XI

[450] Pelagia Danilowna Meljukowa, eine Frau von kräftigem Körperbau und energischem Charakter, saß, mit einer Brille und in einem offenstehenden Kapotrock, im Salon, umgeben von ihren Töchtern, denen sie die Langeweile zu vertreiben suchte. Sie gossen stillschweigend Wachs und betrachteten die Schatten der dabei entstandenen Figuren; da wurden im Vorzimmer die Schritte und die Stimmen der Ankömmlinge vernehmbar.

Die Husaren, Damen, Hexen, Bajazzos und Bären machten sich zuerst im Vorzimmer zurecht, indem sie sich tüchtig räusperten und sich die von der Kälte ganz mit Reif bedeckten Gesichter abwischten, und traten dann in den Saal, wo eilig die Lichter angezündet wurden. Der Bajazzo Dümmler und die Dame Nikolai eröffneten den Tanz. Umringt von den kreischenden Kindern machten die Vermummten, die ihre Gesichter verbargen und ihre Stimmen verstellten, der Hausfrau ihre Verbeugung und begrüßten sie; dann verteilten sie sich im Saal.

»Ach, aber auch gar nicht zu erkennen! Das ist ja Natascha! Seht nur, wem sieht sie ähnlich? Wirklich, sie erinnert mich an jemand! Und Eduard Karlowitsch, wie schön der aussieht! Ich hatte ihn gar nicht erkannt. Und wie er tanzt! Ach, herrje! auch eine Art Tscherkesse! Wahrhaftig, das Kostüm steht Sonja wundervoll! Und wer ist denn das noch? Na, da habt ihr uns einmal ein hübsches Vergnügen bereitet! Nikita, Iwan, nehmt doch die Tische weg! Und wir saßen so still und einsam da!« So redeten die größeren Meljukowschen Töchter.

»Hahaha! ... Nein, der Husar! Sieh doch nur den Husaren! Ganz wie ein junger Mann; und die Beine! ... Ich kann gar nicht sehen ...!« riefen die Kinder.[451]

Natascha, die bei den jungen Meljukows ganz besonders beliebt war, verschwand mit ihnen zusammen nach den hinteren Zimmern, wohin sie sich dann einen Kork und verschiedene Herrenschlafröcke und andere Herrenkleider bringen ließen; nackte Mädchenarme nahmen diese Dinge dem Diener durch die nur ein wenig geöffnete Tür ab. Zehn Minuten darauf gesellte sich das ganze junge Volk der Familie Meljukow zu den Vermummten.

Nachdem Pelagia Danilowna alles Erforderliche angeordnet hatte, damit es den Gästen nicht an Raum mangelte und sowohl die Herrschaften als auch die Gutsleute bewirtet würden, ging sie, ohne die Brille abzunehmen, mit einem stillen Lächeln unter den Vermummten umher und sah ihnen aus der Nähe in die Gesichter, aber ohne jemand zu erkennen. Sie erkannte weder die Rostows noch Herrn Dümmler, ja nicht einmal ihre eigenen Töchter, auch nicht die von ihrem seligen Mann herrührenden Schlafröcke und Uniformen, welche sie anhatten.

»Wer ist denn eigentlich die da?« sagte sie, zu ihrer Gouvernante gewendet, indem sie ihrer eigenen Tochter ins Gesicht blickte, die einen Kasanschen Tataren vorstellte. »Doch wohl eine der Rostowschen Damen. Nun, und Sie, Herr Husar, in welchem Regiment dienen Sie?« sagte sie zu Natascha. »Reich dem Türken Obstmarmelade«, sagte sie zu dem Diener, der den Gästen Erfrischungen präsentierte. »Das ist ihnen durch ihr Gesetz nicht verboten.«

Manchmal, wenn sie die sonderbaren, komischen Pas ansah, die die Tänzer ausführten, welche sich ein für allemal gesagt hatten, sie seien Vermummte und würden von niemand erkannt, und daher keine Verlegenheit fühlten, dann hielt sich Pelagia Danilowna das Taschentuch vor das Gesicht, und ihr ganzer wohlgenährter Körper wurde von jenem unaufhaltsamen, gutmütigen Lachen erschüttert, wie es alten Damen eigen ist.[452]

»Nein, meine Alexandra! Nun sehen Sie nur meine Alexandra!« rief sie.

Nachdem die russischen Tänze und Reigen vorgeführt waren, ließ Pelagia Danilowna alle, die Gutsleute und die Herrschaften, zusammen einen großen Kreis bilden; ein Ring, ein langer Bindfaden und ein Rubelstück wurden gebracht, und es wurden gemeinsame Spiele gespielt.

