VII

[414] Als sich am Abend Ilagin von Rostow verabschiedet hatte, befand sich Nikolai so weit von zu Hause entfernt, daß er den Vorschlag des Onkels annahm, die Hunde und Jäger bei ihm auf seinem kleinen Gut Michailowka übernachten zu lassen.

»Und das beste wäre schon, wenn auch ihr auf eine Weile zu mir herankämt, klar und selbstverständlich«, sagte der Onkel. »Seht mal, es ist feuchtes Wetter; da könntet ihr euch ein bißchen erholen, und die Komtesse könnte dann in einem Wagen nach Hause fahren.«

Auch dieser Vorschlag des Onkels wurde angenommen; es wurde ein Jäger nach Otradnoje geschickt, um einen Wagen zu holen, und Nikolai, Natascha und Petja ritten zum Onkel.

Etwa fünf Leibeigene, Männer und Knaben, kamen auf die vordere Freitreppe herausgelaufen, um ihren Herrn zu empfangen. Dutzende von weiblichen Wesen, alten und jungen, drängten sich von dem hinteren Ausgang her hinzu, um die heranreitenden Jäger zu sehen. Der Anblick Nataschas, einer Dame, eines Fräuleins zu Pferd, steigerte die Neugierde der Gutsleute des Onkels dermaßen, daß viele, ohne sich vor ihr zu scheuen, zu ihr herantraten, ihr in die Augen sahen und laut vor ihren Ohren ihre Bemerkungen über sie machten, als ob sie ein zur Schau gestelltes Wundertier wäre, das kein Mensch ist und nicht hören und verstehen kann, was man von ihm sagt.

»Arinka, sieh nur, sie sitzt auf der Seite! Ganz von allein sitzt sie, und das Kleid baumelt herunter ... Sieh nur, auch ein kleines Jagdhorn hat sie!«[414]

»All ihr lieben Heiligen, auch ein kleines Jagdmesser ...«

»Die reine Tatarin!«

»Wie machst du das bloß, daß du nicht herunterpurzelst?« sagte die dreisteste, sich geradezu an Natascha wendend.

Der Onkel stieg an der Freitreppe seines hölzernen, von einem Garten umgebenen Häuschens vom Pferd, und als er seine Hausleute sah, rief er ihnen gebieterisch zu, wer hier nichts zu tun habe, solle machen, daß er davonkäme, und es solle alles, was zur Aufnahme der Gäste und des Jagdgefolges nötig sei, getan werden.

Alle liefen auseinander. Der Onkel hob Natascha vom Pferd und führte sie an seinem Arm die wackligen Bretterstufen der Freitreppe hinauf. Im Haus zeigten die Balkenwände keinen Kalkbewurf; auch war es nicht sonderlich sauber: man sah, daß den Bewohnern nicht daran lag, jeden Fleck zu verhüten; aber es war keine gröbere Vernachlässigung wahrnehmbar. Im Flur roch es nach frischen Äpfeln, und es hingen dort Wolfs- und Fuchsfelle.

Durch ein Vorzimmer führte der Onkel seine Gäste in einen kleinen Saal mit einem Klapptisch und roten Stühlen, dann in einen Salon mit einem runden Tisch von Birkenholz und einem Sofa, dann in sein eigenes Zimmer mit einem zerrissenen Sofa, einem abgenutzten Teppich und mit Porträts, welche den Feldmarschall Suworow, den Vater und die Mutter des Hausherrn und ihn selbst in Militäruniform darstellten. In diesem Zimmer machte sich ein starker Geruch nach Tabak und Hunden spürbar. Hier bat der Onkel seine Gäste Platz zu nehmen und zu tun, als ob sie zu Hause wären; er selbst ging hinaus. Rugai mit seinem unsauberen Rücken kam ins Zimmer, legte sich auf das Sofa und begann sich mit Zunge und Zähnen zu reinigen. Aus diesem Zimmer führte ein Korridor weiter, in dem ein Wandschirm mit[415] zerrissenem Bezug sichtbar war. Hinter dem Wandschirm hervor ließ sich Lachen und Flüstern weiblicher Personen vernehmen. Natascha, Nikolai und Petja nahmen, sich in den vorhandenen Raum teilend, auf dem Sofa Platz. Petja stützte sich mit dem Ellbogen auf und war sofort eingeschlafen; Natascha und Nikolai saßen schweigend da. Ihre Gesichter brannten; sie waren sehr hungrig und sehr lustig. Sie sahen einander an (nach der Jagd, hier im Zimmer, hielt Nikolai es nicht mehr für nötig, seiner Schwester gegenüber seine männliche Überlegenheit zu betonen); Natascha blinzelte dem Bruder zu, und nun konnten sich beide nicht mehr lange beherrschen, sondern lachten laut los, ohne daß sie sich noch über einen Grund für dieses Lachen klargeworden wären.

