide.«

Als sie am Büfettzimmer vorbeikam, gab sie Befehl, den Samowar hereinzubringen, obwohl dazu gar nicht die richtige Zeit war.

Der Büfettdiener Foka war der ärgste Kribbelkopf im ganzen Haus. Natascha fand ein besonderes Vergnügen darin, zu erproben, wieviel Macht sie über ihn hätte. Er traute ihrem Befehl wegen des Samowars nicht und ging erst fragen, ob es damit auch seine Richtigkeit habe.

»Nein, so ein Fräulein!« sagte Foka vor sich hin und machte, sich verstellend, ein finsteres Gesicht über Natascha.

Niemand im ganzen Haus schickte die Leute so viel hin und her und machte ihnen so viel Arbeit wie Natascha. Sie brachte es nicht fertig, die Leute zu sehen, ohne sie irgendwohin zu schicken. Sie schien probieren zu wollen, ob nicht einer von ihnen über sie[433] ärgerlich werden und den Mund ziehen werde; aber niemandes Befehle führten die Dienstboten so gern und willig aus wie Nataschas. »Was soll ich nur anfangen? Wohin soll ich nur gehen?« dachte Natascha, während sie langsam den Korridor entlangging.

»Nastasja Iwanowna, was werde ich für Kinder bekommen?« fragte sie den Narren, der ihr in seiner Weiberjacke entgegenkam.

»Du wirst Flöhe, Wasserjungfern und Grashüpfer zur Welt bringen«, antwortete der Narr.

»Mein Gott, mein Gott, immer ein und dasselbe! Ach, wo soll ich nur bleiben? Was soll ich nur mit mir anfangen?« Schnell lief sie, mit den Füßen trappsend, die Treppe hinauf zu Herrn Vogel, der mit seiner Frau dort wohnte.

Bei Vogels saßen die beiden Gouvernanten; auf dem Tisch standen Teller mit Rosinen, Mandeln und Walnüssen. Die Gouvernanten unterhielten sich darüber, wo man billiger leben könne, in Moskau oder in Odessa. Natascha setzte sich zu ihnen, hörte ihrem Gespräch mit ernstem, nachdenklichem Gesicht eine Weile zu und stand dann wieder auf.

»Die Insel Madagaskar«, sagte sie vor sich hin. »Ma-da-gas-kar«, wiederholte sie, indem sie jede Silbe deutlich aussprach, und ohne auf die Frage der Madame Schoß, was sie damit sagen wolle, zu antworten, ging sie aus dem Zimmer.

Ihr Bruder Petja war ebenfalls oben: er fertigte mit dem Diener, der ihm persönlich zugewiesen war, ein Feuerwerk an, das er am Abend abzubrennen beabsichtigte.

»Petja! Petja!« rief sie ihm zu. »Laß mich herunterreiten!«

Petja kam zu ihr hingelaufen und bot ihr seinen Rücken dar. Sie sprang hinauf, umfaßte den Hals des Bruders mit den Armen, und er lief unter kleinen Sprüngen mit ihr davon.

»Nein, ich mag nicht ... Madagaskar«, sagte sie, sprang von Petjas Rücken herunter und ging nach unten.[434]

Nachdem sie so gleichsam ihr Reich durchwandert, ihre Macht erprobt und sich überzeugt hatte, daß alle ihr gebührendermaßen gehorchten, das Leben aber trotzdem langweilig war, ging Natascha in den Saal, nahm die Gitarre, setzte sich damit in eine dunkle Ecke hinter einem Schränkchen und griff mit den Fingern an den Baßsaiten umher, um eine Melodie herauszubekommen, an die sie sich aus einer Oper erinnerte, welche sie in Petersburg mit dem Fürsten Andrei zusammen gehört hatte.

Fremde Zuhörer würden gemeint haben, daß die Gitarre dabei nur ein sinnloses Getön von sich gebe; aber in Nataschas Phantasie erstand aus diesen Tönen eine ganze Reihe von Erinnerungen. Sie saß hinter dem Schränkchen und richtete die Blicke auf einen Lichtstreif, der durch die offenstehende Tür des Büfettzimmers fiel, horchte auf ihr eigenes Spiel und überließ sich ihren Erinnerungen. Sie befand sich sozusagen in einem Zustand des Erinnerungslebens.

