VIII

[426] Graf Ilja Andrejewitsch hatte sein Amt als Adelsmarschall niedergelegt, weil es mit allzu großen Ausgaben verknüpft war. Aber seine pekuniäre Lage war darum doch nicht besser geworden. Häufig sahen Natascha und Nikolai, daß die Eltern geheime, aufgeregte Unterredungen miteinander hatten, und hörten Äußerungen über einen Verkauf des großen Rostowschen Familienhauses und des bei Moskau gelegenen Landhauses. Der Graf brauchte jetzt, wo er nicht mehr Adelsmarschall war, keinen so großen Verkehr mehr zu unterhalten wie vorher, und das Leben in Otradnoje verlief stiller als in früheren Jahren; aber doch waren das gewaltige Haus und die Nebengebäude noch immer ebenso voll von allerlei Leuten, und am Tisch saßen auch jetzt noch mehr als zwanzig Personen. Es waren dies teils Leute, die zum Haus gehörten und schon lange im Haus lebten und beinah als Familienmitglieder betrachtet wurden, teils solche, bei denen es wenigstens dem Grafen und der Gräfin absolut notwendig schien, sie im Haus wohnen zu lassen. Dazu gehörten der Musiker Dümmler mit seiner Frau, der Tanzlehrer Vogel mit seiner Familie, ein altes Fräulein Bjelowa, und noch viele andere: die Lehrer Petjas, zwei ehemalige Gouvernanten der Töchter, und manche Leute, die es einfach für angenehmer oder für vorteilhafter hielten, bei dem Grafen zu leben als in einer eigenen Wohnung. Es kam nicht mehr ganz soviel Besuch von auswärts wie früher; aber der ganze Zuschnitt der Lebensführung war unverändert geblieben – in andrer Weise konnten sich der Graf und die Gräfin ihr Leben eben gar nicht vorstellen. Es bestand noch derselbe, von Nikolai sogar noch vergrößerte Jagdapparat an Hunden und Jägern; es standen immer noch in den Ställen fünfzig Pferde, zu denen fünfzehn Kutscher gehörten;[427] zu den Namenstagen wurden wie früher teure Geschenke gemacht und großartige Diners gegeben, zu denen die Adligen des ganzen Kreises eingeladen wurden; unverändert geblieben waren auch des Grafen Whist- und Bostonpartien, bei denen er es den Mitspielern, meist Gutsnachbarn, sehr bequem machte, ihm in die Karten zu sehen, und an jedem Spielabend Hunderte von Rubeln verlor, so daß das Recht, mit dem Grafen Ilja Andrejewitsch Karten zu spielen, allgemein als eine sehr vorteilhafte Leibrente angesehen wurde.

Der Graf steckte in seinen Geldnöten wie in einem großen Jägergarn; er wollte nicht glauben, daß er sich darin verstrickt habe, und verstrickte sich doch mit jedem Schritt mehr und mehr, und fühlte sich weder imstande, das Netz, das ihn umschloß, zu zerreißen, noch es vorsichtig und geduldig zu lösen. Der Gräfin mit ihrem liebenden Herzen entging es nicht, daß das Vermögen ihrer Kinder dahinschwand; sie sagte sich jedoch, der Graf trage keine Schuld; er könne nicht anders sein, als wie ihn die Natur gemacht habe, und leide selbst, obwohl er es verberge, unter dem Bewußtsein, daß ihm und seinen Kindern der Ruin drohe. So suchte sie denn Mittel, dem Notstand abzuhelfen. Von ihrem Frauenstandpunkt aus bot sich ihr nur ein einziges Mittel dar: eine Heirat Nikolais mit einem reichen Mädchen. Sie fühlte, daß dies die letzte Möglichkeit war, und daß, wenn Nikolai die Partie ausschlage, die sie für ihn gefunden hatte, sie von der Hoffnung, ihre Lage zu verbessern, auf immer Abschied nehmen müßten. Diese Partie war Julja Karagina, die Tochter trefflicher, hochachtbarer Eltern, die seit ihrer Kindheit in der Familie Rostow verkehrte und jetzt durch den Tod ihres letzten Bruders sehr reich geworden war.

Die Gräfin schrieb direkt an Frau Karagina nach Moskau, brachte eine Heirat der beiden Kinder in Anregung und erhielt[428] von ihr eine freundliche Antwort. Frau Karagina erwiderte, sie ihrerseits sei einverstanden; es werde davon abhängen, ob ihre Tochter dazu geneigt sei. Frau Karagina sprach den Wunsch aus, Nikolai möchte doch nach Moskau kommen.

Nunmehr äußerte sich die Gräfin ihrem Sohn gegenüber mehrmals mit Tränen in den Augen dahin, jetzt, wo ihre beiden Töchter versorgt seien, habe sie nur noch den einen Wunsch, ihn verheiratet zu sehen. Sie sagte, wenn das geschehen wäre, würde sie sich beruhigt ins Grab legen. Und im Anschluß daran teilte sie ihm mit, daß sie ein vortreffliches Mädchen für ihn ins Auge gefaßt habe, und suchte herauszubekommen, wie er über eine Verheiratung denke.