Nach einer kleinen Weile kam der Onkel wieder zurück, jetzt in einem kurzen Rock, blauen Hosen und niedrigen Stiefeln. Und Natascha hatte die Empfindung, daß dieses selbe Kostüm, das ihr wunderlich und komisch erschienen war, wenn der Onkel es in Otradnoje trug, eine ganz vernünftige Tracht sei und in keiner Hinsicht schlechter als ein Oberrock oder ein Frack. Der Onkel war ebenfalls vergnügt; er fühlte sich, als Bruder und Schwester wieder lachten, nicht im geringsten beleidigt (es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß sie über seine Lebensweise lachen könnten), sondern stimmte selbst in ihr grundloses Gelächter ein.

»Ja, das ist einmal eine junge Komtesse!« sagte er. »Klar und selbstverständlich, so eine habe ich noch nie gesehen.« Dabei reichte er Nikolai eine lange Pfeife; er selbst nahm mit geübtem Griff eine kurze zwischen drei Finger. »Den ganzen Tag hat sie im Sattel gesessen; einem Manne würde es Ehre machen; und dabei ist sie so munter, als wäre gar nichts gewesen!«

Der Onkel war noch nicht lange wieder da, als die Tür von neuem geöffnet wurde, und zwar, wie sich aus dem Geräusch der[416] Schritte erkennen ließ, offenbar von einer barfuß gehenden Frauensperson. Ein großes, reichbesetztes Präsentierbrett in den Händen haltend, trat ein korpulentes, rotwangiges, hübsches Weib von etwa vierzig Jahren, mit einem Doppelkinn und vollen roten Lippen, ins Zimmer. Aus den Blicken, mit denen sie die Gäste ansah, und aus jeder Bewegung ihrer stattlichen Gestalt sprach liebenswürdige Gastfreundschaft, und mit freundlichem Lächeln verbeugte sie sich respektvoll vor ihnen. Trotz ihrer beträchtlichen Körperfülle, die sie zwang, Brust und Leib nach vorn zu stellen und den Kopf nach hinten zu halten, hatte diese Frau, die Wirtschafterin des Onkels, doch einen sehr leichten Gang. Sie trat an den Tisch, stellte das Präsentierbrett darauf, nahm mit ihren weißen, fleischigen Händen geschickt Flaschen, Speisen und sonstiges Zubehör herunter und ordnete alles auf dem Tisch. Als sie damit fertig war, trat sie zurück und stellte sich lächelnd an die Tür. Ihre ganze Erscheinung sagte gleichsam zu Nikolai: »Siehst du wohl, da bin auch ich! Verstehst du jetzt deinen Onkel?« Und wie hätte er ihn nicht verstehen sollen? Ja, nicht nur Nikolai, sondern auch Natascha verstand den Onkel und die Bedeutung seiner zusammengezogenen Brauen und des glücklichen, zufriedenen Lächelns, das in dem Augenblick, als Anisja Fedorowna eintrat, ganz leise um seine Lippen spielte.

