XII

[73] Die Bälle bei Herrn Jogel waren die amüsantesten in ganz Moskau. Das sagten die Mütter, wenn sie ihre Backfische beobachteten, die ihre soeben eingelernten Pas gewissenhaft ausführten; das sagten auch die Backfische selbst sowie die halbwüchsigen Jünglinge, die bis zum Umfallen tanzten; das sagten die erwachsenen jungen Mädchen und jungen Herren, die zu diesen Bällen mit herablassender Miene kamen und sich auf ihnen königlich amüsierten. In diesem Jahr waren auf diesen Bällen zwei Ehen zustande gekommen. Die beiden hübschen Prinzessinnen Gortschakow hatten Bewerber gefunden und sich verheiratet, und das hatte den Ruhm dieser Bälle erhöht. Eine besondere Eigentümlichkeit dieser Bälle bestand darin, daß kein Hausherr und keine Hausfrau dabei zugegen war; dafür war der gutmütige Herr Jogel da, der wie eine Feder herumflog und überall nach den Regeln der Kunst seine Kratzfüße machte; von[73] seinen Gästen ließ er sich diese Bälle wie eine Tanzstunde honorieren. Eine weitere Eigentümlichkeit war, daß zu diesen Bällen nur solche Gäste kamen, die tanzen und sich amüsieren wollten, wie das der Wunsch dreizehn- und vierzehnjähriger Mädchen ist, die zum erstenmal lange Kleider tragen. Alle Tänzerinnen, mit seltenen Ausnahmen, waren oder schienen hübsch: so begeistert lächelten sie, und so strahlend leuchteten ihre Augen. Manchmal wurde sogar ein pas de châle von den besten Schülerinnen getanzt, unter denen die allerbeste Natascha war, die sich durch ihre Grazie auszeichnete; aber auf dem heutigen Ball bildeten nur Ekossaisen, Anglaisen und die soeben Mode gewordene Mazurka das Programm. Ein Saal war Herrn Jogel in Besuchows Haus zur Verfügung gestellt worden, und der Ball gestaltete sich nach dem einstimmigen Urteil der Besucher außerordentlich schön. Es waren viele hübsche Mädchen da, und die Rostowschen jungen Damen gehörten zu den hübschesten. Beide waren außerordentlich heiter und glücklich. Sonja, stolz auf den ihr von Dolochow gemachten Antrag, auf den Korb, den sie ihm gegeben hatte, und auf ihre Aussprache mit Nikolai, hatte an diesem Abend schon zu Hause den Kopf gar nicht still halten können, so daß das Stubenmädchen die größte Mühe gehabt hatte, ihr die Zöpfe zu flechten, und jetzt strahlte ihr ganzes Gesicht in kaum zu beherrschender Freude.

Natascha, die nicht minder stolz war, weil sie zum erstenmal ein langes Kleid trug und einen richtigen Ball mitmachte, war noch glückseliger. Beide trugen weiße Mullkleider mit rosa Bändern.

Natascha verliebte sich gleich von dem Augenblick an, wo sie auf den Ball kam. Sie verliebte sich nicht in irgendeinen einzelnen, sondern sie war in alle verliebt. Wen sie gerade ansah, wenn sie um sich blickte, in den verliebte sie sich auch.[74]

Alle Augenblicke kam sie zu Sonja gelaufen und sagte: »Ach, wie schön!«

Nikolai und Denisow gingen im Saal auf und ab und sahen mit gönnerhafter Freundlichkeit dem Tanz zu.

»Wie allerliebst sie ist; sie wird einmal eine wirkliche Schönheit werden«; sagte Denisow.

»Wer?«

»Komtesse Natascha«, antwortete Denisow.

»Und wie sie tanzt! Welche Grazie!« bemerkte er dann wieder nach einer kleinen Pause.

»Aber von wem redest du denn?«

»Von deiner Schwester«, rief Denisow ärgerlich.

Rostow lächelte.

»Mein lieber Graf, Sie sind einer meiner besten Schüler; Sie müssen tanzen«, sagte der kleine Jogel, zu Nikolai herantretend. »Sehen Sie nur, wieviel hübsche Damen da sind.«

Dann wandte er sich mit derselben Bitte an Denisow, der ebenfalls früher sein Schüler gewesen war.

»Nein, liebster Herr Jogel, ich werde als Wanddekoration wirken«, erwiderte Denisow. »Wissen Sie denn nicht mehr, wie schlecht ich Ihren Unterricht benutzt habe?«

»O nicht doch, nicht doch!« beeilte sich Herr Jogel ihn zu trösten. »Sie waren nur unachtsam; aber Sie besaßen schöne Anlagen, jawohl, sehr schöne Anlagen.«

Die Musik begann die neu aufgekommene Mazurka zu spielen. Nikolai konnte Herrn Jogel seine Bitte nicht abschlagen und forderte Sonja auf. Denisow setzte sich zu den alten Damen, stützte sich mit den Armen auf seinen Säbel, trat mit dem Fuß den Takt, erzählte etwas Lustiges, wodurch er die alten Damen zum Lachen brachte, und betrachtete die tanzende Jugend. Herr Jogel und Natascha, die sein Stolz und seine beste Schülerin war,[75] tanzten als erstes Paar. Weich und zart auf seinen mit Schuhen bekleideten Füßchen dahinhüpfend, flog Herr Jogel mit Natascha, die zwar etwas ängstlich war, aber sorgfältig alle Pas ausführte, als erster durch den Saal. Denisow verwandte kein Auge von ihr und klopfte mit dem Säbel den Takt, wobei seine Miene deutlich sagte, wenn er nicht selbst tanze, so sei der Grund nur der, daß er nicht wolle, nicht etwa, daß er nicht könne. Mitten in einer Figur rief er den vorbeigehenden Rostow zu sich heran.

