VI

[199] Man kann die Erscheinungen des sozialen Lebens, wie nach unzähligen anderen Einteilungsprinzipien, so auch danach einteilen, ob bei ihnen der Inhalt oder die Form vorwiegt. Zu diesen letzteren ist, im Gegensatz zu dem Leben auf dem Land, in den Provinzialstädten, ja selbst in Moskau, das Leben in Petersburg zu zählen, und ganz besonders das Leben in den Salons.

Dieses Leben unterliegt keinen Veränderungen. Seit dem Jahr 1805 hatten wir mit Bonaparte Frieden geschlossen und von neuem Streit bekommen, hatten Staatsverfassungen geschaffen und wieder aufgehoben; aber der Salon Anna Pawlownas und der der Gräfin Besuchowa waren genau dieselben geblieben, die sie, der eine sieben, der andere fünf Jahre vorher, gewesen waren. Ganz in derselben Weise wie früher sprach man bei Anna Pawlowna mit verständnisloser Verwunderung von Bonapartes Erfolgen und sah sowohl in diesen Erfolgen als auch in der Nachgiebigkeit der europäischen Monarchen gegen ihn lediglich das Resultat einer boshaften Verschwörung, deren einziger Zweck es sei, denjenigen Kreis der Hofgesellschaft, dessen Repräsentantin Anna Pawlowna war, zu ärgern und zu beunruhigen. Und die gleiche Unveränderlichkeit wies auch der Salon der schönen Helene auf, welche sogar Rumjanzew selbst seiner Besuche würdigte und für eine Frau von bemerkenswertem Verstand[199] erklärte: hier sprach man im Jahr 1812 genauso wie im Jahre 1808 mit Enthusiasmus von der großen Nation und dem großen Mann und bedauerte lebhaft unseren Bruch mit Frankreich, der nach der Ansicht der Personen, die sich in Helenes Salon versammelten, baldigst durch einen Friedensschluß beendet werden müsse.

In der letzten Zeit, nach der Rückkehr des Kaisers von der Armee, hatte sich dieser beiden einander gegenüberstehenden Salonkreise eine gewisse Erregung bemächtigt, und es waren mehrmals Demonstrationen des einen Kreises gegen den andern erfolgt; aber die Richtung der beiden Kreise war unverändert geblieben. In Anna Pawlownas Kreis fanden von Franzosen nur eingefleischte Legitimisten Aufnahme, und der Patriotismus bekundete sich in der Forderung, man solle nicht mehr das französische Theater besuchen, und in der Entrüstung darüber, daß die Unterhaltung dieser Schauspielertruppe ebensoviel koste wie die Unterhaltung eines ganzen Armeekorps. Die Ereignisse auf dem Kriegsschauplatz verfolgte man mit lebhaftestem Interesse und kolportierte die für unsere Armee günstigsten Gerüchte. In Helenes Kreis dagegen, der französisch gesinnt war und auch Rumjanzew zu seinen Mitgliedern zählte, wurde den Gerüchten über die Grausamkeit des Feindes und die Greuel des Krieges widersprochen und alle Versuche Napoleons, eine Aussöhnung herbeizuführen, anerkennend gewürdigt. In diesem Kreis schalt man auf diejenigen, die zu verfrühten Maßnahmen geraten hatten, so zu einer Verlegung des Hofes und der unter dem Protektorat der Kaiserinmutter stehenden weiblichen Erziehungsanstalten nach Kasan. Überhaupt wurde in Helenes Salon der ganze Krieg als eine leere Demonstration aufgefaßt, die sehr bald durch den Friedensschluß ein Ende finden werde, und es herrschte die Anschauung Bilibins, der jetzt in Petersburg Helenes Hausfreund[200] war (jeder geistreiche Mann mußte in ihrem Salon verkehren), daß der Streit nicht durch das Pulver, sondern durch diejenigen, die es erfunden hätten, erledigt werde. In diesem Kreis machte man sich in ironischer und sehr geistreicher Weise, jedoch mit großer Vorsicht, über den Moskauer Enthusiasmus lustig, von welchem zugleich mit der Rückkehr des Kaisers Nachrichten nach Petersburg gelangt waren.

In Anna Pawlownas Kreis dagegen war man von diesem Enthusiasmus entzückt und sprach von den Moskauern wie Plutarch von den Patrioten des Altertums. Fürst Wasili, der immer noch dieselben hohen Ämter bekleidete, bildete das Verbindungsglied zwischen den beiden Kreisen. Er verkehrte, wie er sich ausdrückte, sowohl bei seiner guten Freundin Anna Pawlowna als auch in dem Diplomatensalon seiner Tochter, und bei dem beständigen Hin- und Herwechseln von einem Lager in das andere verwirrte er sich oft und sagte bei Helene etwas, was er bei Anna Pawlowna hätte sagen sollen, und umgekehrt.

