XXII

[310] Hin und her schwankend infolge des Gedränges, das ihn erfaßt hatte, sah sich Pierre rings um.

»Graf! Pjotr Kirillowitsch! Wie kommen Sie hierher?« rief eine Stimme.

Pierre blickte nach der Richtung hin. Boris Drubezkoi, sich mit der Hand die Knie reinigend, die er sich, wahrscheinlich gleichfalls beim Küssen des Muttergottesbildes, beschmutzt hatte, kam lächelnd auf Pierre zu. Boris war elegant gekleidet, mit einer Nuance von feldzugsmäßigem Kriegertum; er trug einen langen Rock und über der Schulter eine Peitsche, ganz ebenso wie Kutusow.

Unterdessen war Kutusow zum Dorf hingegangen und hatte sich im Schatten des nächsten Hauses auf eine Bank gesetzt, die ein Kosak schnell herbeigebracht und ein anderer eilig mit[310] einem Teppich bedeckt hatte. Eine große, glänzende Suite umgab den Oberbefehlshaber.

Das heilige Bild bewegte sich, von einer großen Menschenschar begleitet, weiter. Pierre blieb etwa dreißig Schritte von Kutusow entfernt im Gespräch mit Boris stehen. Er machte diesem von seiner Absicht Mitteilung, an der Schlacht teilzunehmen und vorher die Position zu besichtigen.

»Machen Sie das so«, sagte Boris: »Ich werde hier im Lager Ihnen gegenüber den Hausherrn spielen. Die Schlacht werden Sie am besten von da aus sehen, wo sich Graf Bennigsen befinden wird. Ich gehöre zu seiner Suite und werde ihm von Ihrem Wunsch Meldung machen. Wenn Sie aber die Position abreiten wollen, so kommen Sie mit uns mit: wir reiten sogleich nach der linken Flanke. Und wenn wir zurück sind, so möchte ich Sie um die Freundlichkeit bitten, bei mir zu übernachten; wir arrangieren dann eine kleine Kartenpartie. Sie kennen ja doch wohl Dmitri Sergejewitsch? Er liegt dort im Quartier.« Boris zeigte auf das dritte Haus in Gorki.

»Aber ich möchte gern auch die rechte Flanke sehen; ich höre, daß sie sehr stark ist«, erwiderte Pierre. »Ich würde am liebsten von der Moskwa an die ganze Position abreiten.«

»Nun, das können Sie ja später noch; die Hauptsache ist doch die linke Flanke ...«

»Also schön. Und wo ist das Regiment des Fürsten Bolkonski? Können Sie mir das nicht zeigen?« fragte Pierre.

»Andrei Nikolajewitschs Regiment? Wir kommen daran vorbei; ich werde Sie zu ihm führen.«

»Was hat es denn mit der linken Flanke für eine Bewandtnis?« fragte Pierre.

»Ihnen die Wahrheit zu sagen, unter uns, unsere linke Flanke befindet sich in einem ganz wunderlichen Zustand«, antwortete[311] Boris, indem er vertraulich die Stimme senkte. »Graf Bennigsen hatte etwas ganz anderes vorgeschlagen. Er hatte jenen Hügel dort in ganz anderer Weise befestigen wollen; aber ...« (Boris zuckte mit den Achseln) »dem Durchlauchtigen schien es nicht, oder man hatte ihm etwas eingeredet. Er hat ja ...« Boris sprach nicht zu Ende, weil in diesem Augenblick Kaisarow, ein Adjutant Kutusows, auf Pierre zukam. »Ah! Paisi Sergejewitsch«, sagte Boris, sich mit harmlosem Lächeln zu Kaisarow wendend. »Ich versuche eben, dem Grafen unsere Position zu erläutern. Es ist erstaunlich, wie der Durchlauchtige die Pläne der Franzosen mit solcher Sicherheit hat durchschauen können!«

»Sie meinen die linke Flanke?« fragte Kaisarow.

