III

[168] Als Michail Iwanowitsch mit dem Brief in das Zimmer des Fürsten zurückkehrte, saß dieser am offenen Schreibtisch; er hatte die Brille aufgesetzt und die Augen durch einen Schirm geschützt; auch die Kerzen waren durch Schirme abgeblendet. In der weit weggestreckten Hand hielt er einige Papiere, die er in einer etwas feierlichen Haltung las; es waren dies seine Remarques, wie er sie nannte, die nach seinem Tod dem Kaiser zugestellt werden sollten.

Als Michail Iwanowitsch eintrat, hatte dem Fürsten die Erinnerung an jene Zeit, wo er das geschrieben hatte, was er jetzt las, die Tränen in die Augen gelockt. Er nahm den Brief aus Michail Iwanowitschs Hand entgegen, steckte ihn in die Tasche, legte die Papiere weg und rief den schon lange wartenden Verwalter Alpatytsch herein.

Auf einem Blättchen Papier hatte der Fürst sich notiert, was Alpatytsch in Smolensk kaufen sollte; nun ging er im Zimmer auf und ab, neben dem an der Tür wartenden Alpatytsch immer vorbei, und erteilte diesem seine Aufträge.

»Erstens Briefpapier, hörst du wohl? Acht Buch, hier, nach Probe; mit Goldschnitt ... da ist die Probe; es soll genauso sein. Dann Lack, Siegellack, von der Art, wie es Michail Iwanowitsch auf einen Zettel geschrieben hat.«

Er war einen Augenblick stehengeblieben, nahm aber nun seine Wanderung wieder auf und blickte auf seinen Merkzettel.[168]

»Dann gibst du dem Gouverneur persönlich den Brief über die letztwillige Verfügung ab.«

Ferner waren noch Riegel für die Türen des neuen Gebäudes nötig, genau von der Fasson, die der Fürst selbst ausgesonnen hatte. Und es mußte ein solider Pappkasten bestellt werden zur Verpackung des Testaments.

Die Erteilung der Aufträge an Alpatytsch hatte schon mehr als zwei Stunden gedauert; aber noch immer ließ ihn der Fürst nicht fort. Er setzte sich hin, dachte nach, schloß dabei die Augen und schlummerte ein.

»Nun, geh nur, geh nur! Wenn noch etwas nötig ist, werde ich dich rufen lassen.«

Alpatytsch verließ das Zimmer. Der Fürst trat wieder an seinen Schreibtisch, blickte in ihn hinein, berührte mit der Hand seine Papiere, schloß wieder zu und setzte sich an den Tisch, um den Brief an den Gouverneur zu schreiben.

Es war schon spät, als er den Brief siegelte und aufstand. Er hätte nun gern geschlafen, wußte aber, daß er nicht einschlafen werde und daß ihm im Bett die schlimmsten Gedanken kommen würden. Er rief Tichon und ging mit ihm durch die Zimmer, um ihm zu zeigen, wo sein Bett für diese Nacht aufgeschlagen werden solle. Beim Umhergehen prüfte er jedes Winkelchen.

Überall schien es ihm schlecht; aber am schlechtesten war sein gewohntes Sofa in seinem Zimmer. Dieses Sofa war ihm furchtbar, wahrscheinlich wegen der bedrückenden Gedanken, von denen er, während er dort gelegen hatte, gequält worden war. Nirgends war es gut; aber verhältnismäßig am besten war noch ein Winkel im Sofazimmer, hinter dem Klavier: dort hatte er noch nie geschlafen.

Tichon trug mit einem Diener das Bett dorthin und begann es aufzustellen.[169]

»Nicht so, nicht so!« schrie der Fürst und rückte es selbst eine Spanne weit aus der Ecke heraus und dann wieder näher heran.

»Nun, endlich habe ich alles erledigt; jetzt kann ich mich ausruhen«, dachte der Fürst und ließ sich von Tichon auskleiden.