Auf dem Präsentierbrett standen: Kräuterbranntwein, Fruchtliköre, eingemachte Pilze, Pfannkuchen aus Roggenmehl mit Buttermilch, Scheibenhonig, moussierender Met, Äpfel, frische und geröstete Nüsse und Nüsse in Honig. Dann brachte Anisja Fedorowna noch Eingemachtes in Honig und Zucker, sowie Schinken und ein frischgebratenes Huhn.

Alles dies stammte aus Anisja Fedorownas Wirtschaft und war von ihren kunstfertigen Händen hergestellt. Alles roch und schmeckte sozusagen nach Anisja Fedorowna und erinnerte an sie[417] durch sein Aussehen. In allem glaubte man eine Widerspiegelung ihrer Fülle, ihrer Sauberkeit, ihrer weißen Haut und ihres angenehmen Lächelns zu sehen.

»Essen Sie doch, gnädiges Fräulein«, sagte sie immer wieder und reichte Natascha bald dieses, bald jenes.

Natascha aß von allem, und es schien ihr, solche Pfannkuchen mit Buttermilch und so aromatisches Eingemachtes und solche Nüsse in Honig und ein solches Huhn habe sie noch nie und nirgends gesehen und gegessen. Anisja Fedorowna ging wieder hinaus.

Rostow und der Onkel tranken nach dem Abendessen ein Gläschen Kirschlikör und unterhielten sich über die heute abgehaltene und über die nächste Jagd, über Rugai und über Ilagins Hunde. Natascha saß mit glänzenden Augen aufrecht auf dem Sofa und hörte ihnen zu. Einige Male machte sie den Versuch, Petja zu wecken, damit er etwas äße; aber er redete nur ein paar unverständliche Worte, offenbar ohne wach zu werden. Natascha fühlte sich so vergnügt und wohl in dieser ihr neuen Umgebung, daß ihre einzige Besorgnis war, der Wagen könne gar zu früh kommen, um sie abzuholen. Nach einem zufällig eingetretenen Stillschweigen, wie das fast immer vorkommt, wenn man Bekannte zum erstenmal als Gäste in seinem Haus hat, sagte der Onkel, wie wenn er damit auf einen Gedanken seiner Gäste antwortete:

»Ja, ja, so verbringe ich hier meinen Lebensrest. Wenn man stirbt, klar und selbstverständlich, kann man doch nichts mitnehmen. Wozu also um des Erwerbs willen sündigen!«

Das Gesicht des Onkels war sehr ernst und sogar schön, während er das sagte. Unwillkürlich erinnerte sich Nikolai dabei an all das, was er von seinem Vater und den Nachbarn Gutes über den Onkel gehört hatte. Der Onkel stand im Gouvernement ringsumher[418] in dem Ruf eines ehrenhaften, uneigennützigen Sonderlings. Man zog ihn hinzu, wo Familienstreitigkeiten zu erledigen waren, machte ihn zum Testamentsvollstrecker, vertraute ihm Geheimnisse an und wählte ihn zum Friedensrichter und zu anderen Vertrauensposten; aber ein wirkliches Amt anzunehmen weigerte er sich hartnäckig; im Herbst und im Frühling ritt er auf seinem hellbraunen Wallach auf den Feldern umher, im Winter saß er zu Hause, im Sommer lag er in seinem schattigen Garten.

»Warum mögen Sie denn nicht ein Amt bekleiden oder beim Militär dienen, lieber Onkel?«

»Das habe ich früher getan; aber ich habe es aufgegeben. Ich tauge nicht dazu, klar und selbstverständlich; ich finde mich dabei nicht zurecht. Das ist euer Geschäft; mein Verstand reicht dazu nicht aus. Ja, mit der Jagd ist das eine andre Sache, klar und selbstverständlich. Macht doch die Tür auf!« rief er. »Warum habt ihr die Tür zugemacht?«

Am Ende des Korridors (den der Onkel »Kolidor« nannte) führte eine Tür in das »leere Jägerzimmer«; so hieß die Stube für die zu den Dienstleuten gehörigen Jäger.