Bald nach der Rückkehr des Kaisers beteiligte sich Fürst Wasili bei Anna Pawlowna an einem Gespräch über die Kriegsangelegenheiten, tadelte dabei Barclay de Tolly auf das schärfste, war sich aber noch nicht klar darüber, wer am zweckmäßigsten zum Oberkommandierenden zu ernennen sei. Ein anderer Gast, bekannt unter der Bezeichnung »ein Mann von großen Verdiensten«, erzählte, er habe heute gesehen, wie der zum Befehlshaber der Petersburger Landwehr ernannte Kutusow sich im Kameralhof an einer Beratung über die Einstellung der Wehrleute beteiligt habe, und knüpfte daran vorsichtig die Vermutung, daß Kutusow wohl der Mann sein könne, der allen Anforderungen entsprechen werde.

Anna Pawlowna lächelte trübe und bemerkte, Kutusow habe dem Kaiser bisher immer nur Unannehmlichkeiten bereitet.[201]

»Ich habe in der Adelsversammlung geredet und geredet«, fiel ihr Fürst Wasili ins Wort, »aber man wollte nicht auf mich hören. Ich habe gesagt, seine Wahl zum Befehlshaber der Landwehr werde dem Kaiser nicht gefallen. Aber sie hörten nicht darauf.

Es herrscht eine wahre Manie, zu frondieren«, fuhr er fort. »Und gegen wen? Und das kommt alles daher, daß wir den dummen Enthusiasmus der Moskauer nachäffen wollen«, sagte Fürst Wasili, der für einen Augenblick vergaß, daß man sich bei Helene über den Enthusiasmus der Moskauer lustig machen, bei Anna Pawlowna aber von ihm entzückt sein mußte. Aber er kam sogleich wieder in das richtige Geleise. »Nun, paßt sich das etwa, daß Graf Kutusow, der älteste General in Rußland, im Kameralhof sitzt? Den Oberbefehl zu bekommen wird ihm ja doch nicht gelingen. Kann denn etwa zum Oberkommandierenden ein Mann ernannt werden, der nicht zu Pferde sitzen kann, der bei Beratungen einschläft und dessen unmoralischer Lebenswandel allgemein bekannt ist? Ein nettes Renommee hat er sich in Bukarest gemacht! Von seinen Eigenschaften als General will ich nicht reden; aber kann denn in einem solchen Augenblick zum Oberkommandierenden ein Mensch ernannt werden, der altersschwach und blind ist? Jawohl, geradezu blind. Ein blinder General, das wird sich vorzüglich machen! Er sieht gar nichts. Es wird das reine Blindekuhspiel werden ... Absolut nichts sieht er!«

Niemand hatte etwas darauf zu entgegnen.

Am 24. Juli war dies vollständig richtig. Aber am 29. Juli wurde Kutusow in den Fürstenstand erhoben. Diese Erhebung konnte ja nun freilich auch die Bedeutung haben, daß man sich von ihm freizumachen wünschte, und darum war das Urteil des Fürsten Wasili noch nicht als unrichtig erwiesen, wiewohl er sich[202] jetzt nicht mehr beeilte es auszusprechen. Aber am 8. August wurde ein Komitee, bestehend aus dem Generalfeldmarschall Saltykow, Araktschejew, Wjasmitinow, Lopuchin und Kotschubei, berufen, welches über die Kriegsangelegenheiten ein Gutachten abgeben sollte. Und dieses Komitee kam zu dem Schluß, die Mißerfolge seien auf die Vielköpfigkeit der Oberleitung zurückzuführen; und obgleich den Personen, die das Komitee bildeten, die Abneigung des Kaisers gegen Kutusow bekannt war, brachte das Komitee dennoch nach kurzer Beratung die Ernennung Kutusows zum Oberkommandierenden in Vorschlag. Und noch an demselben Tag wurde Kutusow zum unumschränkten Oberkommandierenden der Armee und des ganzen von den Truppen besetzten Gebietes ernannt.

Am 9. August traf Fürst Wasili bei Anna Pawlowna wieder mit dem Mann von großen Verdiensten zusammen. Der Mann von großen Verdiensten bemühte sich sehr um Anna Pawlownas Gunst, weil er den Wunsch hatte, zum Kurator eines weiblichen Erziehungsinstitutes ernannt zu werden. Fürst Wasili trat mit der Miene eines glücklichen Siegers ins Zimmer, mit der Miene eines Mannes, der das Ziel seiner Wünsche erreicht hat.

