III

[382] Der Winter rückte schon heran; die Morgenfröste schlugen die vom Herbstregen durchweichte Erde in Bande; schon hatte sich die Wintersaat verfilzt und hob sich hellgrün ab von den Streifen der braun gewordenen, vom Vieh zertretenen Winterstoppel und der hellgelben Sommerstoppel und den roten Streifen von Buchweizen. Die einzelnen Baumwipfel und die Parzellen von Laubholz, die Ende August noch grüne Inseln zwischen den schwarzen Wintersaatfeldern und den Stoppelfeldern bildeten, lagen jetzt als goldige und hellrote Inseln mitten unter den hellgrünen Feldern mit Wintersaat. Der graue Hase hatte schon zur Hälfte neues Haar bekommen; die Fuchsfamilien begannen sich zu zerstreuen, und die jungen Wölfe waren größer als Hunde. Es war die beste Jagdzeit. Die Hunde des eifrigen jungen Jägers Rostow waren nicht nur in guter Form zur Jagd gelangt, sondern zeigten auch schon einen solchen Jagdeifer, daß in einer gemeinsamen Beratung der Jäger beschlossen wurde, den Hunden noch drei Tage Ruhe zu lassen und am 16. September eine Jagd zu veranstalten; und zwar sollte mit einem dichten Eichenwald begonnen werden, wo sich eine noch ungestörte Wolfsfamilie befand.

Auf diesem Punkt befanden sich die Dinge am 14. September.

Diesen ganzen Tag über blieb die Jagdgesellschaft zu Hause; es war ein scharfer Frost; aber gegen Abend ließ die Kälte nach, und es fing an zu tauen. Als am 15. September der junge Rostow in der Frühe, noch im Schlafrock, aus dem Fenster blickte, sah er einen Morgen, wie man sich einen schöneren zur Jagd gar nicht denken konnte: es war, als ob der Himmel sich in Tau auflöste und bei völliger Windstille sich auf die Erde hinabsenkte. Die einzige Bewegung, die in der Luft vorging, war das leise Niedersinken[383] der mikroskopisch kleinen Dunst- und Nebeltröpfchen. An den kahl gewordenen Zweigen der Bäume im Garten hingen durchsichtige Tropfen und fielen auf die erst kürzlich abgefallenen Blätter herunter. Die Erde im Gemüsegarten hatte einen feuchten, schwarzen Glanz wie Ölsamen und verschwamm in geringer Entfernung mit dem trüben, nassen Nebelschleier. Nikolai trat vor die Haustür auf die feuchte Freitreppe hinaus, auf welche die Stiefel der von draußen Kommenden nicht wenig Schmutz zusammengetragen hatten: es roch nach welkem Laub und nach Hunden. Die Hündin Milka, schwarzgescheckt, mit breitem Hinterteil und mit großen, schwarzen, vorstehenden Augen, stand, als sie ihn erblickte, auf, streckte sich mit den Hinterbeinen und legte sich wie ein Hase nieder; dann sprang sie plötzlich auf und leckte ihn gerade auf die Nase und den Schnurrbart. Ein anderer Windhund kam, sobald er Nikolai sah, von einem Steig im Blumengarten mit gebogenem Rücken eilig zur Freitreppe gelaufen und rieb sich, die Rute erhebend, an Nikolais Beinen.

»O hoi!« erscholl in diesem Augenblick jener mit Buchstaben nicht wiederzugebende Jägerruf, der den tiefsten Baß und den höchsten Tenor in sich vereinigt, und um die Ecke kam der Hundeaufseher und Oberpikör Daniil, ein schon ergrauter Jäger, mit runzligem Gesicht, das Haar nach ukrainischer Art gleichmäßig rund geschnitten, die zusammengebogene Hetzpeitsche in der Hand und mit jenem Ausdruck von Selbstbewußtsein und von Geringschätzung gegen alles übrige in der Welt, wie man ihn nur bei Jägern findet. Er nahm seine Tscherkessenmütze vor dem Herrn ab und blickte ihn geringschätzig an. Aber der Herr fühlte sich durch diese Geringschätzung nicht gekränkt: Nikolai wußte ja, daß dieser Daniil, der alles verachtete und sich hoch über allem dünkte, doch sein Knecht und sein Jäger war.

»Daniil!« sagte schüchtern Nikolai, welcher merkte, daß ihn[384] beim Anblick dieses Jagdwetters, dieser Hunde und dieses Jägers schon jene unwiderstehliche Jagdlust ergriff, bei der der Mensch alle seine früheren Vorsätze vergißt, wie ein Verliebter in Gegenwart seiner Geliebten.

