XIII

[78] Rostow bekam an den beiden darauffolgenden Tagen Dolochow weder in seinem Elternhaus zu sehen, noch traf er ihn, als er ihn aufsuchen wollte, zu Hause; am dritten Tag erhielt er von ihm einen kurzen Brief:

»Da ich aus dem Dir bekannten Grund in eurem Haus nicht mehr zu verkehren beabsichtige und zur Armee abgehe, so gebe ich heute abend meinen Freunden einen kleinen Abschiedsschmaus; komm in den Englischen Hof.«

So fuhr denn Rostow an diesem Abend vom Theater aus, wo er mit den Seinigen und Denisow gewesen war, gegen zehn Uhr nach dem genannten Hotel. Er wurde sogleich nach dem großen Zimmer geführt, das Dolochow für diese Nacht gemietet hatte; es war das beste des Hotels. Hier drängten sich etwa zwanzig Menschen um einen Tisch, an welchem zwischen zwei Kerzen Dolochow saß. Auf dem Tisch lagen Goldstücke und Banknoten, und Dolochow hielt die Bank. Da Nikolai ihn seit dem Heiratsantrag[78] und Sonjas abschlägiger Antwort noch nicht wiedergesehen hatte, so geriet er bei dem Gedanken, wie die Wiederbegegnung wohl ausfallen werde, in Verlegenheit.

Dolochows heller, kalter Blick traf den eintretenden Rostow, als dieser noch in der Tür war, wie wenn Dolochow schon lange auf ihn gewartet gehabt hätte.

»Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte er. »Ich danke dir, daß du gekommen bist. Ich halte nur noch ein Weilchen Bank; dann kommt der Zigeuner Ilja mit seinem Chor.«

»Ich hatte dich besuchen wollen, habe dich aber nicht zu Hause getroffen«, erwiderte Rostow errötend.

Dolochow antwortete nicht darauf.

»Du kannst pointieren«, sagte er.

Rostow erinnerte sich in diesem Augenblick eines sonderbaren Gesprächs, das er einmal mit Dolochow gehabt hatte. »Nur Dummköpfe spielen auf gut Glück«, hatte Dolochow damals gesagt.

»Oder fürchtest du dich, mit mir zu spielen?« fragte jetzt Dolochow, als ob er Rostows Gedanken erraten hätte, und lächelte dabei.

An der Art dieses Lächelns erkannte Rostow, daß Dolochow sich in derselben Gemütsstimmung befand wie damals bei dem Diner im Klub und auch sonst manchmal, wenn er, anscheinend gelangweilt durch das alltägliche Leben, für nötig hielt, sich durch irgendeine sonderbare, meistens grausame Tat von dieser Langenweile zu befreien.

Rostow hatte eine unbehagliche Empfindung; er suchte nach einem Scherz, mit dem er auf Dolochows Frage antworten könnte, fand aber nicht sofort etwas Passendes. Aber ehe er noch damit zurechtgekommen war, sagte Dolochow, indem er ihm[79] gerade ins Gesicht blickte, langsam und nachdrücklich zu ihm, so daß es alle hören konnten:

»Erinnerst du dich wohl, ich sprach einmal mit dir über das Spiel. Ein Dummkopf, wer auf gut Glück spielen will; beim Spiel muß man seiner Sache gewiß sein. Ich will es einmal damit versuchen.«

»Womit will er es versuchen?« dachte Rostow. »Mit dem guten Glück oder mit der Gewißheit?«

»Spiel lieber nicht!« fügte Dolochow noch hinzu. Dann schlug er mit einem Spiel Karten, von dem er soeben die Enveloppe abgerissen hatte, auf den Tisch und rief: »Bank, meine Herren!«

Er schob das Geld weiter nach vorn und begann die Karten abzuziehen. Rostow saß neben ihm und spielte anfangs nicht mit. Dolochow blickte ihn an.

»Warum spielst du denn nicht?« fragte er ihn.

Und sonderbar: Nikolai fühlte eine Art von heftigem Drang, eine Karte zu nehmen, eine unbedeutende Summe darauf zu setzen und mitzuspielen.

»Ich habe kein Geld bei mir«, erwiderte er.

»Ich kreditiere dir!«

Rostow setzte fünf Rubel auf eine Karte und verlor; er setzte noch einmal und verlor wieder. Dolochow schlug (d.h. gewann) zehn Karten Rostows hintereinander.

»Meine Herren«, sagte Dolochow, nachdem er eine Zeitlang eine Karte nach der anderen abgezogen hatte, »ich bitte Sie, das Geld auf die Karten zu legen; sonst kann ich mich in der Berechnung irren.«

Einer der Spieler erwiderte, er, der Redende, habe doch hoffentlich soviel Kredit.

»Kredit haben Sie schon; aber ich fürchte, mich zu irren. Ich[80] bitte Sie, das Geld auf die Karten zu legen«, antwortete Dolochow. »Du aber geniere dich gar nicht, wenn du auch nichts bei dir hast«, fügte er, zu Rostow gewendet, hinzu. »Wir beide rechnen nachher miteinander ab.«

Das Spiel nahm seinen Fortgang; ein Diener bot unaufhörlich Champagner an.