»Nun, Sie kennen gewiß schon die große Neuigkeit. Fürst Kutusow ist Feldmarschall. Alle Meinungsverschiedenheiten in der Oberleitung haben nun ein Ende. Ich bin so glücklich, so froh!« sagte Fürst Wasili. »Das ist endlich einmal ein Mann!« fügte er hinzu und blickte alle im Salon Anwesenden ernst und bedeutungsvoll an.

Der Mann von großen Verdiensten konnte trotz seines Wunsches, die Stelle zu bekommen, sich nicht enthalten, den Fürsten Wasili an das Urteil zu erinnern, das dieser vor kurzem ausgesprochen hatte. (Dies war unhöflich, sowohl gegen den Fürsten Wasili in Anna Pawlownas Salon als auch gegen Anna Pawlowna,[203] welche diese Neuigkeit ebenso freudig begrüßt hatte; aber er konnte sich eben nicht beherrschen.)

»Aber, Fürst, es heißt doch, er sei blind«, bemerkte er, um damit den Fürsten Wasili an dessen eigene Worte zu erinnern.

»Sagen Sie das nicht; der sieht schon genug!« erwiderte Fürst Wasili schnell mit tiefer Stimme und einem besonderen Räuspern, mit jener Stimme und jenem Räuspern, womit er alle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen gewohnt war.

»Sagen Sie das nicht; der sieht schon genug«, wiederholte er. »Und worüber ich mich besonders freue, das ist, daß der Kaiser ihm unumschränkte Gewalt über alle Armeen und den gesamten Kriegsschauplatz gegeben hat. Das ist eine Macht, wie sie noch nie ein Oberkommandierender besessen hat; er ist geradezu ein zweiter Herrscher«, schloß er mit einem siegesfrohen Lächeln.

»Gott gebe dazu seinen Segen!« sagte Anna Pawlowna.

Der Mann von großen Verdiensten, der in der höfischen Gesellschaft noch ein Neuling war, wollte gern Anna Pawlowna dadurch etwas Angenehmes erweisen, daß er für eine von ihr früher ausgesprochene Ansicht einen Beleg beibrachte, und äußerte daher:

»Es heißt, der Kaiser habe Kutusow diese Macht nur ungern übertragen. Er soll rot geworden sein wie ein junges Mädchen, dem man Lafontaines ›Jaconde‹ vorliest, als er zu ihm sagte: ›Der Herrscher und das Vaterland übertragen Ihnen dieses ehrenvolle Amt.‹«

»Mag sein, daß sein Herz nicht dabei beteiligt war«, sagte Anna Pawlowna.

»O nein, nein!« fiel Fürst Wasili mit der Wärme eines eifrigen Verteidigers ein. Jetzt durfte er nicht mehr dulden, daß jemand von Kutusow etwas Nachteiliges sagte. Nach des Fürsten Wasili[204] Ansicht war Kutusow nicht nur selbst ein vortrefflicher Mensch, sondern er wurde auch von allen vergöttert. »Nein, das ist unmöglich; der Kaiser hat ihn schon früher außerordentlich zu schätzen gewußt«, sagte er.

»Gott gebe nur«, sagte Anna Pawlowna, »daß Fürst Kutusow tatsächlich eine so umfassende Amtsgewalt erhalten hat und sich von niemandem Knüttel in die Räder werfen läßt.«

Fürst Wasili verstand sofort, auf wen das ging: »von niemandem«. Er bemerkte flüsternd:

»Ich weiß bestimmt, daß Kutusow als unerläßliche Bedingung verlangt hat, der Thronfolger dürfe nicht bei der Armee sein. Wissen Sie, was er zum Kaiser gesagt hat?«

Und Fürst Wasili führte die Worte an, die Kutusow angeblich zum Kaiser gesagt hatte: »Ich kann ihn nicht bestrafen, wenn er etwas schlecht macht, und nicht belohnen, wenn er etwas gut macht.«

»Oh, er ist ein überaus kluger Kopf, der Fürst Kutusow; ich kenne ihn seit langer Zeit«, fügte Fürst Wasili hinzu.

»Es heißt sogar«, sagte der Mann von großen Verdiensten, der noch keinen höfischen Takt besaß, »der durchlauchtige Fürst habe zur unerläßlichen Bedingung gemacht, daß der Kaiser selbst nicht zur Armee komme.«

Sowie er das gesagt hatte, wendeten sich im gleichen Augenblick Fürst Wasili und Anna Pawlowna von ihm weg und blickten einander traurig mit einem Seufzer über seine Naivität an.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 199-205.
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