II

[161] Am Tag nach der Abreise seines Sohnes ließ Fürst Nikolai Andrejewitsch die Prinzessin Marja zu sich rufen.

»Nun also, bist du jetzt zufrieden?« sagte er zu ihr. »Du hast mich mit meinem Sohn entzweit! Bist du nun zufrieden? Das fehlte dir ja wohl nur noch! Bist du nun zufrieden ...? Mir ist das ein Schmerz, ein großer Schmerz. Ich bin alt und schwach. Aber du hast es so gewollt. Na, nun freue dich, freue dich!«

Hierauf bekam Prinzessin Marja ihren Vater eine ganze Woche lang nicht zu sehen. Er war krank und verließ sein Zimmer nicht.[161]

Zu ihrer Verwunderung bemerkte Prinzessin Marja, daß der alte Fürst während dieser Krankheit auch Mademoiselle Bourienne nicht zu sich ließ. Nur Tichon pflegte ihn.

Nach einer Woche kam der Fürst wieder aus seinem Zimmer heraus und begann wieder seine frühere Lebensweise, indem er sich besonders eifrig mit seinen Bauten und mit den Gärten beschäftigte; die früheren Beziehungen zu Mademoiselle Bourienne hatte er vollständig abgebrochen. Seine Miene und sein kalter Ton gegenüber der Prinzessin Marja sagten gleichsam zu ihr: »Da siehst du nun; du hattest dir etwas ausgesonnen über Beziehungen, die ich zu dieser Französin hätte, und es dem Fürsten Andrei vorgelogen und mich mit ihm entzweit. Nun siehst du, daß ich weder dich noch die Französin nötig habe.«

Die eine Hälfte des Tages verbrachte Prinzessin Marja bei Nikolenka, bei dessen Unterrichtsstunden sie zuhörte und den sie selbst im Russischen und in der Musik unterrichtete; auch unterhielt sie sich viel mit Dessalles. Die andere Hälfte des Tages verlebte sie bei ihren Büchern und mit der hochbejahrten Kinderfrau und mit den Gottesleuten, die manchmal durch die Hintertür zu ihr kamen.

Über den Krieg dachte Prinzessin Marja so, wie Frauen eben über den Krieg zu denken pflegen. Sie ängstigte sich um ihren Bruder, der mit dabei war, und schauderte vor der ihr unfaßbaren Grausamkeit, die die Menschen trieb, einander zu töten; aber für die Bedeutung dieses Krieges hatte sie kein Verständnis: er schien ihr ein Krieg von derselben Art zu sein wie alle früheren. Sie verstand die Bedeutung dieses Krieges nicht, obwohl Dessalles, mit dem sie oft sprach und der an dem Gang des Krieges ein leidenschaftliches Interesse nahm, sich Mühe gab, ihr seine eigenen Kombinationen auseinanderzusetzen, und obwohl die Gottesleute, die sie besuchten, alle auf ihre Art mit Schrecken von[162] den umgehenden Gerüchten über den Einfall des Antichrists erzählten, und obwohl Julja, die jetzige Fürstin Drubezkaja, die wieder mit ihr in Briefwechsel getreten war, ihr aus Moskau patriotische Briefe schrieb.

»Ich schreibe Ihnen russisch, meine liebe Freundin«, schrieb Julja, »weil ich einen Haß gegen alle Franzosen und gleichermaßen auch gegen ihre Sprache habe, die ich nicht hören und nicht reden mag ... Wir sind hier in Moskau alle voll Entzücken und Enthusiasmus für unsern angebeteten Kaiser.

Mein armer Mann erträgt Mühen und Hunger in jüdischen Schenken; aber die Nachrichten, die ich von ihm erhalte, tragen noch mehr zu meiner Begeisterung bei.

Sie haben gewiß von der heldenmütigen Tat Rajewskis gehört, der die Arme um seine beiden Söhne schlang und sagte: ›Ich will mit ihnen umkommen; aber wir werden nicht wanken und nicht weichen!‹ Und wirklich, obgleich der Feind noch einmal so stark war als wir, sind wir nicht gewichen. Wir verbringen die Zeit, so gut wir können; Krieg ist eben Krieg. Die Fürstinnen Alina und Sofja sitzen tagelang mit mir zusammen, und wir unglücklichen Strohwitwen führen beim Scharpiezupfen schöne Gespräche; nur Sie, liebe Freundin, fehlen uns dabei ...«, usw.

Prinzessin Marja vermochte die ganze Bedeutung dieses Krieges besonders deshalb nicht zu verstehen, weil der alte Fürst nie von ihm sprach, ihn ignorierte und sich bei Tisch über Dessalles lustig machte, wenn dieser vom Krieg redete. Der Ton des Fürsten war dabei so ruhig und sicher, daß Prinzessin Marja, ohne viel zu überlegen, ihm glaubte.

Den ganzen Juli über war der alte Fürst außerordentlich tätig und sogar lebhaft. Er ließ noch einen neuen Garten anlegen und ein Wohnhaus für Gutsleute bauen. Das einzige, worüber sich Prinzessin Marja beunruhigte, war, daß er so wenig schlief und,[163] von seiner Gewohnheit, in seinem Arbeitszimmer zu schlafen, abgehend, den Ort für sein Nachtlager alle Tage wechselte. Bald befahl er, sein Feldbett in der Galerie aufzuschlagen; bald blieb er im Salon auf dem Sofa oder auf einem Lehnstuhl sitzen und schlummerte unausgekleidet, während ihm nicht Mademoiselle Bourienne, sondern der Bursche Pjotr vorlas; bald brachte er die Nacht im Eßzimmer zu.

Am ersten August lief der zweite Brief vom Fürsten Andrei ein. In dem ersten Brief, der bald nach der Abreise des Fürsten Andrei angekommen war, hatte dieser seinen Vater demütig gebeten, ihm zu verzeihen, was er ihm zu sagen sich erlaubt hatte, und ihm seine Huld wieder zuzuwenden. Auf diesen Brief hatte der alte Fürst mit einem freundlichen Brief geantwortet und seitdem die Französin von sich ferngehalten. Der zweite Brief des Fürsten Andrei war aus der Gegend von Witebsk geschrieben, nach der Besetzung dieser Stadt durch die Franzosen, und enthielt eine kurze Schilderung des ganzen Feldzuges, die durch eine gezeichnete Kartenskizze erläutert war, und Kombinationen über den weiteren Gang des Feldzuges. In diesem Brief stellte Fürst Andrei seinem Vater die Unzuträglichkeiten vor, die die Lage seines Wohnortes in solcher Nähe des Kriegsschauplatzes und gerade auf der Linie der Truppenmärsche für ihn haben könne, und riet ihm, nach Moskau überzusiedeln.

Bei Tisch erwähnte an diesem Tag Dessalles, es verlaute, daß die Franzosen schon in Witebsk eingerückt seien; dabei fiel dem alten Fürsten wieder der Brief des Fürsten Andrei ein.

»Ich habe vom Fürsten Andrei heute einen Brief bekommen«, sagte er zur Prinzessin Marja. »Hast du ihn nicht gelesen?«

»Nein, lieber Vater«, antwortete die Prinzessin erschrocken.

Sie konnte den Brief nicht gelesen haben, von dessen Ankunft sie nicht einmal gehört hatte.[164]

»Er schreibt von diesem Krieg«, sagte der Fürst mit jenem ihm zur Gewohnheit gewordenen geringschätzigen Lächeln, mit dem er immer von dem gegenwärtigen Krieg sprach.

»Die Nachrichten werden gewiß sehr interessant sein«, sagte Dessalles. »Der Fürst ist in der Lage, genau orientiert zu sein ...«

»Ach ja, sehr interessant!« fügte auch Mademoiselle Bourienne hinzu.

»Gehen Sie hin, und holen Sie ihn mir«, wandte sich der alte Fürst an Mademoiselle Bourienne. »Sie wissen, auf dem kleinen Tisch, unter dem Briefbeschwerer.«

Mademoiselle Bourienne sprang freudig auf.

»Nein, nein!« rief er, die Stirn runzelnd. »Geh du hin, Michail Iwanowitsch!«

Michail Iwanowitsch stand auf und ging nach dem Arbeitszimmer. Aber kaum war er hinausgegangen, als der alte Fürst unruhig um sich blickte, die Serviette hinwarf und selbst ging.

»Nichts verstehen sie; sie bringen mir nur alles in Unordnung.«

Während er draußen war, sahen Prinzessin Marja, Dessalles, Mademoiselle Bourienne und selbst Nikolenka einander schweigend an. Eiligen Schrittes kehrte der alte Fürst, von Michail Iwanowitsch begleitet, zurück; er brachte den Brief und einen Bauplan mit, legte aber beides neben sich hin, ohne den Brief jemandem bei Tisch zum Lesen zu geben.