»Was befehlen Sie, Euer Erlaucht?« fragte Daniil mit seiner Baßstimme, die einem Protodiakonus Ehre gemacht hätte, wenn sie nicht von dem vielen Schreien beim Hetzen so heiser geworfen wäre, und zwei schwarze, glänzende Augen blickten unter der gesenkten Stirn hervor nach dem Herrn, der so plötzlich verstummt war. »Na, kannst es wohl nicht mehr aushalten?« schienen diese beiden Augen zu sagen.

»Ein schöner Tag, was? Wie wär's heute mit einer Hetzjagd, mit einem flotten Ritt?« fragte Nikolai den Jäger und kraulte dabei Milka hinter den Ohren.

Daniil antwortete nicht und zwinkerte mit den Augen.

»Ich habe bei Tagesanbruch Uwarka ausgeschickt, um sie zu verhören«, sagte er nach einem Stillschweigen, das wohl eine Minute gedauert hatte. »Er sagte, sie hätte nach der Remise von Otradnoje gewechselt; da hätten sie geheult.« Das bedeutete: die Wölfin, die sie beide im Sinn hatten, sei mit ihren Jungen in einen kleinen, rings von Feldern umgebenen Wald bei Otradnoje, zwei Werst von dem Gutshaus entfernt, gelaufen.

»Ich meine, da müßten wir hinreiten!« sagte Nikolai. »Komm doch mal mit Uwarka zu mir.«

»Wie Sie befehlen.«

»Warte also noch mit der Fütterung der Hunde.«

»Sehr wohl.«

Nach fünf Minuten standen Daniil und Uwarka in Nikolais großem Zimmer. Obgleich Daniil nicht von großer Statur war, hatte man doch, wenn man ihn im Zimmer sah, den Eindruck, als sähe man ein Pferd oder einen Bären auf dem gedielten[385] Fußboden zwischen den Möbeln und sonstigen menschlichen Einrichtungsgegenständen. Auch Daniil selbst hatte diese Empfindung und blieb wie gewöhnlich dicht an der Tür stehen; auch gab er sich Mühe, möglichst leise zu sprechen und sich nicht zu bewegen, um in den Zimmern der Herrschaft nichts zu zerbrechen; und ferner suchte er alles das, was er zu sagen hatte, möglichst schnell von sich zu geben, damit er nur ja bald wieder ins Freie käme und nicht mehr die Zimmerdecke, sondern den Himmel über sich hätte.

Nachdem Nikolai sich nach allem erkundigt und dem Oberpikör die Erklärung entlockt hatte, daß von seiten der Hunde nichts im Weg stehe (Daniil hatte selbst Lust zu reiten), befahl er zu satteln. Aber als Daniil gerade hinausgehen wollte, kam schnellen Schrittes Natascha ins Zimmer, noch nicht frisiert und noch nicht angezogen, in ein großes, der Kinderfrau gehöriges Umschlagetuch eingehüllt. Mit ihr zusammen kam auch Petja hereingelaufen.

»Du reitest auf die Jagd?« fragte Natascha. »Das habe ich doch gewußt! Sonja sagte, ihr würdet nicht reiten. Aber ich wußte, daß heute ein so schöner Tag ist, daß man ihn nicht unbenutzt lassen kann.«

»Ja, wir reiten«, antwortete Nikolai widerwillig, der heute, wo er eine ernste Jagd zu veranstalten beabsichtigte, keine Lust hatte, Natascha und Petja mitzunehmen. »Wir reiten, aber nur auf Wolfsjagd; das würde dir langweilig sein.«

»Du weißt doch, daß das für mich das größte Vergnügen ist«, erwiderte Natascha. »Das ist schlecht von dir. Er selbst will reiten und läßt satteln, und uns sagt er nichts davon.«

»Für einen echten Russen gibt es keine Hindernisse!« rief Petja. »Wir reiten mit.«

»Aber du darfst ja gar nicht«, sagte Nikolai, zu Natascha gewendet. »Mama hat gesagt, du solltest es nicht tun.«[386]

»Ich reite doch mit; unter allen Umständen reite ich mit«, sagte Natascha in entschiedenem Ton. »Daniil«, wandte sie sich an den Oberpikör, »laß Pferde für uns satteln und sage zu Michail, er soll mit meiner Koppel reiten.«

Daniil fühlte sich sowieso schon im Zimmer unbehaglich und bedrückt; aber nun gar mit dem gnädigen Fräulein zu tun zu haben, das schien ihm geradezu ein Ding der Unmöglichkeit. Er schlug die Augen nieder und hatte es, wie wenn ihn die Sache nichts anginge, eilig hinauszukommen, wobei er sich sehr in acht nahm, dem gnädigen Fräulein nicht etwa unversehens irgendwie Schaden zu tun.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 382-387.
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