Nackte Füße gingen klatschend schnell über die Dielen, und eine unsichtbare Hand öffnete die Tür zum Jägerzimmer. Nun wurden aus dem Korridor die Töne einer Balalaika deutlich hörbar, die offenbar von einem Meister in dieser Kunst gespielt wurde. Natascha, die schon lange nach diesen Klängen hingehorcht hatte, ging jetzt auf den Korridor hinaus, um sie deutlicher zu hören.

»Das ist mein Kutscher Mitka. Ich habe ihm eine gute Balalaika gekauft; es macht mir Vergnügen«, sagte der Onkel.

Der Onkel hatte ein für allemal die Anordnung getroffen, daß, wenn er von der Jagd zurückkehrte, Mitka in der Jägerstube auf der Balalaika spielte. Der Onkel hörte diese Musik sehr gern.[419]

»Schön, wirklich sehr gut«, bemerkte Nikolai, unwillkürlich in einem etwas lässigen Ton, wie wenn er sich schämte einzugestehen, daß ihm diese Klänge sehr gefielen.

»›Sehr gut‹ sagst du?« entgegnete vorwurfsvoll Natascha, der der Ton, dessen ihr Bruder sich bedient hatte, nicht entgangen war. »Das ist nicht sehr gut, sondern geradezu entzückend!«

Wie ihr die Pilze, der Honig und die Fruchtliköre des Onkels als die besten in der Welt erschienen waren, so erschien es ihr jetzt auch als der höchste Gipfel musikalischen Genusses, dieses Balalaikaspiel anzuhören.

»Noch mehr, bitte, noch mehr!« rief sie durch die Tür, als die Balalaika schwieg. Mitka stimmte das Instrument und ließ dann von neuem flott die Saiten klirrend ertönen: er spielte »Die Herrin«1 mit kunstvollen Läufen und Akkorden. Der Onkel saß da, den Kopf auf die Seite geneigt, und hörte mit leisem Lächeln zu. Die Melodie der »Herrin« wiederholte sich unzählige Male. Ab und zu wurde dazwischen die Balalaika gestimmt, und dann klirrten von neuem dieselben Töne, und die Zuhörer wurden dessen nicht überdrüssig, sondern hatten nur den einen Wunsch, dem Spiel immer noch länger zuzuhören. Anisja Fedorowna trat herein und lehnte sich mit ihrem behäbigen Körper an den Türpfosten.

»Sie haben die Güte zuzuhören?« sagte sie zu Natascha mit einem Lächeln, das mit dem Lächeln des Onkels eine außerordentliche Ähnlichkeit hatte. »Ja, wir haben da einen wahren Virtuosen im Haus«, fügte sie hinzu.

»Da! An dieser Stelle macht er es nicht richtig«, bemerkte auf einmal der Onkel mit einer energischen Handbewegung. »Hier[420] dürfen keine Verschleifungen sein, klar und selbstverständlich; keine Verschleifungen ...«

»Verstehen Sie sich auch darauf?« fragte Natascha.

Der Onkel antwortete nicht, sondern lächelte nur.

»Sieh doch mal nach, liebe Anisja, ob die Saiten an der Gitarre ganz sind. Ich habe sie lange nicht in der Hand gehabt, klar und selbstverständlich; ich habe es so gut wie ganz aufgegeben.«

Anisja Fedorowna ging willig mit ihrem leichten Gang hinaus, um den Auftrag ihres Herrn zu erfüllen, und brachte die Gitarre.