Bei anderen Gelegenheiten lobte sie Julja und redete ihrem Sohn zu, für die Feiertage nach Moskau zu fahren und sich dort zu amüsieren. Nikolai merkte, worauf solche Reden seiner Mutter hinzielten, und forderte sie einmal bei einem derartigen Gespräch auf, ganz offen zu sein. Da sagte sie ihm unverhohlen, daß alle Hoffnung auf eine Besserung der Verhältnisse jetzt lediglich auf seiner Heirat mit Fräulein Karagina beruhe.

»Aber wenn ich nun ein Mädchen ohne Vermögen liebte, würden Sie dann wirklich von mir verlangen, Mama, daß ich meine Neigung und meine Ehre um des Geldes willen zum Opfer brächte?« fragte er seine Mutter. Für die Grausamkeit, die in dieser Frage lag, hatte er keine Empfindung; ihm lag nur daran, seine edle Gesinnung ins rechte Licht zu stellen.

»Nein, du hast mich nicht richtig verstanden«, erwiderte die Mutter, die nicht recht wußte, wie sie sich herausreden sollte. »Du hast mich nicht richtig verstanden, lieber Nikolai. Ich wünsche nur dein Glück«, fügte sie hinzu, fühlte aber dabei selbst, daß sie die Unwahrheit sagte und sich verwickelte. Sie fing an zu weinen.

»Liebe Mama, weinen Sie nicht, sondern sagen Sie mir nur,[429] daß Sie das wünschen, und Sie wissen, daß ich mein ganzes Leben und alles, was ich habe, hingeben werde, damit Sie ruhig sein können«, sagte Nikolai. »Ich werde alles um Ihretwillen zum Opfer bringen, sogar meine Neigung.«

Aber so wollte die Gräfin die Sache nicht aufgefaßt sehen; ein Opfer von seiten ihres Sohnes wünschte sie nicht; vielmehr hätte sie ihm gern selbst Opfer gebracht.

»Nein, du hast mich nicht richtig verstanden; wir wollen nicht weiter davon reden«, sagte sie und trocknete ihre Tränen.

»Ja, vielleicht liebe ich wirklich ein armes Mädchen«, sagte Nikolai zu sich selbst. »Nun wohl: soll ich dann meine Neigung und meine Ehre um des Geldes willen zum Opfer bringen? Ich wundere mich, daß Mama mir das hat zumuten können. Darf ich deswegen, weil Sonja arm ist, sie nicht lieben, ihre treue, hingebende Liebe nicht erwidern? Und doch werde ich sicherlich mit ihr glücklicher sein als mit irgendeiner Puppe wie diese Julja. Für das Wohl meiner Angehörigen meine Neigung zum Opfer zu bringen, das werde ich stets vermögen«, sagte er zu sich selbst; »aber ihr befehlen, das kann ich nicht. Wenn ich Sonja liebe, so ist meine Neigung stärker als alles andre und steht mir höher als alles andre.«

Nikolai reiste nicht nach Moskau; die Gräfin sprach nicht wieder mit ihm von der Heirat und nahm mit Betrübnis und mitunter sogar mit einer gewissen Erbitterung deutliche Anzeichen einer immer größer werdenden Annäherung zwischen ihrem Sohn und der vermögenslosen Sonja wahr. Sie machte sich deswegen selbst Vorwürfe, konnte sich aber doch nicht enthalten, Sonja mürrisch und zänkisch zu behandeln; oft schnitt sie ihr ohne Ursache das Wort ab und nannte sie »Sie« und »meine Liebe«. Am meisten ärgerte sich die gute Gräfin über Sonja deswegen, weil diese arme, schwarzäugige Nichte so sanft, so gut, ihren Wohltätern[430] so dankbar ergeben war und an Nikolai mit so treuer, unwandelbarer, aufopfernder Liebe hing, daß es nicht möglich war, ihr irgendwelche Vorwürfe zu machen.

Nikolai verlebte seinen ganzen Urlaub bei seinen Angehörigen. Von dem Bräutigam, dem Fürsten Andrei, traf ein vierter Brief ein, aus Rom, in welchem er schrieb, er würde schon längst auf dem Wege nach Rußland sein, wenn nicht in dem warmen Klima unerwarteterweise seine Wunde wieder aufgebrochen wäre, was ihn zwinge, seine Abreise bis zum Anfang des nächsten Jahres zu verschieben. Natascha war noch ebenso verliebt in ihren Bräutigam, fühlte sich in dieser Liebe noch ebenso ruhig und sicher und war noch ebenso empfänglich für alle Freuden des Lebens; aber gegen Ende des vierten Monats ihrer Trennung von ihrem Bräutigam stellte sich bei ihr doch zuzeiten eine Traurigkeit ein, gegen die sie vergebens ankämpfte. Sie tat sich selbst leid; es tat ihr leid, daß sie diese ganze Zeit so unnütz, ohne daß jemand etwas davon gehabt hätte, dahinleben mußte, diese Zeit, in der sie sich doch so fähig fühlte, zu lieben und geliebt zu werden.

Es herrschte im Rostowschen Hause keine vergnügte Stimmung.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 426-431.
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