XXXV

[386] Kutusow saß an derselben Stelle, an der ihn Pierre am Morgen gesehen hatte, auf der mit einem Teppich bedeckten Bank; den grauen Kopf hielt er tief hinabgebeugt; sein schwerer Körper war in sich zusammengesunken. Er traf keine eigenen Anordnungen, sondern gab nur zu dem, was ihm vorgeschlagen wurde, seine Zustimmung oder lehnte es ab.

»Ja, ja, tut das nur«, antwortete er auf mancherlei Vorschläge. »Ja, ja, reite einmal hin, mein Lieber, und sieh dir die Sache an«, sagte er bald zu dem, bald zu jenem aus seiner Umgebung. Oder er sagte: »Nein, das ist nicht nötig; wir wollen lieber noch warten.« Er hörte die ihm erstatteten Meldungen an und gab Befehle, wenn es seine Untergebenen verlangten; aber während er die Berichte anhörte, schien er sich nicht für den Inhalt dessen, was ihm gesagt wurde, zu interessieren, sondern für etwas anderes: für den Gesichtsausdruck und Ton der Meldenden. Aus einer langjährigen Kriegserfahrung wußte er und war darüber mit seinem alten Kopf ins klare gekommen, daß es für einen einzelnen Menschen unmöglich ist, Hunderttausende, die auf Leben und Tod kämpfen, zu leiten, und daß der Ausgang der Schlachten nicht durch die Anordnungen des Oberkommandierenden, nicht durch das Terrain, auf dem die Truppen stehen, nicht durch die Zahl der Kanonen und der getöteten Menschen entschieden wird, sondern durch jene eigenartige Kraft, die man den Geist des Heeres nennt; und diese Kraft beobachtete er und leitete sie, soweit das in seiner Macht lag.

Der allgemeine, dauernde Ausdruck in Kutusows Gesicht war der einer ruhigen, gesammelten Aufmerksamkeit und Spannung, die aber nur mit Mühe über die Müdigkeit des alten, schwachen Körpers den Sieg davontrug.[387]

Um elf Uhr vormittags wurde ihm gemeldet, daß die von den Franzosen eroberten Pfeilschanzen wieder zurückgewonnen seien, daß aber Fürst Bagration verwundet wäre. Kutusow stöhnte auf und wiegte bedauernd den Kopf hin und her.

»Reite zu dem Fürsten Pjotr Iwanowitsch hin und erkundige dich genau, was und wie ...«, befahl er einem Adjutanten und wandte sich dann sofort an den hinter ihm stehenden Prinzen von Württemberg: »Belieben Euer Hoheit das Kommando der zweiten Armee zu übernehmen.«

Bald nachdem der Prinz weggeritten war, und zwar so bald nachher, daß er noch nicht nach Semjonowskoje gelangt sein konnte, kehrte der Adjutant des Prinzen von ihm zurück und meldete dem Durchlauchtigen, der Prinz bitte um Truppen.

Kutusow runzelte die Stirn und schickte an Dochturow den Befehl, das Kommando der zweiten Armee zu übernehmen; den Prinzen aber ließ er bitten, zu ihm zurückzukehren, da er ihn, wie er sagte, in diesen kritischen Augenblicken doch nicht entbehren könne.

Als die Nachricht gebracht wurde, Murat sei gefangengenommen, und die Stabsoffiziere Kutusow beglückwünschten, lächelte er.

»Warten Sie, meine Herren«, sagte er. »Die Schlacht ist gewonnen, und die Gefangennahme Murats ist dabei weiter nichts Besonderes. Aber wir wollen lieber mit der Freude noch warten.«

Indessen schickte er doch einen Adjutanten aus, der mit dieser Nachricht bei den Truppen umherreiten sollte.

Als vom linken Flügel Schtscherbinin herangesprengt kam, um zu melden, daß die Franzosen die Pfeilschanzen und das Dorf Semjonowskoje eingenommen hätten, stand Kutusow, der aus[388] den vom Schlachtfeld herüberschallenden Tönen und aus Schtscherbinins Miene erriet, daß dieser keine gute Nachricht bringe, auf, wie wenn er sich die Füße vertreten wollte, faßte Schtscherbinin unter den Arm und führte ihn beiseite.

»Reite hin, mein Lieber«, sagte er zu Jermolow, »und sieh einmal zu, ob sich da nichts tun läßt.«

Kutusow befand sich in Gorki, im Zentrum der russischen Position. Der Angriff, den Napoleon auf unseren linken Flügel gerichtet hatte, war mehrere Male zurückgeschlagen worden. Im Zentrum waren die Franzosen nicht über Borodino hinaus vorgerückt. Auf unserer rechten Flanke hatte Uwarows Kavallerie die Franzosen in die Flucht getrieben.

Zwischen zwei und drei Uhr hörten die Angriffe der Franzosen auf. Auf den Gesichtern aller, die vom Schlachtfeld kamen, und derjenigen, die um ihn herumstanden, las Kutusow den Ausdruck einer auf den höchsten Grad gelangten Spannung. Kutusow war mit dem seine Erwartungen übersteigenden Erfolg des Tages zufrieden. Aber die physischen Kräfte ließen den alten Mann im Stich; mehrmals sank sein Kopf, wie wenn er plötzlich hinunterfiele, tief herab, und er schlummerte ein. Man brachte ihm sein Mittagessen.

Der Flügeladjutant Wolzogen, eben der, welcher, als er bei dem Fürsten Andrei vorbeiritt, gesagt hatte, man müsse dem Krieg eine weitere räumliche Ausdehnung geben, und welchen Fürst Bagration so grimmig haßte, dieser traf, während Kutusow seine Mahlzeit einnahm, bei ihm ein. Wolzogen kam von Barclay mit der Meldung über den Gang der Dinge auf dem linken Flügel. Nachdem Barclay de Tolly die Scharen der zurückfliehenden Verwundeten und den aufgelösten Zustand der Truppen hinter der Front gesehen und alle Umstände der Lage erwogen hatte, hatte er sich als verständiger Mann gesagt, die Schlacht[389] sei verloren, und seinen Liebling Wolzogen mit dieser Nachricht zum Oberkommandierenden geschickt.

Kutusow kaute mit Mühe an einem gebratenen Huhn und sah Wolzogen mit zusammengekniffenen, vergnügten Augen an.

Lässig die Beine nach dem Reiten wieder geradestreckend, ein etwas geringschätziges Lächeln auf den Lippen, so näherte sich Wolzogen dem Oberkommandierenden und berührte leichthin mit der Hand den Mützenschirm.

Er zeigte im Verkehr mit dem Durchlauchtigen eine gewisse affektierte Nachlässigkeit, welche besagen sollte, daß er als hochgebildeter Militär es den Russen überlassen müsse, aus diesem alten, unbrauchbaren Mann einen Götzen zu machen, selbst aber recht wohl wisse, mit wem er zu tun habe. »Der alte Herr« (wie die Deutschen in ihrem Kreis Kutusow nannten) »macht es sich recht bequem«, dachte Wolzogen, und mit einem strengen Blick auf die vor Kutusow stehenden Teller begann er dem alten Herrn die Lage der Dinge auf dem linken Flügel so auseinanderzusetzen, wie es ihm Barclay befohlen und wie er selbst sie gesehen und aufgefaßt hatte.

»Alle Punkte unserer Position sind in den Händen des Feindes, und sie wiederzugewinnen ist ausgeschlossen, da wir keine Truppen haben; sie fliehen, und es ist keine Möglichkeit, sie zum Stehen zu bringen«, meldete er.

Kutusow hörte auf zu kauen und starrte Wolzogen erstaunt an, als ob er gar nicht verstände, was dieser zu ihm gesagt hatte. Als Wolzogen die Erregung des alten Herrn bemerkte, fügte er lächelnd hinzu:

»Ich hielt mich nicht für berechtigt, Euer Durchlaucht das, was ich gesehen habe, vorzuenthalten. Die Truppen befinden sich in voller Auflösung ...«

»Das haben Sie gesehen? Das haben Sie gesehen?« schrie[390] Kutusow mit finster zusammengezogenen Augenbrauen. Er stand schnell auf und trat auf Wolzogen zu. »Wie können Sie ... wie können Sie es wagen ...« Er machte drohende Bewegungen mit den zitternden Händen; die Stimme versagte ihm vor Erregung. »Wie können Sie es wagen, mein Herr, so etwas mir, mir zu sagen! Sie wissen gar nichts. Bestellen sie dem General Barclay von mir, daß seine Nachrichten falsch sind und daß der wahre Gang der Schlacht mir, dem Oberkommandierenden, besser bekannt ist als ihm.«

Wolzogen wollte etwas erwidern, aber Kutusow unterbrach ihn.