Nach Verlauf einer Stunde waren sämtliche Kostüme verdrückt und in Unordnung. Die mit Kork gemalten Schnurrbärte und Augenbrauen hatten sich auf den mit Schweiß bedeckten, erhitzten, lustigen Gesichtern verwischt. Pelagia Danilowna begann die Vermummten zu erkennen, erging sich in Äußerungen des Entzückens darüber, wie geschickt die Kostüme hergestellt seien, wie schön sie namentlich den jungen Damen ständen, und dankte allen dafür, daß sie ihr so viel Heiterkeit ins Haus gebracht hätten. Die Gäste wurden zum Abendessen in den Salon gebeten, im Saal wurden Einrichtungen für die Bewirtung der Gutsleute getroffen.

»Nein, im Badehäuschen das Orakel zu befragen, das ist entsetzlich!« bemerkte beim Abendessen ein altes Fräulein, das bei Meljukows wohnte.

»Wieso denn?« fragte die älteste Tochter der Frau Meljukowa.

»Nun, ihr werdet doch nicht hingehen; dazu gehört viel Mut ...«

»Ich gehe hin«, erklärte Sonja.

»Erzählen Sie doch, wie es dem jungen Fräulein ging«, bat die zweite Meljukowsche Tochter.

»Nun ja, da ging also ein Fräulein hin«, erzählte die alte Jungfer, »sie nahm einen Hahn mit und Tischgerät für zwei Personen, alles, wie es sein muß, und setzte sich hin. So saß sie eine Weile; auf einmal hört sie, es kommt etwas gefahren, ein Schlitten kommt mit Glöckchen und Schellen; sie hört Schritte. Es kommt[453] jemand herein, ganz in Menschengestalt, wie ein wirklicher Offizier; er trat zu ihr heran und setzte sich neben sie, zu dem freien Gedeck.«

»Ah! Ah!« rief Natascha und riß vor Schrecken die Augen weit auf.

»Und was tat er dann weiter? Redete er auch?«

»Ja, wie ein Mensch, alles, wie es sich gehört; und er suchte sie zu bereden; aber sie hätte ihn mit Gesprächen bis zum Hahnenschrei beschäftigen müssen; aber sie bekam es mit der Angst, und in der Angst bedeckte sie das Gesicht mit den Händen. Er griff auch wirklich schon nach ihr. Es war nur gut, daß in diesem Augenblick Mädchen aus dem Haus dazugelaufen kamen ...«

»Aber wozu erschrecken Sie mir das junge Volk!« schalt Pelagia Danilowna.

»Mamachen, Sie haben doch selbst einmal das Orakel befragt ...«, sagte eine der Töchter.

»Und wie befragt man denn das Orakel im Speicher?« fragte Sonja.

»Das ist so: man geht, etwa so wie jetzt, auf den Speicher und horcht. Was man nun gerade hört: wenn es klopft und pocht, das ist schlecht; aber wenn es klingt, als ob Getreide geschaufelt wird, das bedeutet etwas Gutes; und das trifft dann auch ein.«

»Mamachen, erzählen Sie doch, was Sie im Speicher erlebt haben.«

Pelagia Danilowna lächelte.

»Ach was! Das habe ich schon vergessen ...«, antwortete sie. »Von euch geht ja doch niemand hin.«

»Doch! Ich gehe hin. Pelagia Danilowna, erlauben Sie es mir; ich möchte hingehen«, sagte Sonja.

»Nun meinetwegen, wenn du dich nicht fürchtest.«

»Luisa Iwanowna, darf ich?« fragte Sonja.[454]

Ob sie nun mit dem Ring, dem Bindfaden oder dem Rubelstück spielten oder sich wie jetzt mit Gesprächen unterhielten: Nikolai wich nicht von Sonjas Seite und betrachtete sie mit ganz neuen Augen. Dank diesem mit Kork aufgemalten Schnurrbart schien es ihm, daß er sie heute zum erstenmal vollständig kennenlernte. Sonja war an diesem Abend wirklich so heiter, lebhaft und hübsch, wie Nikolai sie noch nie vorher gesehen hatte.

»Also so ein Mädchen ist sie, und was bin ich für ein Dummkopf gewesen!« dachte er, während er ihre glänzenden Augen und das glückselige, entzückte Lächeln betrachtete, bei dem sich unter dem aufgemalten Schnurrbart Grübchen auf den Wangen bildeten; ein solches Lächeln hatte er an ihr noch nie gesehen.