Während dieser Prozedur runzelte er ärgerlich die Stirn wegen der Anstrengung, die es ihn kostete, sich den Schlafrock und die Beinkleider ausziehen zu lassen, ließ sich, als alles fertig war, schwerfällig auf das Bett sinken und schien etwas zu überlegen, während er verächtlich auf seine gelben, dürren Beine blickte. Aber er überlegte nichts, sondern zögerte nur angesichts der ihm bevorstehenden Mühe, diese Beine aufzuheben und sich im Bett zurechtzulegen. »Ach, wie schwer das alles ist! Ach, wenn diese Mühen doch bald zu Ende wären und ihr mich davonließet!« dachte er. Die Lippen zusammenpressend machte er endlich diese Anstrengung und legte sich hin. Aber kaum lag er, als auf einmal das ganze Bett unter ihm im Takt vorwärts und rückwärts zu gehen anfing, gleichsam schweratmend und stoßend. Das begegnete ihm fast jede Nacht. Er machte die Augen, die er soeben geschlossen hatte, wieder auf.

»Keine Ruhe! Verdammte Bande!« brummte er im Zorn gegen irgend jemand. »Ja, ja, es war noch etwas Wichtiges; etwas sehr Wichtiges hatte ich mir für die Nacht im Bett verspart. Die Riegel? Nein, von denen habe ich gesagt. Nein, es war etwas anderes, etwas im Salon. Prinzessin Marja hatte irgendwelchen Unsinn geschwatzt. Dessalles, dieser Dummkopf, hatte etwas gesagt. Etwas in der Tasche ... Ich komme nicht darauf.«

»Tichon, wovon haben wir bei Tisch gesprochen?«

»Vom Fürsten Andrei ...«

»Schweig! schweig!« Der Fürst klatschte mit der Hand auf den Tisch. »Ja, ich weiß, es war da ein Brief vom Fürsten Andrei.[170] Prinzessin Marja las ihn vor. Dessalles sagte etwas von Witebsk. Jetzt will ich ihn lesen.«

Er ließ sich den Brief aus seiner Tasche holen, das Tischchen mit der Limonade und der nach Art eines Taues gewundenen Wachskerze an das Bett rücken, setzte die Brille auf und begann zu lesen. Jetzt erst, in der Stille der Nacht, bei dem schwachen Licht, das unter dem grünen Lampenschirm hervordrang, verstand er beim Lesen des Briefes zum erstenmal dessen ernsten Sinn.

»Die Franzosen in Witebsk; in vier Tagesmärschen können sie bei Smolensk sein; vielleicht sind sie schon da. Tichon!« Tichon sprang auf. »Nein, es ist nicht nötig, nicht nötig!« rief der Alte.

Er schob den Brief unter den Leuchter und schloß die Augen. Und vor seinem geistigen Blick stand die Donau, der helle Mittag, das Schilfdickicht, das russische Lager, und er, ein junger General, ohne eine einzige Falte im Gesicht, frisch, heiter und rotwangig, tritt in das bunte Zelt Potjomkins, und ein brennendes Gefühl des Neides gegen den Günstling erfüllt ihn jetzt noch in gleicher Stärke wie damals. Und er erinnert sich an jedes Wort, das damals bei der ersten Begegnung mit Potjomkin gesprochen wurde. Und er glaubt, eine kleine, dicke, üppige Frau mit gelblichem, fettem Gesicht vor sich zu sehen, die Kaiserin; alles ist ihm gegenwärtig: ihr Lächeln, ihre Worte, als sie ihn zum erstenmal in liebenswürdiger Art empfing. Und er erinnert sich an das Gesicht derselben Kaiserin auf dem Katafalk und an den Streit, den er damals an ihrem Sarg mit Subow hatte um das Recht, herantreten und ihr die Hand küssen zu dürfen.

»Ach, könnte ich nur recht schnell, recht schnell in jene Zeiten zurückkehren, und wäre nur die ganze Gegenwart recht bald, recht bald zu Ende! Wenn sie mich nur alle in Ruhe ließen!«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 168-171.
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