XI

[239] Eine Stunde darauf kam Dunjascha zu der Prinzessin mit der Nachricht, Dron sei gekommen, und alle Bauern hätten sich, wie die Prinzessin befohlen habe, beim Speicher versammelt und wünschten mit der Herrin zu reden.

»Aber ich habe sie ja gar nicht herbestellt«, erwiderte Prinzessin Marja. »Ich habe nur zu Dron gesagt, er möchte Getreide an sie verteilen.«

»Befehlen Sie nur um Gottes willen, die Leute fortzujagen, liebste, beste Prinzessin, und gehen Sie nicht zu ihnen hin. Es ist alles nur Hinterlist«, sagte Dunjascha. »Sobald Jakow Alpatytsch zurückkommt, können wir abfahren ... Aber lassen Sie sich nicht mit diesen Leuten ein ...«

»Wieso denn Hinterlist?« fragte die Prinzessin erstaunt.

»Ja, das weiß ich; hören Sie nur auf mich, ich bitte Sie herzlich. Hier, Sie können ja auch die Kinderfrau fragen. Es heißt, die Bauern wollen nicht von hier wegziehen, wie Sie es befohlen haben.«

»Was du da redest, stimmt nicht. Ich habe gar nicht befohlen, daß sie wegziehen sollen ...«, erwiderte Prinzessin Marja. »Ruf mir doch einmal Dron her.«

Dron kam und bestätigte Dunjaschas Worte: die Bauern seien gekommen, wie die Prinzessin befohlen habe.

»Aber ich habe sie doch gar nicht herbestellt«, sagte die Prinzessin. »Du hast gewiß meinen Auftrag nicht richtig an sie ausgerichtet. Ich habe nur gesagt, du solltest ihnen Getreide geben.«

Dron gab keine Antwort, sondern seufzte nur.

»Wenn Sie befehlen, werden die Bauern wieder fortgehen«, sagte er endlich.[240]

»Nein, nein, ich werde zu ihnen hingehen«, erwiderte Prinzessin Marja.

Obwohl Dunjascha und die Kinderfrau ihr sehr davon abrieten, ging Prinzessin Marja vor die Haustür hinaus. Dron, Dunjascha, die Kinderfrau und Michail Iwanowitsch folgten ihr.

»Die Bauern denken wahrscheinlich, daß ich sie durch das Angebot von Getreide zum Hierbleiben veranlassen will, selbst aber fortfahre und sie der Willkür der Franzosen preisgebe«, dachte Prinzessin Marja. »Ich will ihnen Wohnungen auf dem Gut bei Moskau und monatliche Unterstützungen versprechen; ich bin überzeugt, daß Andrei an meiner Stelle noch mehr für sie tun würde«, dachte sie, während sie in der Dämmerung zu der Menge hinging, die auf dem Anger beim Speicher stand.

Die Menge geriet in Bewegung und drängte sich zusammen; die Mützen wurden schnell abgenommen. Mit niedergeschlagenen Augen und sich mit den Füßen in ihr Kleid verwickelnd, trat Prinzessin Marja nahe an sie heran. Es waren so viele verschiedenartige alte und junge Augen auf sie gerichtet, und es waren so viele verschiedene Gesichter da, daß Prinzessin Marja kein einziges Gesicht klar sah; sie fühlte die Notwendigkeit, zu allen zugleich zu sprechen, wußte aber nicht, wie sie das anstellen sollte. Aber das Bewußtsein, daß sie die Vertreterin ihres Vaters und ihres Bruders sei, verlieh ihr auch jetzt wieder Kraft, und kühn begann sie ihre Rede.

»Ich freue mich sehr, daß ihr gekommen seid«, sagte Prinzessin Marja, ohne die Augen aufzuschlagen, und fühlte dabei, wie schnell und stark ihr das Herz schlug. »Dron hat mir gesagt, der Krieg habe euch zugrunde gerichtet. Das ist unser gemeinsames Leid, und es wird mir kein Opfer zu groß sein, um euch zu helfen. Ich selbst werde wegfahren, weil es hier gefährlich ist ... und der Feind nahe ist ... und weil ... Ich gebe euch alles, meine[241] Freunde, und bitte euch, alles zu nehmen, unser ganzes Getreide, damit ihr keinen Mangel leidet. Und wenn euch gesagt sein sollte, daß ich euch das Getreide gebe, um euch zum Hierbleiben zu bewegen, so ist das unrichtig. Im Gegenteil bitte ich euch, mit euer ganzen Habe nach unserem Gut bei Moskau zu ziehen, und ich nehme es auf mich und verspreche euch, daß ihr dort keine Not leiden sollt. Es wird euch Unterkommen und Getreide gegeben werden.«

Die Prinzessin hielt inne; aus der Menge waren nur Seufzer zu hören.