»Aber das ist ja ganz falsch!« sagte er. »Ist denn das die polnische Mazurka? Aber sie tanzt vorzüglich.«

Da Nikolai wußte, daß Denisow sogar in Polen Sensation gemacht hatte durch die Meisterschaft, mit der er die polnische Mazurka tanzte, so ging er schnell zu Natascha hin.

»Geh und fordere Denisow auf. Der kann Mazurka tanzen – wundervoll!« sagte er.

Als Natascha wieder an die Reihe kam, stand sie auf und trippelte in ihren mit Schleifen geschmückten Schuhen schüchtern, eilig und ganz allein quer über den Saal nach der Ecke hin, wo Denisow saß. Sie bemerkte, daß alle nach ihr hinblickten und warteten, was da kommen werde. Nikolai sah, daß Denisow und Natascha lächelnd miteinander stritten, und daß Denisow sich zwar weigerte, aber dabei fröhlich lächelte. Er eilte zu ihnen hin.

»Bitte, kommen Sie doch, Wasili Dmitrijewitsch«, bat Natascha. »Kommen Sie doch, bitte!«

»Ach, dispensieren Sie mich davon, Komtesse!« erwiderte Denisow.

»Na, sträube dich doch nicht so lange, Waska«, sagte Nikolai.

»Gerade wie dem Kater Waska1 wird einem hier zugeredet!« antwortete Denisow scherzend.[76]

»Ich will Ihnen dafür auch einen ganzen Abend lang singen«, sagte Natascha.

»So eine Zauberin! Alles kann sie mit mir aufstellen!« erwiderte Denisow und hakte sich den Säbel ab.

Er trat aus den Stühlen heraus, ergriff seine Dame fest bei der Hand, hob den Kopf in die Höhe, setzte den einen Fuß seitwärts und wartete so auf den Takt. Nur wenn er zu Pferd saß, und wenn er Mazurka tanzte, fiel Denisows Kleinheit nicht auf; er erschien dann als der flotte, schneidige Mann, als den er sich selbst fühlte. Auf den Takt wartend, blickte er von der Seite mit neckischer Siegermiene seine Dame an, stampfte plötzlich mit dem einen Fuß auf, sprang elastisch wie ein Ball vom Boden in die Höhe und flog in einer Kreisbahn durch den Saal, indem er seine Dame mit sich zog. So jagte er unhörbar auf einem Bein um die Hälfte des Saales; er sah anscheinend gar nicht die vor ihm stehenden Stühle und stürmte gerade auf sie los; aber auf einmal machte er, mit den Sporen gegen den Boden stoßend und die Beine spreizend, auf den Hacken halt, stand so eine Sekunde lang, stampfte unter gewaltigem Sporenklirren mit den Beinen auf einem Fleck umher, drehte sich schnell herum und flog, mit dem linken Bein gegen das rechte schlagend, wieder im Kreis dahin. Natascha erriet alles, was er zu tun beabsichtigte, und folgte ihm, ohne selbst zu wissen wie, indem sie sich ihm ganz überließ. Bald wirbelte er sie entweder an der rechten oder an der linken Hand herum; bald ließ er sie, vor ihr niederkniend, um sich einen Kreis beschreiben und sprang dann wieder auf und stürmte mit solchem Ungestüm vorwärts, als ob er vorhätte, ohne Atem zu holen, durch alle Zimmer hindurchzurennen; bald blieb er plötzlich wieder stehen und fing wieder eine neue, unerwartete Tour an. Als er schließlich seine Dame vor ihrem Platz flink herumgeschwenkt, sporenklirrend die Hacken zusammengeschlagen[77] und sich vor ihr verbeugt hatte, da war Natascha so benommen, daß sie nicht einmal einen Knicks vor ihm machte. Mit staunender Verwunderung richtete sie die Augen auf ihn und lächelte, als ob sie ihn gar nicht wiedererkennte.

»Was war das nur?« sagte sie vor sich hin.

Obwohl Herr Jogel diese Mazurka nicht als die richtige anerkennen wollte, waren doch alle von Denisows Meisterschaft entzückt; die Damen forderten ihn fortwährend auf, und die älteren Herren begannen lächelnd über Polen und die gute alte Zeit zu reden. Denisow, der von der Mazurka ganz rot geworden war und sich mit dem Taschentuch das Gesicht wischte, setzte sich zu Natascha und wich während des ganzen übrigen Balles nicht von ihrer Seite.

Fußnoten

1 Waska ist der Kosename und Lockruf für diese Tiere.

Anm. des Übersetzers.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 73-78.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Goldoni, Carlo

Der Diener zweier Herren. (Il servitore di due padroni)

Der Diener zweier Herren. (Il servitore di due padroni)

Die Prosakomödie um das Doppelspiel des Dieners Truffaldino, der »dumm und schlau zugleich« ist, ist Goldonis erfolgreichstes Bühnenwerk und darf als Höhepunkt der Commedia dell’arte gelten.

44 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon