[379] Napoleons Generale, Davout, Ney und Murat, die sich in der Nähe dieser Feuerzone befanden und sogar manchmal in sie hineinritten, führten mehrmals gewaltige, wohlgeordnete Truppenmassen in diese Feuerzone hinein. Aber im Gegensatz zu dem, was in allen früheren Schlachten unweigerlich geschehen war, kehrten statt der erwarteten Nachricht über die Flucht des Feindes die wohlgeordneten Truppenmassen von dort als aufgelöste, von Schrecken erfüllte Scharen zurück. Die Generale ordneten sie von neuem; aber der Menschen wurden immer weniger. Gegen Mittag schickte Murat zu Napoleon seinen Adjutanten mit der Bitte um Verstärkung.
Napoleon saß am Fuß des Hügels und trank Punsch, als Murats Adjutant zu ihm heransprengte und versicherte, die[379] Russen würden geschlagen werden, wenn Seine Majestät noch eine Division geben wolle.
»Verstärkung?« fragte Napoleon in strengem Ton und mit erstaunter Miene, als hätte er nicht recht verstanden, was der Adjutant gesagt hatte, und blickte den Adjutanten scharf an, einen schönen jungen Mann mit langem, lockigem, schwarzem Haar, ebenso wie Murat das Haar trug.
»Verstärkung!« dachte Napoleon. »Wie kann er denn Verstärkung verlangen, obwohl er doch die Hälfte der Armee unter seinem Kommando und nur einen schwachen, unbefestigten Flügel der Russen sich gegenüber hat!«
»Sagen Sie dem König von Neapel«, fuhr Napoleon in strengem Ton fort, »daß es noch nicht Mittag ist und ich mein Schachbrett noch nicht klar überblicke. Gehen Sie!«
Der schöne junge Adjutant mit dem langen Haar, der die Hand nicht vom Hut genommen hatte, jagte mit einem schweren Seufzer wieder dahin, wo die Menschen gemordet wurden.
Napoleon stand auf, rief Caulaincourt und Berthier zu sich und begann mit ihnen über Dinge zu sprechen, die mit der Schlacht nichts zu tun hatten.
Mitten in dem Gespräch, das den Kaiser zu interessieren anfing, fiel Berthiers Blick auf einen General mit Gefolge, der auf einem schweißbedeckten Pferd zu dem Hügel herangesprengt kam. Es war Belliard. Er sprang vom Pferd, ging mit schnellen Schritten auf den Kaiser zu und begann keck mit lauter Stimme die Notwendigkeit der Entsendung von Verstärkungen zu beweisen. Er schwur bei seiner Ehre, daß die Russen verloren seien, wenn der Kaiser noch eine Division gäbe.
Napoleon zuckte die Achseln und setzte, ohne zu antworten, seinen Spaziergang fort. Belliard fing an, zu den Generalen der kaiserlichen Suite, die ihn umringten, laut und lebhaft zu reden.[380]
»Sie sind sehr erregt, Belliard«, sagte Napoleon, als er sich dem General wieder näherte. »In der Hitze des Kampfes kann man sich leicht irren. Reiten Sie zurück, sehen Sie sich den Stand der Sache nochmals an, und kommen Sie dann wieder zu mir.«
Belliard war noch nicht aus dem Gesichtskreis verschwunden, als von einer andern Seite ein neuer Abgesandter vom Schlachtfeld herangaloppiert kam.
»Nun, was gibt es?« fragte Napoleon; seinem Ton war anzuhören, daß die unaufhörlichen Belästigungen ihn reizten.
»Sire, der Prinz ...«, begann der Adjutant.
»Bittet um Verstärkung?« unterbrach ihn Napoleon mit zorniger Miene.
Der Adjutant neigte bejahend den Kopf und begann seinen Bericht; aber der Kaiser wandte sich von ihm weg, machte zwei Schritte, blieb stehen, drehte sich um und rief Berthier zu sich.
»Ich muß die Reserven hergeben«, sagte er, indem er die Arme ein wenig auseinanderbreitete. »Wen soll ich hinschicken? Wie denken Sie darüber?« wandte er sich an Berthier, an diesen »Gänserich, den ich zum Adler gemacht habe«, wie er später von ihm gesagt hat.
»Schicken Euer Majestät doch die Division Claparède«, sagte Berthier, der alle Divisionen, Regimenter und Bataillone im Kopf hatte.
Napoleon nickte zustimmend mit dem Kopf.
Der Adjutant sprengte zu der Division Claparède hin, und nach einigen Minuten brach die junge Garde, die hinter dem Hügel postiert war, von ihrem Standplatz auf. Napoleon blickte schweigend nach dieser Richtung hin.