Der Onkel blies, ohne jemand anzusehen, den Staub davon ab, klopfte mit seinen knochigen Fingern auf den Boden der Gitarre, stimmte sie und setzte sich auf seinem Stuhl zurecht. Er ergriff mit einer etwas theatralischen Gebärde, indem er den linken Ellbogen vom Körper abspreizte, die Gitarre oben am Hals und zwinkerte der Wirtschafterin mit den Augen zu. Aber er spielte nicht die »Herrin«, sondern griff einen volltönenden, reinen Akkord und begann dann in sehr ruhigem, gemessenem Tempo, aber fest und sicher das bekannte Lied: »Auf der Straße abends spät eine Maid nach Wasser geht.« Und gleichzeitig hallte in demselben Takt, mit derselben maßvollen Heiterkeit (eben jener Heiterkeit, welche Anisja Fedorownas ganzes Wesen atmete) die Melodie des Liedes in Nikolais und Nataschas Herzen wider. Anisja Fedorowna errötete, lachte, hielt sich ihr Kopftuch vor das Gesicht und verließ das Zimmer. Der Onkel spielte die Melodie mit reinem, akkuratem, kräftigem Vortrag weiter und blickte dabei mit ganz veränderter, entzückter Miene nach der Stelle, von der Anisja Fedorowna soeben weggegangen war. Ein ganz, ganz leises Lachen war auf der einen Seite seines Gesichtes unter dem grauen Schnurrbart wahrzunehmen, namentlich dann, wenn die Melodie einen besonderen Schwung annahm, das[421] Tempo schneller wurde und auf einen kunstvollen Lauf der Schlußakkord folgte.

»Prachtvoll, prachtvoll, Onkelchen; noch mal, noch mal!« rief Natascha, sobald er geendet hatte. Sie sprang von ihrem Platz auf, umarmte den Onkel und küßte ihn. »Nikolai, Nikolai!« rief sie, indem sie sich nach ihrem Bruder umblickte und diesen gleichsam fragte, ob das nicht etwas ganz Wunderbares sei.

Auch diesem gefiel das Spiel des Onkels außerordentlich gut. Der Onkel spielte das Lied zum zweitenmal. Anisja Fedorownas lächelndes Gesicht erschien wieder in der Tür, und hinter ihr wurden noch andere Köpfe sichtbar. »Und der Bursch am Brunnen spricht: ›Schönes Mädchen, eile nicht!‹« spielte der Onkel, vollführte wieder einen geschickten Lauf mit Schlußakkord und machte ein paar rhythmische Bewegungen mit den Schultern.

»Ach ja, ach ja, liebstes, bestes Onkelchen!« bat Natascha in so innig flehendem Ton, als ob ihr Leben davon abhinge.

Der Onkel stand auf, und nun war es, als ob zwei verschiedene Menschen in ihm steckten: der eine von ihnen, der ernsthafte, lächelte leise über den andern, den lustigen, und der lustige machte in einer naiv gewissenhaften Weise einige einleitende Tanzbewegungen.

»Nun also, liebe Nichte!« rief der Onkel und schwenkte die Hand, mit der er soeben den letzten Akkord gegriffen hatte, nach Natascha zu.

Natascha warf das Umschlagtuch ab, in das sie sich eingehüllt hatte, lief zum Onkel, stellte sich vor ihn hin, stemmte die Hände in die Seiten, machte Bewegungen mit den Schultern und stand dann still.

Wo, wie und wann hatte diese von einer französischen Emigrantin erzogene kleine Komtesse aus der russischen Luft, die sie atmete, diesen Geist eingesogen? Wo nahm sie diese Tanzschritte[422] her, von denen zu erwarten gewesen wäre, daß der pas de châle sie längst verdrängt hatte? Aber dieser Geist und diese Tanzschritte waren eben jene nicht nachzuahmende, nicht zu erlernende russische Eigenart, die der Onkel denn auch von ihr erwartete. Sobald sie sich hingestellt hatte und feierlich-stolz und zugleich listig-vergnügt lächelte, war die Besorgnis, die sich Nikolais und aller Anwesenden zuerst hatte bemächtigen wollen, die Besorgnis, daß sie die Sache nicht richtig machen würde, verschwunden, und alle blickten auf sie mit neugieriger Bewunderung.

