V

[396] Unterdessen hielt Nikolai Rostow an seinem Platz und wartete auf einen Wolf. An dem Näherkommen oder Zurückweichen des Jagdlärms, an dem Ton des Gebells der ihm bekannten Hunde, sowie daran, daß die Stimmen der Piköre lauter oder schwächer klangen, erkannte er, was in der Waldremise vorging. Er wußte, daß sich in dieser Waldremise junge und alte Wölfe befanden; er wußte, daß die Hunde sich in zwei Meuten geteilt hatten, daß sie irgendwo hinter einem Wolf her waren, und daß sich irgend etwas Unerwünschtes zugetragen hatte. Jeden Augenblick erwartete er, daß der Wolf nach seiner Seite kommen werde. Er überlegte sich tausend verschiedene Möglichkeiten, wie und von welcher Seite der Wolf werde angelaufen kommen, und wie er ihn dann hetzen werde. In seiner Seele wechselte Hoffnung mit Verzweiflung ab. Ab und zu wandte er sich an Gott mit der Bitte, doch den Wolf nach seiner Seite herauskommen zu lassen. Er betete in der leidenschaftlichen, aber verschämten Art, in welcher Menschen in Augenblicken einer starken, aber aus nichtiger Ursache hervorgegangenen Erregung zu beten pflegen. »Nun, was kostet es dich«, sagte er zu Gott, »mir diese Liebe zu tun! Ich weiß, daß du groß bist, und daß es Sünde ist, dich um so etwas zu bitten; aber doch bitte ich dich inständig: gib, daß ein alter Wolf nach meiner Seite herauskommt, und daß Karai vor den[396] Augen des Onkels, der von seinem Stand aus immer hierherblickt, das Tier an der Kehle packt und totbeißt.« Tausendmal in dieser halben Stunde ließ Rostow mit hartnäckiger Ausdauer seinen gespannten, unruhigen Blick über den Waldsaum mit den zwei dünnbelaubten, das Espengebüsch überragenden Eichen hingleiten und über die Schlucht mit dem ausgewaschenen Rand und über die Mütze des Onkels, von dem hinter einem Strauch rechts nur ganz wenig zu sehen war.

»Nein«, dachte Rostow, »dieses Glück wird mir nicht zuteil werden, und es wäre doch für Gott eine Kleinigkeit! Aber es wird mir nicht zuteil werden! Immer habe ich Unglück, beim Kartenspiel und im Krieg und in allem.« Austerlitz und Dolochow tauchten mit großer Deutlichkeit, aber schnell einander ablösend, vor seinem geistigen Blick auf. »Nur einmal in meinem Leben möchte ich einen alten Wolf tothetzen; weiter habe ich keinen Wunsch!« dachte er und strengte Gesicht und Gehör an, indem er nach links und wieder nach rechts blickte und auf die geringsten Veränderungen des Jagdlärmes lauschte.

Wieder einmal blickte er nach rechts und sah, daß über das freie Feld etwas auf ihn zu gelaufen kam. »Nein, es ist wohl nicht möglich!« dachte Rostow schwer aufatmend, wie man aufzuatmen pflegt, wenn etwas längst Erwartetes Wirklichkeit wird. Das größte Glück war gekommen, und in so schlichter Art, ohne Lärm und Glanz und Vorboten. Rostow traute seinen Augen nicht, und dieser Zweifel dauerte länger als eine Sekunde. Der Wolf setzte seinen Lauf fort und sprang schwerfällig über einen Wasserriß, der in seinem Weg lag. Es war ein altes Tier mit grauem Rücken und vollgefressenem, rötlichem Bauch. Der Wolf lief ohne übermäßige Eile, da er offenbar meinte, es sähe ihn niemand. Rostow sah sich, den Atem anhaltend, nach den Hunden um. Sie lagen und standen da, ohne den Wolf zu sehen[397] und ohne irgend etwas zu wittern. Der alte Karai hatte den Kopf zurückgedreht, fletschte, ärgerlich einen Floh suchend, die gelben Zähne und schnappte mit ihnen knackend an den Hinterschenkeln herum.

»Uljuljulju!« flüsterte Rostow mit breitgezogenen Lippen. Die Hunde sprangen, mit den Eisen klirrend, auf und spitzten die Ohren. Karai fuhr schnell noch ein paarmal mit den Zähnen durch das Haar am Hinterschenkel und stand dann gleichfalls auf, spitzte die Ohren und bewegte leise die Rute hin und her, an welcher verfilzte Haarbüschel hingen.

»Loslassen oder nicht loslassen?« sagte Nikolai zu sich selbst in dem Augenblick, als der sich ihm nähernde Wolf nach allen Seiten ziemlich weit vom Wald entfernt war. Plötzlich änderte sich die ganze Physiognomie des Wolfes: er schrak zusammen, da er die Augen eines Menschen, die er wahrscheinlich noch nie vorher erblickt hatte, auf sich gerichtet sah, und blieb, den Kopf ein wenig nach dem Jäger hinwendend, stehen. »Vorwärts oder rückwärts? Ach was, es ist ganz gleich, vorwärts!« schien er zu sich selbst zu sagen und setzte, ohne sich weiter umzusehen, mit weichen, mäßig schnellen und mäßig großen, aber entschlossenen Sprüngen seinen Lauf fort.