»Nein«, wandte er sich wieder an Berthier, »ich kann Claparède nicht schicken. Schicken Sie die Division Friant.«
Es war zwar keinerlei Vorteil damit verbunden, wenn statt[381] Claparède die Division Friant geschickt wurde, ja, es wurde sogar eine augenscheinliche Hemmung und Verzögerung dadurch herbeigeführt, daß jetzt Claparède erst wieder zurückgehalten und statt seiner Friant geschickt werden mußte; aber der Befehl wurde ausgeführt. Napoleon wurde sich dessen nicht bewußt, daß er seinen Truppen gegenüber jetzt selbst jene Rolle des Arztes spielte, der durch seine Medikamente stört, eine Rolle, die er so richtig erkannt und verurteilt hatte.
Die Division Friant verschwand, ebenso wie die andern, im Rauch des Schlachtfeldes. Von verschiedenen Seiten kamen immer noch Adjutanten herbeigesprengt, und alle sagten wie auf Verabredung ein und dasselbe. Alle baten um Verstärkungen; alle sagten, die Russen behaupteten sich in ihren Stellungen und unterhielten ein Höllenfeuer (un feu d'enfer), durch das die französische Armee zusammenschmelze.
Napoleon saß, in tiefes Nachdenken versunken, auf einem Feldstuhl.
Herr de Bausset, dem das Reisen soviel Vergnügen machte und der seit dem Morgen nichts gegessen hatte und hungrig geworden war, trat an den Kaiser heran und erkühnte sich, Seine Majestät ehrerbietigst zum Frühstücken aufzufordern.
»Ich hoffe, daß ich Euer Majestät jetzt schon zum Sieg gratulieren kann«, fügte er hinzu.
Napoleon schüttelte schweigend den Kopf. In der Voraussetzung, daß sich diese Verneinung auf den Sieg und nicht auf das Frühstück beziehe, erlaubte sich Herr de Bausset respektvoll scherzend zu bemerken, daß es keine Gründe in der Welt gebe, durch die sich jemand am Frühstücken hindern zu lassen brauche, wenn die Möglichkeit dazu vorhanden sei.
»Machen Sie, daß Sie wegkommen«, sagte Napoleon auf einmal finster und wandte sich von ihm ab.[382]
Ein seliges Lächeln, in welchem sich Bedauern, Reue und Enthusiasmus vereinigten, erstrahlte auf dem Gesicht des Herrn de Bausset, und mit schleifendem Gang begab er sich zu den Generalen.
Napoleon empfand ein Gefühl peinlicher Beängstigung, wie ein Spieler, der immer Glück gehabt hat, der, wenn er sein Geld sinnlos wagte, immer gewonnen hat und der nun plötzlich, gerade wo er seiner Meinung nach alle Chancen des Spieles vorausberechnet hatte, merkt, daß, je mehr er sein Verfahren überdacht hat, er um so sicherer verlieren wird.
Die Truppen waren dieselben, die Generale dieselben; es waren dieselben Vorbereitungen, dieselbe Disposition, derselbe kurze und energische Armeebefehl; er selbst war derselbe, das wußte er; er wußte, daß er jetzt sogar weit erfahrener und geschickter war als früher; selbst der Feind war derselbe wie bei Austerlitz und Friedland – aber der zu furchtbarem Schlag ausholende Arm sank, wie durch einen Zauber, kraftlos nieder.
Alle jene früheren Hilfsmittel, die sonst unausbleiblich von Erfolg gekrönt gewesen waren: die Konzentrierung der Batterien auf einen Punkt und der Angriff der Reserven zur Durchbrechung der feindlichen Linie und die Attacke der Kavallerie von Eisenmännern, hommes de fer, alle diese Hilfsmittel waren heute bereits zur Anwendung gebracht, und doch war nicht nur kein Sieg errungen, sondern es kamen sogar von allen Seiten immer dieselben Nachrichten von getöteten und verwundeten Generalen, von der Notwendigkeit der Entsendung von Verstärkungen, von der Unmöglichkeit, die Russen zu schlagen, und von der Auflösung der Truppen.
Früher hatte er immer nur zwei, drei Anordnungen zu treffen, zwei, drei Sätze zu sprechen gebraucht, und dann waren die Marschälle und Adjutanten mit Glückwünschen und heiteren Gesichtern[383] herangesprengt und hatten von den Siegestrophäen Meldung gemacht: daß ganze Truppenmassen gefangen, Haufen von feindlichen Fahnen und Feldzeichen und eine Menge von Kanonen erbeutet seien; und dann hatte Murat nur um die Erlaubnis gebeten, seine Kavallerie ausschicken zu dürfen, um die Bagage des Feindes wegzunehmen. So war das bei Lodi, Marengo, Arcole, Jena, Austerlitz, Wagram usw. usw. gewesen. Jetzt aber ging mit seinen Truppen etwas Seltsames vor.