Sie machte alles, wie es sich gehörte, so richtig, so vollkommen richtig, daß Anisja Fedorowna, die ihr sofort das für diesen Tanz erforderliche Tuch gereicht hatte, zugleich lachen und weinen mußte beim Anblick dieser schlanken, anmutigen, ihr so fremden, in Samt und Seide aufgewachsenen Komtesse, die doch ganz ebenso zu empfinden verstand wie Anisja und Anisjas Vater und Tante und Mutter und wie jeder Russe.

»Na, meine liebe Komtesse, klar und selbstverständlich«, sagte vergnügt lachend der Onkel, sobald der Tanz zu Ende war. »So eine Nichte lob ich mir! Da müßte man dir bald einen netten, jungen Mann aussuchen, klar und selbstverständlich!«

»Ist schon ausgesucht«, warf Nikolai lächelnd dazwischen.

»Oh!« machte der Onkel verwundert und sah Natascha fragend an. Natascha nickte bejahend mit einem glückseligen Lächeln.

»Und was für einer!« sagte sie. Aber sowie sie das gesagt hatte, tauchte in ihrer Seele eine andere, neue Reihe von Gedanken und Empfindungen auf: »Was bedeutete Nikolais Lächeln, als er sagte: ›Ist schon ausgesucht‹? Freut er sich darüber oder nicht? Er scheint zu denken, daß mein Bolkonski für dieses Vergnügen, das wir uns hier machen, kein Verständnis haben und es nicht billigen würde. Nicht doch, er würde für alles Verständnis haben.[423] Wo mag er jetzt sein?« dachte Natascha, und ihr Gesicht wurde auf einmal ernsthaft. Aber das dauerte nur eine Sekunde. »Ich will nicht daran denken, darf nicht daran denken«, sagte sie zu sich, setzte sich lächelnd wieder zum Onkel hin und bat ihn, noch etwas zu spielen.

Der Onkel spielte noch ein Lied und einen Walzer; dann machte er eine kleine Pause, räusperte sich und stimmte ein Jagdlied an, das er besonders gern mochte:


»Ein Spurschnee ist gefallen,

Das freut mein Jägerherz ...«


Der Onkel sang so, wie das Volk singt: mit der naiven, festen Überzeugung, daß der eigentliche Wert eines Liedes in den Worten liegt, daß die Melodie sich ganz von selbst dazufindet, und daß eine Melodie ganz ohne Text überhaupt nicht existiert, sondern die Melodie nur so um des besseren Klanges willen da ist. Ebendeshalb wirkte dieses unbewußte Singen des Onkels überaus angenehm, ähnlich wie das Singen eines Vogels. Natascha war von dem Gesang des Onkels ganz entzückt. Sie nahm sich vor, nicht mehr Harfe zu lernen, sondern nur noch Gitarre zu spielen. Sie bat den Onkel um seine Gitarre und suchte sogleich Begleitakkorde für das Lied.

Gegen zehn Uhr trafen, um Natascha und Petja heimzuholen, ein Jagdwagen, ein Kabriolett und drei Reiter ein. Der als Bote hingeschickte Jäger berichtete, der Graf und die Gräfin hätten gar nicht gewußt, wo sie wohl geblieben sein könnten, und sich sehr beunruhigt.

Petja wurde hinausgetragen und wie ein Toter in das Kabriolett gelegt; Natascha und Nikolai setzten sich in den Jagdwagen.

Der Onkel hüllte Natascha sorgsam ein und nahm von ihr mit einer ganz neuen Art von Zärtlichkeit Abschied. Er gab ihnen zu Fuß das Geleit bis zu einer Brücke, neben der man durch eine[424] Furt fahren mußte, und ordnete an, daß einige Jäger mit Laternen voranritten.

»Lebe wohl, liebe Nichte«, rief ihr eine Stimme aus der Dunkelheit nach, nicht die Stimme, welche Natascha früher gekannt hatte, sondern die, welche gesungen hatte: »Ein Spurschnee ist gefallen.«

In dem Dorf, durch das sie hindurchfuhren, schimmerte rötlicher Lichtschein durch die Fenster, und es roch angenehm nach Rauch.

