X

[223] Als Petja zu dem Wächterhäuschen zurückkam, fand er Denisow im Flur. Denisow, sehr aufgeregt, unruhig und ärgerlich über sich selbst, daß er Petja fortgelassen hatte, wartete auf ihn.[223]

»Gott sei Dank!« rief er. »Na, Gott sei Dank!« wiederholte er, während er Petjas enthusiastischen Bericht anhörte. »Hol dich der Teufel; ich habe um deinetwillen nicht schlafen können«, fuhr er fort. »Na, Gott sei Dank; nun leg dich nur zur Ruhe. Wir wollen bis zum Morgen noch ein bißchen schlafen.«

»Ja ... nein«, antwortete Petja. »Ich bin noch gar nicht schläfrig. Und dann kenne ich auch mich selbst: wenn ich erst einmal einschlafe, dann bin ich nicht so leicht wieder wach zu bekommen. Und dann bin ich auch gewohnt, vor einem Kampf nicht zu schlafen.«

Petja saß noch eine Weile in der Stube, erinnerte sich mit großer Freude an die Einzelheiten seines Rittes und malte sich lebhaft aus, was der morgige Tag bringen werde. Als er dann bemerkte, daß Denisow eingeschlafen war, stand er auf und ging hinaus.

Draußen war es noch ganz dunkel. Der Regen hatte aufgehört, aber es fielen noch Tropfen von den Bäumen. In der Nähe des Wächterhäuschens waren die schwarzen Formen der von den Kosaken errichteten Hütten und der zusammengebundenen Pferde zu erkennen. Hinter dem Häuschen hoben sich schwarz die beiden Fuhrwerke ab, bei denen ebenfalls Pferde standen, und in der Schlucht glühte rot das heruntergebrannte Feuer. Die Kosaken und Husaren schliefen nicht alle: hier und da hörte man zwischen dem Klang der fallenden Regentropfen und dem nahen Geräusch des Kauens der Pferde leise, beinahe flüsternde Stimmen.

Petja trat aus dem Flur hinaus, spähte in der Dunkelheit umher und trat zu den Fuhrwerken hin. Unter den Fuhrwerken schnarchte jemand, und um sie herum standen, ihren Hafer kauend, gesattelte Pferde. In der Dunkelheit erkannte Petja sein[224] eigenes Pferd, das er Karabach1 nannte, obwohl es ein kleinrussisches Pferd war, und trat zu ihm hin.

»Nun, Karabach, morgen wollen wir Ehre einlegen«, sagte er, roch an den Nüstern des Tieres und küßte es.

»Sie schlafen nicht, gnädiger Herr?« sagte ein Kosak, der unter dem einen Fuhrwerk saß.

»Nein. Ah ... du heißt ja wohl Lichatschow? Ich bin eben erst zurückgekommen. Wir waren zu den Franzosen geritten.«

Und nun erzählte Petja dem Kosaken ausführlich nicht nur von seinem Ritt, sondern auch warum er mitgeritten sei und warum er der Ansicht sei, daß man besser daran tue, sein Leben aufs Spiel zu setzen, als so aufs Geratewohl etwas zu unternehmen.

»Na, nun sollten Sie sich aber schlafen legen«, meinte der Kosak.

»Nein, ich bin es so gewohnt«, antwortete Petja. »Sind denn vielleicht die Feuersteine an euren Pistolen abgenutzt? Ich habe welche mitgebracht. Brauchst du welche? Du kannst von mir bekommen.«

Der Kosak schob sich ein wenig unter dem Fuhrwerk hervor, um Petja mehr aus der Nähe anzusehen.

»Das kommt daher, weil ich gewohnt bin, in allen Dingen sorgsam zu verfahren«, sagte Petja. »Manche Leute handeln unbedacht, blind drauflos, ohne Vorbereitung, und dann nachher bereuen sie es. Das liegt nicht in meinem Wesen.«

»Das ist recht«, sagte der Kosak.