»Gewiß, gerade die. Unsere linke Flanke ist jetzt sehr stark, außerordentlich stark.«

Obgleich Kutusow den Stab von allen überflüssigen Anhängseln gesäubert hatte, hatte Boris es doch verstanden, sich auch nach den Veränderungen, die Kutusow vorgenommen hatte, im Hauptquartier zu behaupten. Er hatte sich an den Grafen Bennigsen angeschlossen. Graf Bennigsen, wie alle Vorgesetzten, bei denen sich Boris bisher befunden hatte, hielt den jungen Fürsten Drubezkoi für einen überaus wertvollen Menschen.

In der Oberleitung der Armee bestanden zwei scharf geschiedene Parteien: die Partei Kutusows und die des Generalstabschefs Bennigsen. Boris gehörte zu dieser letzteren Partei, und niemand verstand es so gut wie er, während er äußerlich Kutusow eine devote Verehrung zollte, dabei doch zu verstehen zu geben, daß der Alte nichts mehr leiste und alles von Bennigsen geleitet werde. Jetzt war nun der entscheidende Augenblick gekommen, wo die Schlacht geliefert werden sollte, und Boris spekulierte so: entweder werde dieser Tag Kutusow vernichten und die Macht in Bennigsens Hände übergehen lassen, oder wenn Kutusow[312] wirklich die Schlacht gewinnen sollte, so müsse man zu verstehen geben, daß es eigentlich Bennigsen sei, der alles gemacht habe. In jedem Fall werde am morgigen Tag eine Menge von Auszeichnungen erfolgen, und neue Persönlichkeiten würden in den Vordergrund treten. Infolgedessen befand sich Boris an diesem ganzen Tag in lebhafter Erregung.

Nach Kaisarow traten noch mehrere andere Bekannte an Pierre heran, und er hatte genug zu tun, auf die Fragen nach Moskau zu antworten, mit denen sie ihn überschütteten, und anzuhören, was sie ihm erzählten. Auf allen Gesichtern prägte sich eine unruhige Spannung aus. Aber Pierre hatte den Eindruck, daß der Grund der Erregung, die viele dieser Gesichter zeigten, mehr in Fragen des persönlichen Erfolges lag, und es wollte ihm jener andere Ausdruck von Erregung nicht aus dem Gedächtnis kommen, der ihm auf anderen Gesichtern entgegengetreten war und der nicht von Fragen persönlichen Charakters, sondern von den allgemeinen Fragen des Lebens und des Todes geredet hatte. Kutusow bemerkte die Gestalt Pierres und die Gruppe, die sich um ihn gesammelt hatte.

»Rufen Sie ihn zu mir«, sagte Kutusow.

Ein Adjutant überbrachte den Wunsch des Durchlauchtigen, und Pierre ging auf die Bank zu. Aber noch vor ihm trat an Kutusow ein Gemeiner von der Landwehr heran. Es war Dolochow.

»Wie kommt denn der hierher?« fragte Pierre.

»Das ist so ein Racker, der schlängelt sich überall durch!« wurde ihm geantwortet. »Er ist degradiert worden und möchte sich jetzt wieder hinaufarbeiten. Er hat irgendwelche Projekte eingereicht und sich auch nachts in die feindliche Vorpostenlinie geschlichen ... Ein forscher Kerl ist er jedenfalls ...!«

Pierre nahm den Hut ab und verbeugte sich respektvoll vor Kutusow.[313]

»Ich habe mir gesagt: wenn ich mit einer Meldung zu Euer Durchlaucht komme, so werden Sie mich vielleicht fortweisen oder auch sagen, daß Ihnen das, was ich melde, bereits bekannt sei; aber auch dann würde ich mich nicht gekränkt fühlen ...«, sagte Dolochow.

»So, so.«

»Aber wenn ich recht habe, so werde ich dem Vaterland, für das ich mein Leben hinzugeben bereit bin, Nutzen bringen.«

»So ... so ...«

»Und wenn Euer Durchlaucht einen Menschen nötig haben, dem sein Fell nicht leid tun würde, so bitte ich Sie, sich meiner zu erinnern ... Vielleicht, daß ich Euer Durchlaucht einmal einen Dienst erweisen kann.«

»So ... so ...«, wiederholte Kutusow und blickte mit dem zusammengekniffenen Auge lächelnd nach Pierre hin.