»Was ist doch Onkelchen für ein prächtiger Mensch!« sagte Natascha, als sie auf die große Landstraße hinauskamen.

»Ja«, antwortete Nikolai. »Ist dir auch nicht kalt?«

»Nein, ich befinde mich ganz ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet. Mir ist sehr wohl«, erwiderte Natascha ganz erstaunt.

Lange Zeit schwiegen sie. Die Nacht war dunkel und feucht. Die Pferde waren nicht zu sehen; man hörte nur, wie sie durch den unsichtbaren Schmutz patschten.

Was mochte in dieser kindlichen, empfänglichen Seele vorgehen, die so begierig nach all den mannigfaltigen Eindrücken des Lebens haschte und sie sich zu eigen machte? Wie mochte sich das alles in ihr zurechtlegen? Aber jedenfalls war sie sehr glücklich. Sie näherten sich schon ihrem Haus, da begann sie auf einmal die Melodie des Liedes: »Ein Spurschnee ist gefallen« zu singen, auf die sie sich während der ganzen Fahrt besonnen hatte, und die wiederzufinden ihr nun endlich geglückt war.

»Hast du es herausbekommen?« sagte Nikolai.

»Aber du, woran hast du jetzt gedacht, Nikolai?« fragte Natascha.

Sie fragten einander gern so nach ihren Gedanken.

»Ich?« antwortete Nikolai, sich besinnend. »Ja, jetzt hab ich's; siehst du, zuerst dachte ich, daß Rugai, der rote Hund, doch eigentlich eine große Ähnlichkeit mit dem Onkel hat, und daß, wenn er[425] ein Mensch wäre, er den Onkel immer bei sich behalten würde, und wenn er es nicht wegen seines guten Reitens tun würde, so doch wegen der schönen Einheitlichkeit und Harmonie seines ganzen Wesens. Denn das kann man doch vom Onkel sagen, nicht wahr? Nun, und du?«

»Ich? Warte mal, warte mal. Ja, ich dachte zuerst: da fahren wir nun und denken, wir werden nach Hause kommen, und dabei fahren wir in Wirklichkeit Gott weiß wohin in dieser Dunkelheit, und auf einmal kommen wir an und sehen, daß wir nicht in Otradnoje sind, sondern in einem Zauberreich. Und dann dachte ich noch ... Nein, weiter nichts.«

»Ich weiß schon; gewiß hast du noch an ihn gedacht«, sagte Nikolai lächelnd, was Natascha an dem Ton seiner Stimme erkannte.

»Nein«, antwortete Natascha, wiewohl sie tatsächlich zugleich auch an den Fürsten Andrei gedacht hatte und daran, wie ihm wohl der Onkel gefallen würde. »Aber dann stellte ich mir noch vor, während der ganzen Fahrt stellte ich mir vor, wie hübsch das aussah, als Anisja ins Zimmer trat, wie hübsch ...« Nikolai hörte, wie sie ohne eigentlichen Grund hell und glückselig lachte. »Aber weißt du«, setzte sie plötzlich hinzu, »ich weiß, daß ich nie wieder so glücklich und ruhig sein werde wie jetzt.«

»Unsinn, Torheit, dummes Zeug!« erwiderte Nikolai; aber er dachte dabei: »Was für ein prächtiges Mädchen ist doch meine Natascha! Eine zweite solche Freundin habe ich nicht und werde ich nie haben. Wozu muß sie sich verheiraten? Wir beide sollten immerzu so miteinander fahren!«

»Ein prächtiger Mensch ist doch dieser Nikolai«, dachte Natascha.

»Ach, sieh nur! Es ist noch Licht im Salon«, sagte sie und zeigte auf die Fenster des Hauses, die freundlich durch das feuchte, samtige Dunkel der Nacht glänzten.

Fußnoten

1 Ein bei dem einfachen russischen Volk beliebtes Tanzlied.

Anmerkung des Übersetzers.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 414-426.
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