VI

[41] Pierre war in der letzten Zeit nur selten mit seiner Frau unter vier Augen zusammengewesen. Sowohl in Petersburg als auch in Moskau hatten sie ihr Haus beständig voller Gäste gehabt. In der Nacht nach dem Tag des Duells ging er, wie er das häufig tat, nicht in das Schlafzimmer, sondern blieb in seinem, einst von seinem Vater benutzten, gewaltig großen Arbeitszimmer, demselben Zimmer, in welchem Graf Besuchow gestorben war.

Er legte sich auf das Sofa und wollte einschlafen, um alles Erlebte zu vergessen; aber er konnte keinen Schlaf finden. Es erhob sich auf einmal ein solcher Sturm von Gefühlen, Gedanken und Erinnerungen in seiner Seele, daß er nicht einschlafen, ja nicht einmal stilliegen konnte und vom Sofa aufspringen und mit schnellen Schritten im Zimmer hin und her gehen mußte. Da glaubte er sie vor sich zu sehen, wie er sie in der ersten Zeit nach[41] der Hochzeit gekannt hatte, mit nackten Schultern und müdem, sinnlichem Blick, und sofort trat neben ihr vor sein geistiges Auge das schöne, freche, energische, spöttische Gesicht Dolochows, wie es bei dem Diner gewesen war, und dann das Gesicht desselben Dolochow, blaß, zitternd und schmerzverzerrt, so wie es ausgesehen hatte, als er sich umdrehte und in den Schnee niedersank.

»Was ist denn eigentlich geschehen?« fragte er sich selbst. »Ich habe den Geliebten, ja, den Geliebten meiner Frau niedergeschossen. Ja, das ist geschehen. Aber wie ist das zugegangen? Wie bin ich so weit gekommen?«

»Das kommt daher, daß du sie geheiratet hast«, antwortete eine Stimme in seinem Innern.

»Aber inwiefern trifft mich dabei eine Schuld?« fragte er. – »Weil du sie geheiratet hast, ohne sie zu lieben, und weil du dich und sie betrogen hast.« Und nun vergegenwärtigte er sich lebhaft jenen Augenblick nach dem Souper beim Fürsten Wasili, als er die Worte gesprochen hatte, die zuerst gar nicht aus seinem Mund hatten herauskommen wollen: »Ich liebe Sie.« Davon war alles hergekommen. »Ich fühlte schon damals«, dachte er, »ich fühlte schon damals, daß das falsch war, und daß ich kein Recht hatte, so zu sprechen. Und das hat der Ausgang bestätigt.«

Er erinnerte sich an seine Flitterwochen und errötete bei dieser Erinnerung. Besonders lebendig und für ihn schmerzlich und beschämend war die Erinnerung daran, wie er einmal bald nach seiner Hochzeit gegen elf Uhr vormittags im seidenen Schlafrock aus dem Schlafzimmer in sein Arbeitszimmer gekommen war und dort den Oberadministrator vorgefunden hatte, der sich ehrerbietig verbeugt und nach einem Blick auf Pierres Gesicht und auf seinen Schlafrock leise gelächelt hatte, als ob er durch dieses Lächeln seine respektvolle Teilnahme für das Glück seines Chefs zum Ausdruck bringen wollte.[42]

»Und wie oft bin ich auf sie stolz gewesen, bin stolz gewesen auf ihre majestätische Schönheit und auf ihr gesellschaftliches Taktgefühl«, dachte er. »Ich bin stolz darauf gewesen, daß sie ganz Petersburg in meinem Haus empfing, bin stolz gewesen auf ihre Unnahbarkeit und auf ihre Schönheit. Und nun, da sehe ich nun, worauf ich stolz gewesen bin! Ich dachte damals, ich verstände sie nicht. Wie oft, wenn ich mich in ihr Wesen hineinzuversetzen suchte, sagte ich mir, es liege an mir, wenn ich sie und diese stete Ruhe, dieses Befriedigtsein, dieses Fehlen aller besonderen Neigungen und Wünsche nicht verstände; und nun findet das ganze Rätsel seine Lösung durch das furchtbare Wort, daß sie ein sittenloses Weib ist. Jetzt, nachdem ich mir dieses furchtbare Wort gesagt habe, ist alles klargeworden.