Sonja ging mit einem Glas in der Hand durch den Saal in der Richtung nach dem Büfettzimmer. Natascha blickte nach ihr und nach der Spalte in der Tür des Büfettzimmers hin und glaubte genau den gleichen Vorgang in ihrer Erinnerung vorzufinden: daß das Licht durch eine Spalte in der Tür des Büfettzimmers fiel und Sonja mit einem Glas in der Hand vorbeiging. »Ja, das hat sich schon früher einmal genauso zugetragen«, dachte Natascha.

»Sonja, was ist das?« rief Natascha und griff wieder mit den Fingern an der untersten Saite umher.

»Ach, du bist hier!« sagte Sonja zusammenfahrend, trat heran und horchte. »Das kenne ich nicht. Soll es einen Sturm vorstellen?« fügte sie schüchtern hinzu, in Furcht, mit ihrer Deutung fehlzugreifen.

»Na, da haben wir's«, dachte Natascha. »Genau ebenso ist sie[435] schon früher einmal zusammengefahren, genauso ist sie damals herangetreten und hat schüchtern gelächelt, damals, als sich das schon früher zutrug, und genau ebenso sagte ich mir damals, daß in ihrem ganzen Wesen etwas fehlt.«

»Nein, es ist der Chor aus dem ›Wasserträger‹; hörst du es nicht?« Natascha sang die Melodie des Chorliedes zu Ende, um Sonja zum Verständnis zu verhelfen. »Wo wolltest du denn hin?« fragte Natascha.

»Ich wollte mir andres Wasser in das Glas gießen. Ich bin mit dem Austuschen des Stickmusters gleich fertig.«

»Du beschäftigst dich fortwährend, und ich verstehe das so ganz und gar nicht«, erwiderte Natascha. »Wo ist denn Nikolai?«

»Ich glaube er schläft.«

»Geh doch hin, Sonja, und wecke ihn«, sagte Natascha. »Sage ihm, ich ließe ihn rufen; er solle mit mir singen.«

Sie saß noch eine Zeitlang da und dachte darüber nach, wie das zusammenhinge, daß das alles sich schon einmal zugetragen habe; aber ohne über diese Frage zur Klarheit gekommen zu sein, und ohne sich über diese Unklarheit weiter zu grämen, versetzte sie sich in ihrer Phantasie wieder in jene Zeit zurück, als sie mit ihm zusammen war und er sie mit Augen voller Liebe anblickte.

»Ach, wenn er doch recht bald käme. Ich habe solche Angst, daß es nie geschehen wird! Und was die Hauptsache ist: ich werde alt; das ist's! Was jetzt an Empfindungen in mir lebt, wird dann nicht mehr vorhanden sein. Aber vielleicht kommt er heute, kommt vielleicht im nächsten Augenblick. Vielleicht ist er schon gekommen und sitzt dort im Salon. Vielleicht ist er gestern schon gekommen, und ich habe es nur vergessen.« Sie stand auf, legte die Gitarre hin und ging in den Salon.

Alle Familienmitglieder, die Lehrer, die Gouvernanten und die Gäste saßen schon am Teetisch. Die aufwartenden Diener[436] standen um den Tisch herum; aber Fürst Andrei war nicht da. Alles sah genau so aus wie bisher.

»Ah, da ist sie ja!« rief Ilja Andrejewitsch, als er die eintretende Natascha bemerkte. »Nun, dann setz dich hier zu mir.« Aber Natascha blieb neben der Mutter stehen und blickte sich ringsum, als ob sie etwas suchte.

»Mama!« murmelte sie. »Geben Sie ihn mir wieder; geben Sie ihn mir recht, recht schnell wieder, Mama!« Sie hielt wieder nur mit Mühe ein Schluchzen zurück.

Sie setzte sich an den Tisch und hörte den Gesprächen der älteren Leute und Nikolais zu, der ebenfalls zum Tisch gekommen war. »Mein Gott, mein Gott, dieselben Gesichter, dieselben Gespräche, und Papa hält seine Tasse genau so wie immer und bläst genau so wie immer darauf!« dachte Natascha und wurde sich mit Schrecken bewußt, daß in ihrer Seele ein Widerwille gegen alle ihre Angehörigen heranwuchs, dadurch veranlaßt, daß sie immer dieselben blieben.

Nach dem Tee begaben sich Nikolai, Sonja und Natascha in das Sofazimmer, in ihr Lieblingseckchen, wo sie immer ihre allervertraulichsten Gespräche führten.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 431-437.
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