»Ich tue das nicht von mir aus«, fuhr die Prinzessin fort, »ich tue es im Namen meines seligen Vaters, der euch ein guter Herr gewesen ist, sowie an Stelle meines Bruders und seines Sohnes.«

Sie hielt wieder inne. Niemand unterbrach das Schweigen.

»Das Leid ist uns allen gemeinsam, und wir wollen alles, was wir haben, miteinander teilen. Alles, was mein ist, gehört euch«, sagte sie und ließ ihren Blick über die Gesichter der vor ihr Stehenden hinschweifen.

Alle blickten sie mit dem gleichen Ausdruck an, dessen Bedeutung ihr unverständlich blieb. War es nun Neugier oder Ergebenheit und Dankbarkeit, oder Angst und Mißtrauen, aber der Ausdruck auf allen Gesichtern war ein und derselbe.

»Wir danken bestens für Ihre Güte; aber das herrschaftliche Getreide nehmen, das dürfen wir nicht«, sagte eine Stimme aus dem Hintergrund.

»Aber warum denn nicht?« fragte die Prinzessin.

Niemand antwortete, und als Prinzessin Marja die Menge anschaute, bemerkte sie, daß jetzt alle Augen, denen sie begegnete, sich sofort zu Boden richteten.

»Aber warum wollt ihr denn das nicht?« fragte sie noch einmal.

Es erfolgte wieder keine Antwort.[242]

Der Prinzessin wurde dieses Schweigen peinlich; sie versuchte den Blick irgendeines der Bauern aufzufangen.

»Warum redet ihr nicht?« wandte sie sich an einen alten Mann, der auf seinen Stock gestützt vor ihr stand. »Sprich doch, wenn du glaubst, daß ihr sonst noch etwas nötig habt. Ich werde alles tun«, sagte sie.

Sie hatte seinen Blick aufgefangen; er aber, wie wenn er darüber ärgerlich wäre, ließ nun den Kopf ganz sinken und murmelte:

»Damit sind wir nicht einverstanden. Getreide brauchen wir nicht.«

»Sollen wir denn alles im Stich lassen? Damit sind wir nicht einverstanden; damit sind wir nicht einverstanden ... Dazu geben wir unsere Zustimmung nicht. Wir bedauern dich, aber dazu geben wir unsere Zustimmung nicht. Fahr du nur selbst weg, allein ...«, wurde von verschiedenen Seiten aus der Menge gerufen.

Und wieder zeigte sich auf allen Gesichtern dieser Menge ein und derselbe Ausdruck, und jetzt war es bereits sichtlich nicht der Ausdruck der Neugier oder der Dankbarkeit, sondern der Ausdruck ingrimmiger Entschlossenheit.

»Ihr habt mich gewiß nicht verstanden«, sagte Prinzessin Marja mit einem trüben Lächeln. »Warum wollt ihr nicht wegziehen? Ich verspreche, euch Wohnung und Lebensunterhalt zu geben. Hier dagegen wird euch der Feind zugrunde richten ...«

Aber ihre Stimme wurde durch die Stimmen der Menge übertönt.

»Damit sind wir nicht einverstanden! Mögen sie uns zugrunde richten! Dein Getreide nehmen wir nicht; wir geben unsere Zustimmung nicht!«

Prinzessin Marja bemühte sich von neuem, den Blick irgendeines[243] der Bauern aufzufangen; aber kein einziger Blick war auf sie gerichtet; die Augen aller vermieden es offenbar, den ihrigen zu begegnen. Es wurde ihr seltsam und unheimlich zumute.

»Sieh mal an, wie schlau sie uns zu überreden sucht, daß wir als ihre Sklaven mitziehen sollen! Unsere Häuser sollen wir zerstören und in die Knechtschaft wandern. Na so was! ›Ich will euch Getreide geben!‹ sagt sie.« So hörte sie in der Menge reden.

Prinzessin Marja senkte den Kopf, trat aus dem Kreis heraus und ging wieder ins Haus. Nachdem sie dem Dorfschulzen den Befehl gegeben hatte, für morgen Pferde zur Abreise zu beschaffen, begab sie sich in ihr Zimmer und blieb dort mit ihren Gedanken allein.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 239-244.
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