»Ich fürchte mich vor nichts«, sagte Sonja. »Kann ich jetzt gleich hingehen?« Sie stand auf.

Man beschrieb ihr, wo der Speicher war, gab ihr Anweisung, wie sie sich schweigend hinstellen und horchen müsse, und reichte ihr einen Pelz. Sie zog ihn sich über den Kopf und warf dabei einen Blick nach Nikolai hin.

»Wie reizend dieses Mädchen ist!« dachte er. »Wie konnte ich nur bisher Bedenken haben!«

Sonja ging auf den Korridor hinaus, um sich nach dem Speicher zu begeben. Nikolai trat schnell durch die vordere Haustür auf die dortige Freitreppe, nachdem er vorher geäußert hatte, es sei ihm gar zu heiß. Und es war tatsächlich in den Zimmern eine drückende Schwüle von den vielen Menschen, die sich darin drängten.

Draußen herrschte noch immer dieselbe starre Kälte, und derselbe Mondschein überflutete alles; nur war er noch heller geworden. Die Helligkeit war so stark, und es blitzten so viel Sterne auf dem Schnee, daß man gar keine Lust hatte nach dem Himmel zu blicken und die wirklichen Sterne dagegen unscheinbar aussahen.[455] Am Himmel war es dunkel und öde; auf der Erde war es lustig.

»Ich Dummkopf! Oh, ich Dummkopf! Worauf habe ich bis jetzt gewartet?« dachte Nikolai, lief die Freitreppe hinunter und bog um die Hausecke auf dem Steig, der nach der hinteren Freitreppe führte. Er wußte, daß Sonja hier herauskommen mußte. Auf der Hälfte des Weges nach dem Speicher standen aufgeschichtete Klafter Brennholz, die mit Schnee bedeckt waren und dunklen Schatten warfen; über sie hinweg und seitwärts von ihnen fiel in wirrer Verästelung der Schatten alter, kahler Lindenbäume auf den Schnee und den Steig. Dieser Steig führte zum Speicher. Die Balkenwand des Speichers und das mit Schnee bedeckte Dach desselben glänzten im Mondschein, wie wenn sie aus irgendeinem Edelstein geschnitten wären. Im Garten bekam ein Baum mit lautem Knacken einen Riß; dann war alles wieder völlig still. Die Brust schien nicht Luft einzuatmen, sondern gleichsam ewig junge Kraft und Freude.

Auf den Stufen der Freitreppe, die von dem Mädchenzimmer herkam, ertönten Schritte; sie knirschten laut auf der letzten Stufe, die beschneit war. Nikolai hörte, wie das alte Fräulein sagte:

»Immer geradeaus, immer geradeaus, hier den Steig hinunter, gnädiges Fräulein. Sie dürfen sich nur nicht umsehen.«

»Ich fürchte mich nicht«, antwortete Sonjas Stimme, und auf dem Steig in der Richtung auf Nikolai zu kamen quietschend und pfeifend Sonjas Füßchen in den feinen Schuhen über den Schnee.

Sonja schritt, in ihren Pelz fest vermummt, dahin. Sie war nur noch zwei Schritte von Nikolai entfernt, als sie ihn erblickte; auch sie erblickte ihn nicht in der Gestalt, in der sie ihn sonst zu sehen gewohnt war, und in der er ihr immer ein wenig Angst[456] eingeflößt hatte. Er trug jetzt Frauenkleider; das Haar war ihm wirr und unordentlich geworden, und er lächelte mit einem glückseligen Ausdruck, der für Sonja etwas ganz Neues war. Sie trat schnell an ihn heran.

»Sie ist so ganz verändert, und doch dieselbe«, dachte Nikolai, als er in ihr Gesicht blickte, das vom Mondlicht hell beschienen war. Er schob die Hände unter den Pelz, der ihren Kopf verhüllte, umfaßte diesen, zog ihn an sich heran und küßte sie auf die Lippen, über denen der Schnurrbart gemalt war und die nach gebranntem Kork rochen. Sonja küßte ihn mitten auf den Mund; sie machte ihre kleinen Hände aus dem Pelz los und faßte ihn von beiden Seiten an die Wangen.

»Sonja!« – »Nikolai!« Weiter sagten sie nichts. Sie liefen zusammen zum Speicher hin und kehrten dann ins Haus zurück, ein jeder durch die Tür, durch die er gekommen war.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 450-457.
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