Trotz der Nachricht von der Einnahme der Pfeilschanzen sah Napoleon, daß es ein anderes, ganz anderes Ding war als in all seinen früheren Schlachten. Er sah, daß die Empfindung, die ihn erfüllte, auch bei allen Männern seiner Umgebung vorhanden war, und das waren doch Leute, die aus vielen Schlachten Erfahrung hatten. Alle Gesichter waren trübe; jeder vermied es, dem andern ins Gesicht zu blicken. Nur Bausset brachte es fertig, die Bedeutung dessen, was da vorging, nicht zu verstehen. Napoleon aber wußte bei seiner langen Kriegserfahrung sehr wohl, was das zu bedeuten hatte, daß nach achtstündigem Kampf trotz aller Anstrengungen die Schlacht von dem Angreifer nicht gewonnen war. Er wußte, daß damit die Schlacht beinahe verloren war und daß die geringste Zufälligkeit jetzt, wo der Ausgang der Schlacht auf des Messers Schneide stand, ihn und sein Heer vernichten konnte.
Als er nun diesen ganzen seltsamen russischen Feldzug vor seinem geistigen Auge vorüberziehen ließ, in welchem keine Schlacht gewonnen und zwei Monate lang keine Fahne, keine Kanone erbeutet, keine Truppenabteilung gefangengenommen war, als er die Gesichter seiner Umgebung betrachtete, die ihre Niedergeschlagenheit zu verbergen suchten, und die Meldungen darüber hörte, daß die Russen immer noch standhielten: da ergriff ihn ein schreckliches Gefühl, wie es einen manchmal im[384] Traum überfällt, und es kamen ihm allerlei unglückliche Möglichkeiten in den Sinn, die sein Verderben herbeiführen konnten. Die Russen konnten über seinen linken Flügel herfallen; sie konnten sein Zentrum durchbrechen; eine tollgewordene Kanonenkugel konnte ihn selbst töten. All dergleichen war möglich. In seinen früheren Schlachten hatte er nur die Möglichkeiten überdacht, die zum Erfolg führen konnten; aber jetzt trat ihm eine zahllose Menge unglücklicher Möglichkeiten vor die Seele, und er glaubte eine jede von ihnen erwarten zu müssen. Ja, es war wie im Traum, wo jemand glaubt, es komme ein Mörder auf ihn los; und nun holt er im Traum mit aller Kraft zu einem furchtbaren Schlag aus, der nach seiner Überzeugung den Feind vernichten muß; auf einmal aber fühlt er, daß sein Arm kraftlos und schwach wie ein Lappen niedersinkt, und wird in seiner Hilflosigkeit von jäher Angst vor dem unentrinnbaren Verderben gepackt.
Es war die Nachricht von dem Angriff der Russen auf den linken Flügel des französischen Heeres, die dieses beängstigende Gefühl bei Napoleon hervorrief. Schweigend saß er am Fuß des Hügels auf seinem Feldstuhl, den Kopf niedergebeugt, die Ellbogen auf die Knie gelegt. Berthier trat zu ihm und fragte, ob er nicht die Linie abreiten wolle, um sich von dem Stand der Dinge zu überzeugen.
»Was? Was sagen Sie?« erwiderte Napoleon. »Ja, lassen Sie mir ein Pferd bringen.«
Er setzte sich auf und ritt nach Semjonowskoje.
In dem nur langsam sich auseinanderziehenden Pulverdampf sah Napoleon auf der ganzen Strecke, die er durchritt, Pferde und Menschen in Blutlachen liegen, bald einzeln, bald haufenweise. Einen solchen Greuel, eine solche Unmenge von Getöteten auf einem so kleinen Raum hatte weder Napoleon noch einer[385] seiner Generale je gesehen. Der Donner der Geschütze, der nun schon zehn Stunden lang ununterbrochen angedauert hatte und das Ohr peinigte, erhöhte noch den Eindruck dieses Anblicks, ähnlich wie die Musik bei lebenden Bildern. Napoleon ritt auf die Höhe von Semjonowskoje hinauf und erblickte durch den Pulverdampf Reihen von Soldaten in Uniformen, deren Farbe seinem Auge fremd erschien. Es waren Russen.
Die Russen standen in dichten Reihen hinter Semjonowskoje und dem Hügel, und ihre Geschütze donnerten und rauchten unaufhörlich in ihrer Linie. Eine Schlacht war das nicht mehr; es war ein fortdauerndes Morden, das weder den Russen noch den Franzosen zu einem Vorteil verhelfen konnte. Napoleon hielt sein Pferd an und versank wieder in dieselben trüben Gedanken, aus denen ihn vorher Berthier aufgeweckt hatte; er konnte das Werk nicht hemmen, das da vor seinen Augen und um ihn herum vollbracht wurde, und von dem man meinte, es werde von ihm geleitet und hänge von ihm ab, und dieses Werk erschien ihm zum erstenmal infolge des Mißerfolges als etwas Unnötiges und Furchtbares.
Einer der Generale, die zu Napoleon herangeritten waren, erlaubte sich, ihn zu bitten, ob er nicht die alte Garde ins Gefecht schicken wolle. Ney und Berthier, die neben Napoleon hielten, wechselten einen Blick miteinander und lächelten geringschätzig über den absurden Vorschlag dieses Generals.
Napoleon senkte den Kopf und schwieg lange.
»Achthundert Lieues von Frankreich entfernt werde ich meine Garde nicht dem Verderben preisgeben«, sagte er, wendete sein Pferd und ritt nach Schewardino zurück.
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