»Ja, da fällt mir noch etwas ein: bitte, lieber Mann, schleife mir doch meinen Säbel; er ist nicht mehr recht ...« (Aber Petja scheute sich zu lügen: der Säbel war noch nie geschliffen worden.) »Kannst du das machen?«[225]

»Warum nicht? Das kann ich schon.«

Lichatschow stand auf, kramte in einem Bündel herum, und bald darauf hörte Petja den kriegerischen Klang von Stahl und Wetzstein. Er stieg auf das Fuhrwerk hinauf und setzte sich auf den Rand desselben. Der Kosak unter dem Fuhrwerk schliff den Säbel.

»Sage mal, schlafen die Leute?« fragte Petja.

»Manche schlafen, manche aber auch nicht.«

»Nun, und wie ist es mit dem Jungen?«

»Wessenni? Der liegt da auf dem Flur. Die Angst macht müde. Er war froh, sich hinlegen zu können.«

Darauf schwieg Petja längere Zeit und horchte auf die Geräusche, die vernehmbar waren. In der Dunkelheit ertönten Schritte, und es zeigte sich eine schwarze Gestalt.

»Was schleifst du denn da?« fragte ein Mann, der zu dem Fuhrwerk herankam.

»Ich schleife dem Herrn da seinen Säbel.«

»Das ist vernünftig«, sagte der Mann, welchen Petja für einen Husaren hielt. »Habt ihr hier einen Becher?«

»Ja, da bei dem Rad.«

Der Husar nahm den Becher.

»Es wird wohl bald hell werden«, sagte er gähnend und ging irgendwohin.

Petja hätte wissen müssen, daß er sich im Wald, bei Denisows Freischar, eine Werst von der Landstraße entfernt befand, daß er auf einem den Franzosen abgenommenen Fuhrwerk saß, um welches herum Pferde angebunden waren, daß unter ihm der Kosak Lichatschow saß und ihm den Säbel schliff, daß der große schwarze Fleck rechts ein Wächterhäuschen war und der rote, helle Fleck unten links ein niedergebranntes Wachfeuer, daß der Mensch, der herbeikam und sich einen Becher holte, ein Husar[226] war, der trinken wollte; aber er wußte das alles nicht und wollte es nicht wissen. Er war in einem Zauberreich, in dem nichts der Wirklichkeit ähnlich war. Der große schwarze Fleck war vielleicht wirklich ein Wächterhäuschen; vielleicht aber war es auch eine Höhle, die tief in das Innere der Erde hineinführte. Der rote Fleck war vielleicht ein Feuer, vielleicht aber auch das Auge eines riesigen Ungeheuers. Vielleicht saß er jetzt wirklich auf einem Fuhrwerk; gut möglich aber auch, daß er nicht auf einem Fuhrwerk saß, sondern auf einem furchtbar hohen Turm, so hoch, daß, wenn man herunterfiel, man bis zur Erde einen ganzen Tag, einen ganzen Monat flog, immerzu flog und flog und niemals nach unten kam. Vielleicht saß unter dem Fuhrwerk einfach der Kosak Lichatschow; gut möglich aber auch, daß dies der bravste, tapferste, wunderbarste, vortrefflichste Mensch auf der Welt war, dessen Namen niemand kannte. Vielleicht war da wirklich ein Husar vorbeigekommen und in das Tal hinabgegangen, um sich Wasser zu holen; vielleicht aber auch war er, der soeben aus den Augen verschwunden war, vollständig verschwunden und existierte nicht mehr.

Was Petja jetzt auch hätte sehen mögen, er hätte sich über nichts gewundert. Er war in einem Zauberreich, in dem alles möglich war.

Er blickte zum Himmel auf. Der Himmel war ebenso zauberhaft wie die Erde. Über den Wipfeln der Bäume zogen Wolken schnell dahin, wie wenn sie die Sterne sichtbar machen wollten. Manchmal schien es, als ob es da oben klar würde und sich der schwarze, reine Himmel zeigte; dann wieder schien es, als ob diese schwarzen Flecke dunkle Wolken wären. Manchmal schien es, als ob der Himmel sich über Petjas Kopf hoch, hoch hinaufhöbe, und dann wieder, als ob er sich ganz und gar herabsenkte, so daß man ihn mit der Hand greifen könnte.[227]

Petja schloß die Augen und wiegte sich hin und her.

Regentropfen fielen klatschend. Es wurde leise gesprochen. Die Pferde fingen an zu wiehern und einander zu schlagen. Es schnarchte jemand.