Alle Karten Rostows wurden geschlagen, und es waren ihm bereits etwa achthundert Rubel als Schuld angeschrieben. Er hatte gerade auf eine Karte als Einsatzbezeichnung achthundert Rubel geschrieben; aber während ihm Champagner präsentiert wurde, besann er sich eines anderen und schrieb wieder seinen gewöhnlichen Satz, zwanzig Rubel, hin.

»Laß doch stehen«, sagte Dolochow, obwohl er anscheinend gar nicht nach Rostow hingesehen hatte. »Du kannst dann leichter wiedergewinnen. Allerdings: gegen andere verliere ich, und deine Karten schlage ich fortwährend. Vielleicht fürchtest du dich vor mir?« fragte er noch einmal.

Rostow gehorchte, blieb bei der Zahl achthundert und setzte auf eine Cœur-Sieben mit einer abgerissenen Ecke, die er vom Fußboden aufgehoben hatte. An das Aussehen dieser Karte erinnerte er sich in späteren Zeiten ganz genau. Er besetzte diese Cœur-Sieben, indem er mit einem Stücken Kreide die Zahl achthundert mit rundlichen, geradestehenden Ziffern daraufschrieb, trank das ihm gereichte, schon etwas warm gewordene Glas Champagner aus und beantwortete Dolochows Frage mit einem Lächeln; dann blickte er nach Dolochows Händen, in denen dieser ein Päckchen Karten hielt, und wartete mit fast ersterbendem Herzschlag auf eine Sieben. Ob die Sieben gewann oder verlor, daß war für Rostow von der allergrößten Bedeutung. Am Sonntag der vergangenen Woche hatte Graf Ilja Andrejewitsch seinem Sohn zweitausend Rubel gegeben, und er, in dessen Art[81] es sonst nie lag, über pekuniäre Schwierigkeiten zu sprechen, hatte ihm gesagt, dieses Geld sei nun das letzte bis zum Mai, und er müsse ihn daher bitten, diesmal recht ökonomisch damit umzugehen. Nikolai hatte geantwortet, er habe auch daran überreichlich und gebe sein Ehrenwort, vor dem Frühjahr kein Geld mehr zu verlangen. Jetzt hatte er von diesem Geld noch zwölfhundert Rubel zu Hause übrig. Folglich bedeutete ein Fehlschlagen der Cœur-Sieben für ihn nicht nur einen Verlust von sechzehnhundert Rubeln, sondern auch die Notwendigkeit, dem gegebenen Wort untreu zu werden. Mit angsterfülltem Herzen blickte er nach Dolochows Händen und dachte: »Na, laß mich schnell auf diese Karte gewinnen, und ich nehme meine Mütze und fahre nach Hause und esse mit Denisow, Natascha und Sonja Abendbrot und nehme ganz bestimmt nie wieder eine Karte in meine Hände.« In diesem Augenblick trat ihm sein häusliches Leben, die Späßchen mit seinem kleinen Bruder Petja, die Gespräche mit Sonja, die Duette mit Natascha, die Pikettpartien mit seinem Vater und sogar sein ruhiges Bett in dem Haus in der Powarskaja-Straße mit solcher Kraft, Klarheit und verlockenden Schönheit vor die Seele, als ob das alles ein längst vergangenes, verlorenes, unschätzbares Glück wäre. Er konnte es gar nicht für möglich halten, daß ein dummer Zufall, der eine Sieben früher nach rechts als nach links fallen ließe, ihn dieses ganzen Glückes, das ihm soeben neu zum Verständnis gekommen war und ihm nun in so schöner Beleuchtung erschien, berauben und ihn in den Abgrund eines Unglücks, wie er es noch nie erlitten, eines gar nicht zu ermessenden Unglücks hinabschleudern sollte. Das konnte doch nicht sein; aber dennoch verfolgte er beklommen jede Handbewegung Dolochows. Diese breitknochigen, roten Hände, mit der starken Behaarung, die aus den Hemdsärmeln sichtbar wurde, legten jetzt das Kartenpäckchen hin und griffen nach dem[82] Champagnerglas, das ihm präsentiert wurde, und nach der Pfeife.

»Also du fürchtest dich nicht, mit mir zu spielen?« fragte Dolochow noch einmal, und als wenn er eine lustige Geschichte erzählen wollte, legte er sich an die Rücklehne des Stuhles zurück und sagte langsam mit einem Lächeln um die Lippen: »Ja, meine Herren, ich habe gehört, daß in Moskau das Gerücht verbreitet ist, ich wäre ein Falschspieler; daher rate ich Ihnen, mir gegenüber vorsichtig zu sein.«

»Na, zieh doch weiter ab!« sagte Rostow.

»Oh, diese Moskauer Klatschschwestern!« fügte Dolochow noch hinzu und griff dann lächelnd wieder nach den Karten.

»Oh, oh, oh!« stöhnte Rostow, beinah schreiend, und hob beide Hände zu seinen Haaren in die Höhe. Die Sieben, die er so notwendig brauchte, hatte ganz oben gelegen, als erste Karte in dem Päckchen. Er hatte mehr verloren, als er bezahlen konnte.

»Aber reiß dir nur nicht die Haare aus!« sagte Dolochow mit einem flüchtigen Blick zu Rostow hin und fuhr fort, die Karten abzuziehen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 78-83.
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