Nachdem sie in den Salon gegangen waren, gab er den Brief der Prinzessin Marja, breitete den Plan des neuen Gebäudes vor sich aus, heftete seine Augen darauf und befahl der Prinzessin, den Brief vorzulesen. Als Prinzessin Marja dies getan hatte, blickte sie ihren Vater fragend an. Er betrachtete seinen Plan und war augenscheinlich ganz in seine Gedanken versunken.[165]

»Wie denken Sie darüber, Fürst?« erlaubte sich endlich Dessalles zu fragen.

»Ich? Ich?« erwiderte der Fürst, als wäre es ihm unangenehm, aus seinen Gedanken aufgestört zu werden; er wandte die Augen nicht von seinem Bauplan ab.

»Gut möglich, daß der Kriegsschauplatz uns so nahe kommt, daß ...«

»Ha-ha-ha! Der Kriegsschauplatz!« unterbrach ihn der Fürst. »Ich habe Ihnen schon gesagt und wiederhole es: der Kriegsschauplatz ist Polen, und über den Niemen wird der Feind nie vordringen.«

Erstaunt blickte Dessalles den Fürsten an, der vom Niemen sprach, während doch der Feind bereits am Dnjepr stand; aber Prinzessin Marja, der die geographische Lage des Niemens nicht gegenwärtig war, hielt das, was ihr Vater sagte, für wahr.

»Sobald der Schnee schmilzt, werden sie in den polnischen Sümpfen versinken. Sie können sie jetzt nur nicht sehen«, sagte der Fürst; er dachte offenbar an den Feldzug des Jahres 1807, der nach seiner Vorstellung erst ganz vor kurzem stattgefunden hatte. »Bennigsen hätte nur früher in Preußen einrücken sollen; dann hätte die Sache eine andere Wendung genommen ...«

»Aber, Fürst«, wandte Dessalles schüchtern ein, »in dem Brief ist von Witebsk die Rede ...«

»Was? In dem Brief? Ja ...«, erwiderte der Fürst mißmutig. »Ja ... ja ...« Sein Gesicht nahm plötzlich einen finsteren Ausdruck an. Er schwieg eine Weile. »Ja, er schreibt, die Franzosen seien geschlagen worden; an welchem Fluß war es doch?«

Dessalles schlug die Augen nieder.

»Der Fürst schreibt davon nichts«, antwortete er leise.

»Schreibt davon nichts? Na, aus den Fingern habe ich es mir doch nicht gesogen.«[166]

Alle schwiegen lange.

»Ja ... ja ... Nun, Michail Iwanowitsch«, sagte er plötzlich, indem er den Kopf in die Höhe hob und auf den Bauplan zeigte, »setz mir mal auseinander, wie du das umändern willst ...«

Michail Iwanowitsch trat zu dem Plan hin; der Fürst sprach mit ihm ein paar Worte über den Plan des neuen Gebäudes, dann warf er der Prinzessin Marja und dem Erzieher Dessalles einen zornigen Blick zu und ging in sein Zimmer.

Prinzessin Marja hatte den verlegenen, erstaunten Blick, welchen Dessalles auf ihren Vater gerichtet hatte, wohl bemerkt, und auch sein Schweigen war ihr aufgefallen; jetzt war sie überrascht, daß ihr Vater den Brief des Sohnes auf dem Tisch im Salon vergessen hatte. Aber sie fürchtete sich, Dessalles nach dem Grund seiner Verlegenheit und seines Schweigens zu fragen; ja, sie fürchtete sich sogar, daran auch nur zu denken.

Am Abend kam, vom Fürsten geschickt, Michail Iwanowitsch zu Prinzessin Marja, um den Brief des Fürsten Andrei zu holen, den der Vater im Salon vergessen hatte. Prinzessin Marja übergab ihm den Brief. Obgleich es sie Überwindung kostete, entschloß sie sich doch, Michail Iwanowitsch zu fragen, was ihr Vater tue.

»Der Fürst ist immer sehr eifrig beschäftigt«, erwiderte Michail Iwanowitsch mit einem respektvollen, aber etwas spöttischen Lächeln, bei dessen Anblick Prinzessin Marja ganz blaß wurde. »Er beunruhigt sich wegen des neuen Wohngebäudes. Vorhin hat er ein wenig gelesen; aber jetzt« (hier ließ Michail Iwanowitsch die Stimme sinken) »sitzt er am Schreibtisch und beschäftigt sich wahrscheinlich mit dem Testament.« (In der letzten Zeit war es eine Lieblingsbeschäftigung des Fürsten, die Papiere zurechtzumachen, die er nach seinem Tod hinterlassen wollte und die er sein Testament nannte.)[167]

»Und wird Alpatytsch nach Smolensk geschickt?« fragte Prinzessin Marja.

»Gewiß; er wartet schon lange auf seine Abfertigung.«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 161-168.
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