»Schsch, schsch, schsch, schsch ...«, zischte der Säbel beim Schleifen, und auf einmal hörte Petja eine harmonische Orchestermusik, die eine ihm unbekannte, feierlich süße Hymne spielte. Petja war musikalisch, ebenso wie Natascha und mehr als Nikolai; aber er hatte nie Musikunterricht gehabt und nie an Musik gedacht; daher hatten die Weisen, die ihm so unerwartet in den Sinn kamen, schon als etwas ganz Neues für ihn einen besonderen Reiz. Die Musik spielte immer lauter und lauter. Die Melodie schwoll an und ging von einem Instrument auf das andere über. Es entstand das, was man eine Fuge nennt, wiewohl Petja nicht den geringsten Begriff davon hatte, was eine Fuge ist. Jedes Instrument, bald eines, das wie eine Geige, bald eines, das wie eine Trompete klang (aber schöner und reiner als wirkliche Geigen und wirkliche Trompeten), jedes Instrument spielte seinen Part und floß, ehe es noch die Melodie zu Ende gebracht hatte, mit einem andern zusammen, das beinahe das gleiche spielte, und mit einem dritten und einem vierten, und alle flossen sie in eins zusammen und trennten sich wieder und flossen von neuem zusammen, bald zu einer feierlichen Kirchenmusik, bald zu einem großartig schmetternden Siegeslied.

»Ach ja, ich träume das nur«, sagte sich Petja, und der Kopf fiel ihm vornüber. »Das ist alles nur in meinen Ohren. Aber vielleicht ist es eine von mir selbst komponierte Musik. Nun, noch einmal! Vorwärts, meine Musik! Nur zu ...!«

Er schloß die Augen. Und von verschiedenen Seiten, anscheinend aus weiter Ferne, erklangen zitternd die Töne, taten sich[228] zusammen, trennten sich, flossen ineinander, und wieder vereinigte sich alles zu demselben süßen, feierlichen Hymnus. »Ach, wie entzückend das ist! Es tönt, soviel ich will und wie ich will«, sagte Petja zu sich selbst. Er versuchte, dieses gewaltige Orchester von Instrumenten zu leiten.

»Jetzt leiser, leiser, wie ersterbend!« Und die Töne gehorchten ihm. »Jetzt voller, heiterer! Noch, noch freudiger!« Und aus einer unbekannten Tiefe stiegen anschwellende, feierliche Klänge herauf. »Jetzt soll die Vokalmusik einfallen«, befahl Petja. Und aus der Ferne ließen sich zuerst Männerstimmen, dann Frauenstimmen vernehmen. Die Stimmen schwollen in gleichmäßiger, feierlicher Kraftsteigerung an. Mit Beklommenheit und Freude zugleich horchte Petja auf ihren außerordentlichen Wohllaut.

Der Gesang floß mit einem triumphierenden Siegesmarsch zusammen, und die Tropfen fielen klingend hernieder, und »schsch, schsch, schsch ...« zischte der Säbel, und die Pferde schlugen einander und wieherten; aber dies alles störte die Musik nicht, sondern fügte sich in sie ein.

Petja wußte nicht, wie lange dies dauerte: er war entzückt und wunderte sich fortwährend über sein Entzücken und bedauerte, daß er niemand daran teilnehmen lassen konnte. Die freundliche Stimme Lichatschows weckte ihn.

»Der Säbel ist fertig, Euer Wohlgeboren; nun können Sie einen Franzosen damit der Länge nach durchspalten.«

Petja kam zur Besinnung.

»Es wird schon hell; wahrhaftig, es wird hell!« rief er.

Die vorher unsichtbaren Pferde waren bis zu den Schwänzen sichtbar geworden, und durch die kahlen Zweige erschien eine wäßrige Helligkeit. Petja schüttelte sich, sprang auf, zog einen Rubel aus der Tasche und gab ihn Lichatschow; dann probierte er mit einem Schwung den Säbel und steckte ihn in die Scheide.[229]

»Da ist auch der Kommandeur«, sagte Lichatschow.

Denisow war aus dem Wächterhäuschen herausgetreten, rief Petja an und hieß ihn sich fertigmachen.

Fußnoten

1 Eine kaukasische Pferderasse.

Anmerkung des Übersetzers.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 223-230.
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