»Uljulju!« schrie Nikolai mit fremdartig klingender Stimme, und sein braves Pferd rannte aus eigenem Antrieb Hals über Kopf bergab, die vom Wasser gerissenen Vertiefungen überspringend, quer zu der Richtung des Wolfes; und noch schneller, das Pferd überholend, stürmten die Hunde dahin. Nikolai hörte seinen eigenen Schrei nicht, fühlte nicht, daß er dahingaloppierte, sah weder die Hunde noch das Terrain, auf dem er ritt; er sah nur den Wolf, der, sein Tempo beschleunigend, ohne die Richtung zu verändern, in einer Bodenrinne lief. Der erste Hund, der sich in der Nähe des Wolfes zeigte, war die schwarzgescheckte Milka[398] mit dem breiten Hinterteil; der Zwischenraum zwischen ihr und dem Verfolgten wurde immer geringer. Näher, immer näher kam sie heran ... jetzt war sie schon dicht bei ihm. Aber der Wolf schielte nur ein wenig nach ihr hin, und statt zuzupacken, wie sie es sonst immer tat, hob Milka auf einmal den Schwanz in die Höhe und stemmte sich auf die Vorderbeine.

»Uljuljuljulju!« schrie Nikolai.

Der fuchsrote Ljubim sprang hinter Milka hervor, stürzte sich eifrig auf den Wolf und packte ihn an einer Lende, sprang aber im gleichen Augenblick erschrocken nach der andern Seite hinüber. Der Wolf hatte sich hingesetzt und mit den Zähnen geklappt; nun erhob er sich wieder und lief weiter, von allen Hunden in einer Entfernung von einem Schritt verfolgt, ohne daß sie gewagt hätten, ihm näherzukommen.

»Er entkommt! Nein, das ist doch nicht möglich!« dachte Nikolai, der mit heiserer Stimme fortfuhr zu schreien.

»Karai! Uljulju ...!« schrie er und suchte mit den Augen den alten Hund, der jetzt seine einzige Hoffnung bildete. Karai streckte sich aus allen Kräften, soviel er bei seinem Alter nur konnte, und lief, immer nach dem Wolf hinblickend, schwerfällig seitwärts, um ihm den Weg abzuschneiden. Aber wenn man die Schnelligkeit des Wolfes und die Langsamkeit des Hundes zusammenhielt, so war klar, daß Karais Rechnung nicht stimmte. Nikolai erblickte schon ziemlich nahe vor sich diejenige Partie des Waldes, in der der Wolf aller Wahrscheinlichkeit nach Rettung fand, wenn er sie erreichte. Da tauchten plötzlich Hunde und ein Jäger auf, der dem Wolf beinahe gerade entgegen galoppierte. Nun war noch Hoffnung vorhanden. Ein Hund, den Nikolai nicht kannte, ein dunkelgewellter, langgestreckter, junger Rüde von einer fremden Koppel, stürmte hitzig von vorn gegen den Wolf an und hätte ihn beinahe umgerannt. Aber mit einer Schnelligkeit, die[399] man ihm nicht zugetraut hätte, hob sich der Wolf in die Höhe, stürzte sich auf seinen Gegner, schnappte mit den Zähnen zu, und blutend, mit klaffender Flanke, schlug der Hund laut aufwinselnd mit dem Kopf auf die Erde.

»Karai, lieber, guter, alter Karai!« bat Nikolai fast weinend.

Der alte Hund mit den verfilzten Haarklümpchen am Schwanz und an den Schenkeln war, dank dem entstandenen Aufenthalt, bei seinem Versuch dem Wolf den Weg abzuschneiden, diesem schon auf fünf Schritte nahe gekommen. Wie wenn er die Gefahr spürte, schielte der Wolf nach Karai hin, zog den Schwanz noch mehr zwischen die Beine und steigerte die Geschwindigkeit seines Laufes. Aber nun befand sich Karai (Nikolai hatte nur gesehen, daß irgend etwas mit dem Hund vorging) plötzlich auf dem Wolf und rollte mit ihm zusammen über Hals und Kopf in eine vom Wasser ausgewaschene Vertiefung, die sie vor sich hatten.

Der Augenblick, als Nikolai in der Vertiefung die auf dem Wolf sich herumwälzenden Hunde erblickte und zwischen ihnen das graue Fell des Wolfes und sein ausgestrecktes eines Hinterbein und seinen Kopf mit dem angstvollen Ausdruck, den angedrückten Ohren und dem nach Luft schnappenden Maul (Karai hielt ihn an der Kehle gepackt), der Augenblick, als Nikolai das sah, war der glücklichste seines Lebens. Er faßte schon nach dem Sattelbogen, um abzusteigen und dem Wolf den Fangstoß zu geben, als sich auf einmal aus diesem Knäuel von Hunden der Kopf des Wolfes nach oben hindurcharbeitete und dann die Vorderbeine auf den Rand der Vertiefung traten. Der Wolf schnappte mit den Zähnen um sich (Karai hielt ihn nicht mehr an der Kehle), sprang mit den Hinterbeinen aus dem Loch heraus und lief, der Hunde wieder ledig geworden, mit eingeklemmtem Schwanz weiter. Karai kroch mit gesträubtem Haar, wahrscheinlich[400] verwundet oder gequetscht, mühsam aus der Vertiefung heraus.