Ich besinne mich, wie Anatol einmal zu ihr kam, um Geld von ihr zu borgen, und sie auf die nackten Schultern küßte. Sie gab ihm kein Geld; aber küssen ließ sie sich. Ein andermal versuchte ihr Vater im Scherz, sie eifersüchtig zu machen; aber sie antwortete mit ruhigem Lächeln, sie sei nicht so dumm, eifersüchtig zu sein; ›mag er tun, was er will‹, sagte sie in bezug auf mich. Eines Tages fragte ich sie, ob sie keine Anzeichen von Schwangerschaft fühlte. Sie lachte geringschätzig und erwiderte, sie sei nicht so töricht, sich Kinder zu wünschen, und von mir würde sie nie welche haben.«

Dann erinnerte er sich an die unverhüllte Roheit ihrer Denkungsart und an die Gemeinheit der Ausdrucksweise, die ihr trotz ihrer Erziehung in einer hocharistokratischen Umgebung eigen war. »So ein Schaf bin ich nicht«, »kannst dir ja selbst das Maul dran verbrennen«, »mach, daß du rauskommst!« Das waren ihr geläufige Wendungen. Oft, wenn er sah, welches Wohlgefallen sie bei alten und jungen Männern und Frauen erregte, hatte Pierre gar nicht begreifen können, warum er sie denn[43] nicht liebte. »Ich habe sie nie geliebt«, sagte er sich jetzt. »Ich habe es gewußt, daß sie ein sittenloses Weib ist«, wiederholte er mehrmals im tiefsten Innern, »aber ich wagte nicht, es mir wirklich einzugestehen.«

»Und jetzt dieser Dolochow! Da sitzt er nun im Schnee und zwingt sich zu lächeln und wird vielleicht sterben, indem er meiner Reue gegenüber eine Art von Mannhaftigkeit erheuchelt!«

Pierre war einer von den Menschen, die, trotz ihrer Charakterschwäche in vielem Äußerlichen, sich keinen Vertrauten für ihren Gram suchen. Er verarbeitete das, was ihn bedrückte, allein für sich.

»Sie ist schuldig, ja, sie ist schuldig«, sagte er zu sich. »Aber was hat diese Feststellung für einen Wert? Bin ich frei von Schuld? Warum habe ich mich mit ihr verbunden? Warum habe ich dieses ›Ich liebe Sie‹ zu ihr gesagt, das eine Lüge war, ja, noch etwas Schlimmeres als eine Lüge? Ich bin schuldig und muß die Folgen tragen ... Was muß ich denn tragen? Die Schande meines Namens, das Unglück meines Lebens? Ach, das ist alles nur dummes Zeug«, dachte er. »Schande des Namens und Ehre, das sind nur bedingte Begriffe; das hat mit meinem wahren Sein nichts zu tun.«

»Ludwig der Sechzehnte«, fiel ihm ein, »ist hingerichtet worden, weil seine Richter sagten, er sei ein Ehrloser und Verbrecher, und von ihrem Gesichtspunkt aus hatten sie recht, ebenso wie diejenigen recht hatten, die für ihn den Märtyrertod starben und ihn zu den Heiligen zählten. Nachher hat man Robespierre hingerichtet, weil er angeblich ein Despot war. Wer hatte recht? Wer war schuldig? Niemand. Aber solange man am Leben ist, soll man leben; denn morgen ist man vielleicht schon tot, wie ja auch ich vor wenigen Stunden leicht hätte getötet werden[44] können. Und ist es der Mühe wert, sich über ein unglückliches Leben zu grämen, wenn die Lebenszeit, die einem noch übrig ist, im Vergleich mit der Ewigkeit nicht mehr als eine Sekunde beträgt?«