In diesem Augenblick trat Boris mit der ihm eigenen höfischen Gewandtheit neben Pierre in die Nähe des Oberkommandierenden und sagte zu Pierre mit der ungezwungensten Miene und wie in Fortsetzung eines begonnenen Gespräches:

»Die Landwehrleute haben extra zu morgen reine, weiße Hemden angezogen, um sich auf den Tod vorzubereiten. Welch ein Heroismus, Graf!«

Zweifellos beabsichtigte Boris, indem er das zu Pierre sagte, von dem Durchlauchtigen gehört zu werden. Er wußte, daß Kutusow diese Worte beachten werde, und wirklich wandte sich der Durchlauchtige zu ihm mit der Frage:

»Was sagst du da von der Landwehr?«

»Sie haben sich auf den morgigen Tag, auf den Tod, dadurch vorbereitet, daß sie weiße Hemden angezogen haben.«

»Ah ...! Ein wunderbares, unvergleichliches Volk!« sagte Kutusow und wiegte, die Augen zudrückend, den Kopf hin und[314] her. »Ein unvergleichliches Volk!« wiederholte er mit einem Seufzer.

»Wollen Sie Pulver riechen?« sagte er zu Pierre. »Ja, es ist ein angenehmer Geruch. Ich habe die Ehre, ein Anbeter Ihrer Gemahlin zu sein; befindet sie sich wohl? Mein Quartier steht zu Ihren Diensten.«

Und wie das häufig bei alten Leuten der Fall ist, begann Kutusow sich zerstreut umzusehen, als ob er alles vergessen hätte, was er hatte sagen und tun wollen.

Nachdem ihm offenbar das eingefallen war, wonach er gesucht hatte, winkte er Andrei Sergejewitsch Kaisarow, den Bruder seines Adjutanten, zu sich heran.

»Wie ... wie lauteten doch die Verse von Marin?« sagte er zu ihm. »Ja, wie lauteten sie doch? Er hatte ein Gedicht auf Gerakow verfaßt:


›Lehrer im Kadettenkorps

Wirst du werden, eitler Tor ...‹


Sage doch, sage doch!« Er war offenbar bereit, loszulachen.

Kaisarow sagte das Gedicht her; Kutusow lächelte und nickte im Takt der Verse mit dem Kopf.

Als Pierre von Kutusow zurückgetreten war, näherte sich ihm Dolochow und ergriff seine Hand.

»Ich freue mich sehr, Ihnen hier zu begegnen, Graf«, sagte er laut und in besonders energischem, feierlichem Ton, ohne sich wegen der Gegenwart Fremder zu genieren: »Niemand weiß, wem unter uns beschieden ist, den morgigen Tag zu überleben; da freue ich mich heute über die Gelegenheit, Ihnen zu sagen, daß ich die zwischen uns entstandenen Mißverständnisse bedaure und wünschen möchte, daß Sie keine feindliche Gesinnung mehr gegen mich hegten. Ich bitte Sie, mir zu verzeihen.«[315]

Pierre blickte ihn lächelnd an, ohne recht zu wissen, was er ihm antworten sollte. Dolochow, dem die Tränen in die Augen getreten waren, umarmte Pierre und küßte ihn.

Boris sagte etwas zu seinem General, und Graf Bennigsen wandte sich an Pierre und stellte ihm anheim, ob er mit ihm die Linie entlangreiten wolle.

»Es wird Sie interessieren«, sagte er.

»O gewiß, außerordentlich«, antwortete Pierre.

Eine halbe Stunde darauf ritt Kutusow nach Tatarinowa weiter, und Bennigsen mit seiner Suite, unter der sich nun auch Pierre befand, ritt die Positionslinie ab.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 310-316.
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