»Mein Gott! Womit habe ich das verdient?« rief Nikolai in heller Verzweiflung.

Der Jäger des Onkels kam von der andern Seite herangesprengt, um dem Wolf den Weg abzuschneiden, und seine Hunde brachten das Tier wieder zum Stehen, das nun von neuem umringt wurde.

Nikolai, sein Leibjäger, der Onkel und der Jäger des Onkels umschwärmten den Wolf, schrien Uljulju und schickten sich jedesmal an abzusteigen, sobald der Wolf sich auf die Hinterbeine niedersetzte, ritten aber jedesmal weiter, wenn der Wolf die Hunde abschüttelte und nach dem Dickicht zulief, wo er sich Rettung erhoffte.

Gleich zu Anfang dieser Hetze war Daniil, als er das Uljulju-Geschrei hörte, eilig aus dem Wald bis an den Rand geritten. Er hatte gesehen, wie Karai den Wolf packte, und sein Pferd angehalten, in der Meinung, daß die Sache nun beendet sei. Aber als die Jäger nicht abstiegen, der Wolf die Hunde immer wieder abschüttelte und weiterflüchtete, da setzte Daniil seinen Braunen wieder in Bewegung, nicht in der Richtung nach dem Wolf zu, sondern geradewegs nach dem Dickicht hin, um, in derselben Weise wie vorher Karai, dem Wolf den Weg abzuschneiden. Infolge dieses Manövers gelangte er zu dem Wolf in dem Augenblick, als die Hunde des Onkels den Wolf wieder einmal anhielten.

Daniil kam schweigend, den bloßen Dolch in der Linken haltend, herangesprengt und schlug mit der Hetzpeitsche wie mit einem Dreschflegel auf die eingefallenen Flanken seines Braunen los.

Nikolai hatte ihn nicht eher gesehen und gehört, als bis der[401] Braune dicht neben ihm schweratmend vorbeikeuchte; darauf hörte er das Geräusch von dem Fall eines Körpers und sah, daß Daniil bereits mitten unter den Hunden auf dem Hinterteil des Wolfes lag und sich bemühte, ihn an den Ohren zu packen. Allen Beteiligten, den Hunden, den Jägern und dem Wolf, war klar, daß jetzt die Sache zu Ende ging. Der Wolf versuchte, angstvoll die Ohren an den Kopf drückend, sich zu erheben; aber die Hunde hingen von allen Seiten an ihm fest. Daniil richtete sich ein wenig auf und ließ sich dann mit seinem ganzen Gewicht, wie wenn er sich zur Ruhe legen wollte, wieder auf den Wolf niederfallen, wobei er ihn an den Ohren faßte. Nikolai wollte dem Wolf den Fangstoß geben; aber Daniil flüsterte ihm zu: »Nicht doch! Wir wollen ihn knebeln!«, und seine Stellung ändernd, trat er mit dem Fuß auf den Hals des Wolfes. Dem Wolf wurde ein Stock in den Rachen geschoben und mit einem Koppelriemen nach Art eines Zaumes festgebunden; dann wurden ihm auch die Füße zusammengebunden, und Daniil drehte den Wolf ein paarmal von einer Seite auf die andere.

Die Jäger, auf deren Gesichtern sich ihre Ermüdung und zugleich ihre hohe Freude ausprägte, legten den alten Wolf in diesem Zustand lebend auf ein scheuendes, schnaubendes Pferd und brachten ihn, von den ihn umwinselnden Hunden begleitet, nach dem Platz, wo sich alle wieder zusammenfinden sollten. Alle kamen herbeigeritten und herbeigelaufen, um den Wolf zu besehen, der seinen breitstirnigen Kopf mit dem zaumartig im Maul befestigten Stock herabhängen ließ und mit seinen großen, glasigen Augen auf diese ganze Menge von Hunden und Menschen blickte, die ihn umringte. Wenn man ihn berührte, zuckte er mit den zusammengebundenen Beinen und sah alle wild und zugleich einfältig an. Auch Graf Ilja Andrejewitsch kam herbeigeritten und faßte den Wolf an.[402]

»Oh, was für ein gewaltiges Tier!« sagte er. »Ein gewaltiges Tier, nicht wahr?« fragte er den neben ihm stehenden Daniil.

»Jawohl, Euer Erlaucht«, antwortete Daniil und nahm eilig die Mütze ab.

Der Graf dachte daran, wie er den Wolf hatte durchkommen lassen, und was er dabei für ein Rekontre mit Daniil gehabt hatte.

»Aber hör mal, lieber Freund, was kannst du ärgerlich werden!« bemerkte der Graf.

Daniil antwortete nicht und verzog nur verlegen den Mund zu einem kindlich-sanften, freundlichen Lächeln.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 396-403.
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