Aber gerade als er meinte, sich durch Erwägungen dieser Art beruhigt zu haben, trat ihm auf einmal wieder ihr Bild vor die Seele, und zwar wie sie in den Augenblicken gewesen war, als er ihr in der allerstärksten Weise seine (unwahre!) Liebe zum Ausdruck gebracht hatte, und er fühlte, wie ihm das Blut zum Herzen stürzte, und mußte wieder aufstehen und sich Bewegung machen und alle Gegenstände, die ihm in die Hände kamen, zerbrechen und zerreißen. »Warum habe ich zu ihr gesagt: ›Ich liebe Sie‹?« wiederholte er immer wieder in seinem Selbstgespräch. Und nachdem er diese Frage wohl zehnmal wiederholt hatte, fiel ihm eine Stelle aus Molière ein: mais que diable allait-il faire dans cette galère?, und er mußte über sich selbst lachen.

Noch in der Nacht rief er seinen Kammerdiener und befahl ihm zu packen, da er nach Petersburg fahren wolle. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er in Zukunft mit ihr reden sollte. Er beschloß, morgen wegzureisen und ihr einen Brief zu hinterlassen, in dem er ihr seine Absicht, sich für immer von ihr zu trennen, mitteilen wollte.

Als am Morgen der Kammerdiener ins Zimmer trat, um den Kaffee zu bringen, lag Pierre, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand, auf dem Sofa und schlief.

Er schrak auf und blickte lange verstört um sich, da er sich nicht darüber klarwerden konnte, wo er sich befinde.

»Die Frau Gräfin hat fragen lassen, ob Euer Erlaucht zu Hause sind«, berichtete der Kammerdiener.

Aber noch ehe sich Pierre über die zu erteilende Antwort schlüssig geworden war, trat die Gräfin selbst in einem weißen,[45] silbergestickten Atlas-Morgenrock, das Haar noch unfrisiert (zwei starke Flechten waren diademartig zweimal um ihren reizenden Kopf geschlungen), ruhig und majestätisch ins Zimmer; nur über ihre marmorartige, etwas gewölbte Stirn zog sich eine zornige Falte. Mit ihrer durch nichts zu erschütternden Ruhe unterließ sie es, zu reden, solange der Kammerdiener im Zimmer war. Sie wußte von dem Duell und war gekommen, um mit Pierre darüber zu sprechen. Sie wartete, bis der Kammerdiener den Kaffee hingestellt haben und hinausgegangen sein würde. Pierre blickte schüchtern durch seine Brille zu ihr hin, und wie ein von den Hunden umringter Hase mit angedrückten Ohren angesichts seiner Feinde in seinem Lager liegen bleibt, so versuchte auch er, seine Lektüre fortzusetzen; aber er merkte sofort, daß dies sinnlos und unmöglich sei, und sah sie wieder schüchtern an. Sie setzte sich nicht hin, betrachtete ihn mit geringschätzigem Lächeln und wartete, bis der Kammerdiener hinausgegangen war.

»Was ist nun das wieder? Was haben Sie da getan, frage ich Sie?« begann sie dann in scharfem Ton.

»Ich? Was soll ich getan haben?« erwiderte Pierre.

»Sie sind ja auf einmal ein Held geworden! Nun, antworten Sie, was hatte es mit dem Duell für eine Bewandtnis? Was sollte das heißen? Nun? Ich möchte eine Antwort haben.«

Pierre drehte sich schwerfällig auf dem Sofa herum; er öffnete den Mund, war aber nicht imstande zu antworten.