»Der Feind ist auf dem linken Flügel zurückgeschlagen und auf dem rechten Flügel besiegt. Wenn Sie schlecht gesehen haben, mein Herr, so dürfen Sie sich nicht erlauben, zu reden, was Sie nicht wissen. Reiten Sie zum General Barclay hin, und bestellen Sie ihm, ich hätte die feste Absicht, morgen den Feind anzugreifen«, sagte Kutusow in strengem Ton.

Alle schwiegen; man hörte nur das schwere Keuchen des alten Oberkommandierenden, der ganz außer Atem gekommen war.

»Überall zurückgeschlagen, wofür ich Gott und unserem tapferen Heer danke. Der Feind ist besiegt, und morgen werden wir ihn von der heiligen russischen Erde vertreiben«, sagte Kutusow, indem er sich bekreuzte. Plötzlich aber schluchzte er auf, da ihm die Tränen kamen.

Wolzogen zuckte die Achseln, zog die Lippen schief und trat schweigend zur Seite, höchst erstaunt über diese dünkelhafte Verblendung des alten Herrn.

»Ah, da ist er ja, mein Held!« sagte Kutusow zu einem wohlgenährten, hübschen, schwarzhaarigen General, der in diesem Augenblick oben auf dem Hügel erschien. Es war Rajewski, der den ganzen Tag an dem wichtigsten Punkt des Schlachtfeldes von Borodino zugebracht hatte.[391]

Rajewski meldete, daß die Truppen standhaft ihre Stellungen behaupteten und die Franzosen nicht mehr anzugreifen wagten.

Als Kutusow ihn angehört hatte, sagte er auf französisch:

»Sie glauben also nicht wie die andern, daß wir genötigt wären uns zurückzuziehen?«

»Im Gegenteil, Euer Durchlaucht; bei unentschiedenen Schlachten bleibt immer der Hartnäckigste Sieger«, erwiderte Rajewski, »und meine Ansicht ...«

»Kaisarow!« rief Kutusow seinen Adjutanten herbei. »Setz dich hin und schreib den Befehl für morgen. Und du«, wandte er sich an einen andern, »reite die Linie entlang und mache bekannt, daß morgen wir es sein werden, die angreifen.«

Während Kutusow noch das Gespräch mit Rajewski weiterführte und den Armeebefehl diktierte, kehrte Wolzogen von Barclay zurück und meldete, der General Barclay de Tolly lasse um eine schriftliche Bestätigung des Befehles bitten, den der Feldmarschall erteilt habe.

Ohne Wolzogen anzusehen, ordnete Kutusow die schriftliche Ausfertigung des Befehles an, die der frühere Oberkommandierende mit gutem Grund zu haben wünschte, um aller persönlichen Verantwortung enthoben zu sein.

Und vermöge jener unbestimmbaren, geheimen Verbindungskanäle, die bewirken, daß im ganzen Heer ein und dieselbe Stimmung besteht, der sogenannte Geist des Heeres, der das wichtigste Moment im Krieg bildet, vermöge jener Kanäle wurden Kutusows Worte und sein Befehl zur Schlacht für den morgigen Tag gleichzeitig an allen Enden des Heeres bekannt.

Was an den letzten Enden dieser Kanäle bekannt wurde, das waren keineswegs die Worte oder der Befehl selbst. Die Reden, die an den verschiedenen Enden des Heeres von Mund zu Mund weitergegeben wurden, hatten sogar nicht die geringste[392] Ähnlichkeit mit dem, was Kutusow wirklich gesagt hatte; wohl aber verbreitete sich der Sinn seiner Worte überallhin, weil das, was Kutusow gesagt hatte, nicht aus verschmitzten Überlegungen hervorgegangen war, sondern aus dem Gefühl, das in der Seele des Oberkommandierenden ebenso lebendig war wie in der Seele eines jeden Russen.

Und sobald sie erfahren hatten, daß wir morgen angreifen würden, und von den höchsten Stellen der Armee eine Bestätigung dessen gehört hatten, was sie so gern glaubten, da fühlten sich diese erschöpften, wankenden Leute getröstet und ermutigt.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 386-393.
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