»Wenn Sie nicht antworten, so will ich es Ihnen sagen«, fuhr Helene fort. »Sie glauben alles, was Ihnen gesagt wird; und da ist Ihnen nun gesagt worden« (Helene lachte), »Dolochow wäre mein Geliebter.« Mit der ihr eigenen abstoßenden Ungeniertheit sprach sie das Wort »Geliebter« geradeso deutlich und selbstverständlich aus wie jedes andere Wort. »Und Sie haben es geglaubt! Nun, was haben Sie jetzt damit bewiesen? Was haben[46] Sie mit diesem Duell bewiesen? Daß Sie ein Narr sind; aber das wußten alle schon sowieso. Und was wird nun die Folge davon sein? Die Folge wird sein, daß ich für ganz Moskau zum Gegenstand des Gespöttes werde; und jeder wird sagen, daß Sie in trunkenem Zustand, wo Sie von sich selbst nichts wußten, einen Mann zum Duell gefordert haben, auf den Sie ohne Grund eifersüchtig sind« (Helene begann immer lauter zu sprechen und wurde immer lebhafter), »und der in jeder Beziehung weit über Ihnen steht ...«

»Hm ... hm ...«, brummte Pierre mit finsterem Gesicht; aber er sah sie nicht an und rührte kein Glied.

»Und welchen Anlaß hatten Sie, zu glauben, daß er mein Geliebter sei? Nun? Weil ich gern mit ihm zusammen bin? Wenn Sie klüger und liebenswürdiger wären, würde ich Ihre Gesellschaft vorziehen.«

»Reden Sie nicht weiter zu mir ... Ich bitte Sie darum ...«, flüsterte Pierre mit heiserer Stimme.

»Warum sollte ich nicht reden? Ich habe ein Recht zu reden und sage dreist: es wird selten eine Frau zu finden sein, die bei einem solchen Mann, wie Sie, sich keine Liebhaber anschafft; und ich habe es nicht getan«, sagte sie.

Pierre wollte etwas erwidern, sah sie mit einem seltsamen Blick an, dessen Bedeutung sie nicht verstand, und legte sich wieder hin. Er litt in diesem Augenblick körperlich: er fühlte eine Beklemmung in der Brust und konnte nicht Atem holen. Er wußte, daß er irgend etwas tun mußte, um diese Schmerzempfindung abzukürzen; aber das, was zu tun ihn die Lust ankam, war gar zu furchtbar.

»Das beste wäre, wenn wir uns voneinander trennten«, stieß er in einzelnen Absätzen heraus.

»Meinetwegen; nur müssen Sie mir dann die nötigen Existenzmittel[47] geben«, erwiderte Helene. »Eine Trennung! Bilden Sie sich nicht ein, daß mich das schreckt!«

Pierre sprang vom Sofa auf und stürzte taumelnd auf sie los.

»Ich schlage dich tot!« schrie er, packte mit einer Kraft, die er selbst noch nicht an sich kannte, die marmorne Tischplatte, tat einen Schritt in der Richtung auf seine Frau zu und holte gegen sie aus.

Helenes Gesicht verzerrte sich in furchtbarer Weise: sie kreischte auf und sprang von ihm zurück. Die Natur seines Vaters kam bei ihm zum Durchbruch. Pierre fühlte, wie ihn die Raserei packte, und fühlte den Reiz und die Lust dieser Raserei. Er schleuderte die Tischplatte auf den Boden, so daß sie zerbrach, trat mit auseinander gehaltenen Armen auf seine Frau zu und schrie: »Hinaus!« mit so furchtbarer Stimme, daß alle im Haus diesen Schrei hörten und darüber erschraken. Gott weiß, was Pierre in diesem Augenblick noch weiter getan hätte, wenn Helene nicht aus dem Zimmer gelaufen wäre.


Eine Woche darauf stellte Pierre seiner Frau eine Vollmacht auf den Nießbrauch seiner sämtlichen in Großrußland gelegenen Güter aus, die die größere Hälfte seines Vermögens bildeten, und reiste allein nach Petersburg.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 41-48.
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